Wenn du als Jude zur Welt kommst, sind Konflikte inbegriffen.» Der das sagt, hat durch sein ketzerisches Wesen schon selber oft für Konflikte gesorgt – in nichtjüdischen und jüdischen Kreisen. Beni R. ist 26 Jahre alt und lebt in Zürich. Er zahlt Steuern und hat einen Schweizer Pass. Aber er ist weder Schweizer Jude noch jüdischer Schweizer, sondern Jude: Beni R. betrachtet das Judentum nicht nur als Religion und Lebensphilosophie, sondern auch als Volkszugehörigkeit. Heimweh nach der Schweiz kennt er zwar, dass ihm die Schweiz aber nicht Heimat sein kann, wurde ihm schon früh gezeigt: als ihm auf dem Schulweg die Kippah – das runde Käppi – vom Kopf gerissen und ihm «Saujude» nachgerufen wurde oder als ihm ein Offizier in der RS vorwarf, er nütze mit seinen vielen Urlaubstagen das schweizerische System aus. Offenen und latenten Antisemitismus zu erleben gehöre zum Jüdