Judenstempel: Korrektur einer Halbwahrheit
Die Schweiz war nicht die Erfinderin des Judenstempels. Doch sie bahnte - wie andere Staaten auch - mit ihrer hartherzigen Flüchtlingspolitik den Weg dazu. Der Beobachter muss seine damalige Kritik am Schweizer Polizeichef Heinrich Rothmund korrigieren.
Veröffentlicht am 19. März 2001 - 00:00 Uhr
Es war eine politische Bombe, die der Beobachter am 31. März 1954 zündete. Er enthüllte, dass die Einführung des «Judenstempels» durch die Nazis auf Initiative von Heinrich Rothmund erfolgt sei. Rothmund war seit 1929 Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement - und zum Zeitpunkt der Publikation immer noch in Amt und Würden. Der öffentliche Druck, den die Publikation erzeugte, führte zum Rücktritt des Polizeichefs im Dezember 1954. Und die schäbige Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurde erstmals Thema einer breiteren Diskussion.
Jetzt wird diese Diskussion neu aufgerollt. Was gestern eindeutig schien, erweist sich heute als nur noch bedingt richtig. So etwa die Behauptung, die Schweiz - beziehungsweise deren Polizeichef Heinrich Rothmund - habe den Judenstempel erfunden. Die NZZ und die rechtskonservative «Schweizerzeit» haben bereits vor Wochen darüber eine Debatte geführt.
Im März 1954 berichtete der Beobachter von einer «unglaublichen Affäre». Er erinnerte an den Judenstern, der die Verhaftung und die Deportation der «minderwertigen andersrassigen Menschen» in Deutschland erleichtert und direkt «zu den Gaskammern von Auschwitz» geführt habe: «Dem Schweizer Rothmund kommt das schreckliche Verdienst zu, den Nationalsozialisten den Weg zu dieser amtlichen Kennzeichnung der Juden gebahnt zu haben.» So schrieb der Beobachter unter Berufung auf neu publizierte Akten der Allierten zur deutschen Aussenpolitik.
Am 30. April 1954 doppelte der Beobachter nach: «Rothmund war es, der die Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden vorgeschlagen hat.» Vier Jahre später, am 28. Februar 1958, schlug die Redaktion einen noch schärferen Ton an: «Im Jahr 1938 erklärte sich die Naziregierung auf Veranlassung der Schweizer Behörden mit dem niederträchtigen Kennzeichnen der Pässe jüdischer Staatsangehöriger durch das entwürdigende 'J'-Zeichen einverstanden.» Die kritische Presse, Linksparteien und jüdische Organisationen protestierten heftig. Und der Bundesrat beauftragte den Basler Rechtsprofessor Carl Ludwig, einen Bericht zur Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg zu verfassen.
Die Folgen einer Fehldeutung
Das böse Wort von der «Erfindung des J-Stempels durch die Schweiz» war geboren und fand Eingang in die seriöse Geschichtsschreibung. So notierte etwa Jacques Picard, heute Mitglied der Bergier-Kommission, in seinem Buch «Die Schweiz und die Juden» von 1995: «Schweizerische Amtsstellen hatten im Sommer 1938 in Berlin die Einführung der besonderen Kennzeichnung deutscher Pässe, deren Inhaber 'Nichtarier' waren, angeregt.»
Bundespräsident Kaspar Villiger erklärte zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 7. Mai 1995: «Mit der Einführung des Judenstempels kam Deutschland einem Anliegen der Schweiz entgegen.» Und auch US-Staatssekretär Stuart Eizenstat griff in seinem Bericht vom Mai 1997 die Behauptung auf: «Die Schweiz veranlasste die Nazis zum J-Stempel, der Zehntausende von Juden daran hinderte, in die Schweiz oder an andere potentielle Zufluchtsorte zu gelangen.»
Gegenüber dem Beobachter präzisierte Historiker Picard, dass sein Satz «eine zusammenfassende Sicht des Ludwig-Berichts und der Diskussion der fünfziger Jahre» wiedergebe «und nicht meiner Ansicht entspricht». Und auch Bundesrat Villiger legte Wert auf die Feststellung, dass er Rothmund gar nicht erwähnt habe.
Dennoch: Die Behauptung, die Schweiz sei Initiantin des J-Stempels gewesen und hätte bei der Durchführung der deutschen Rassengesetzgebung eine Vorreiterolle gespielt, geistert in den Köpfen herum. Heute ist dieser «Mythos» (NZZ) zu korrigieren. Das legt eine sorgfältige Lektüre des 1957 erschienenen Ludwig-Berichts und neuerer Fachliteratur nahe.
Unbestritten ist, dass Rothmund an zentraler Stelle für die Flüchtlingspolitik im Krieg verantwortlich war: für eine Politik, die unter der Devise vom «vollen Boot» die Grenzen dicht machte - vor allem im August 1942, als in Deutschland die «Endlösung der Judenfrage» bereits Tatsache war. Rothmund sah in den Juden einen «Fremdkörper» und sprach sich wiederholt gegen die «Verjudung der Schweiz» aus. Seine antisemitische Einstellung ist hinlänglich belegt. Daneben war er allerdings auch ein Gegner des Nationalsozialismus. Die in Deutschland praktizierten totalitären Methoden lehnte er ab. Dies zeigen die Quellen in den neu edierten «Diplomatischen Dokumenten der Schweiz».
Flüchtlingsfeindliches Umfeld
Auch die hartherzige Schweizer Flüchtlingspolitik muss aus der damaligen Situation beurteilt werden. Nach der Annexion österreichs im März 1938 sah sich unser Land mit einem wachsenden Zustrom von - vor allem jüdischen - Flüchtlingen konfrontiert. Im Juli gleichen Jahres scheiterte die internationale Flüchtlingskonferenz von Evian: Länder wie Holland, Belgien, England begannen ihre Grenzen zu schliessen.
Auch die USA weigerten sich, mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von 27'000 Flüchtlingen aufzunehmen. Die Schweiz hatte damals immerhin 10'000 bis 12'000 Verfolgten Schutz geboten. Viele in unserem Land befürchteten eine überfremdung und Belastung des Arbeitsmarkts. Auch Hilfswerke und jüdische Verbände sorgten sich wegen der wachsenden Flüchtlingsströme.
In dieser Situation forderte der Bundesrat ein Visum für österreichische und deutsche Passbesitzer: ein fataler Vorstoss, der den Weg zum J-Stempel bahnte. Die Konsulate im Ausland sollten nur jenen eine Bewilligung erteilen, die in der Schweiz Angehörige oder ein Vermögen hätten, sowie an Weiterreisende.
Die deutsche Regierung wehrte sich gegen den von der Schweiz verlangten Visumszwang. Denn er hätte auch nicht-auswanderungswillige «arische Personen» betroffen. Der Schweizer Gesandte in Berlin, Paul Dinichert, wollte den deutschen Wünschen entgegenkommen und schlug am 16. Mai vor, den Visumszwang «auf die nichtarischen deutschen Staatsangehörigen» zu beschränken. Damit waren vor allem - aber nicht nur - jüdische Emigranten gemeint.
Im August und September 1938 fanden Verhandlungen zwischen Berlin und Bern statt. Angesichts des Einwanderungsdrucks war die Schweiz jetzt entschlossen, das Visum einzuführen. Am 22. August schlug Rothmund für alle Emigranten einen Passvermerk vor. Nach Meinung des Historikers Alfred Cattani war sich Rothmund bewusst, «hier auf heiklem Terrain zu stehen» - auch aus innenpolitischen Gründen. Deshalb fasste er seine Formulierung so, dass sie nicht nur auf Juden, sondern auf alle deutschen Emigranten abzielte.
Als der deutsche Gesandte sondierte, ob die Schweiz nicht auf das Visum verzichten könne, wenn Deutschland die jüdischen Passinhaber ausdrücklich als solche bezeichne, antwortete Rothmund, «dass die Lösung technisch möglich», aber politisch fraglich wäre.
Rothmund gegen J-Stempel
Von einem J-Stempel war erstmals im Schreiben von Dinicherts Nachfolger, Hans Frölicher, vom 7. September die Rede. Der Vorschlag wurde von Geheimrat Roediger vom Auswärtigen Deutschen Amt unterbreitet. Aus Gründen der Gegenseitigkeit müsse aber auch die Schweiz die Pässe von Schweizer Juden stempeln. Frölicher, der den Wünschen Berlins näher stand als Rothmund, äusserte die Auffassung, «dass die deutsche Regierung uns mit ihrem Vorschlag sehr weit entgegenkomme und dass die Lösung annehmbar sei».
Rothmund meldete sofort Bedenken an: «Eine Abmachung, wonach die schweizerischen Juden anders behandelt werden als nichtjüdische Schweizer, scheint mir nicht tragbar.» Zudem betreffe das Ausreiseproblem nicht nur Juden, sondern auch Kirchenvertreter und Deutschnationale: «Flüchtlinge, die in weit grösserem Mass den Stempel der 'politischen' auf sich tragen als die Juden.» Der deutsche Vorschlag sei abzulehnen, weil die Schweiz riskiere, «die ganze zivilisierte Welt gegen uns zu haben». Aufgrund des Ludwig-Berichts steht also fest, dass Rothmund ein Gegner des J-Stempels war.
Am Schluss der vertraulich geführten Verhandlungen Ende September eröffnete der deutsche Delegierte Werner Best, dass seine Regierung zur Durchführung der Nürnberger Rassengesetze von 1935 zwei Massnahmen beschlossen habe: die Stempelung des J-Zeichens auf Inlandkarten von Nichtariern (eine Massnahme, die mit der Emigration nichts zu tun hatte) und die Abgabe von J-gestempelten Auslandpässen an Nichtarier, die die übersiedlungsbewilligung eines andern Staates besassen.
Die ursprünglich geforderte Stempelung der Pässe von Schweizer Juden liess die deutsche Regierung in der Verordnung vom 5. Oktober 1938 wieder fallen. Bundesrat Motta und der Gesandte Frölicher drangen darauf, die Berliner Vereinbarung zu unterzeichnen. So stimmte der Bundesrat zu - gegen die Bedenken Rothmunds. Damit ist klar: Beim J-Stempel handelt es sich um einen deutschen Vorstoss, der in der Tradition antijüdischer Erlasse seit 1933 stand.
Der Vorstoss war auch eine Antwort auf das Schweizer Flüchtlingsproblem. Dass unser Land solcher Rassendiskriminierung zustimmte, war für die jüdischen Flüchtlinge verheerend. Die inhumane, für viele tödliche Massnahme war auch staatspolitisch falsch, denn sie löste das Einwanderungsproblem nicht.
«Verstrickungen und Schuld» führten zum J-Stempel, folgerte Alfred Cattani in der NZZ. Für ihn trägt der Bundesrat die Hauptverantwortung für die schweizerische Mitschuld. Verantwortlich waren auch die Schweizer Repräsentanten in Berlin. «Rothmund hingegen resignierte schliesslich vor dem Willen des Bundesrats und machte sich wider besseres Wissen zum Mitbeteiligten.»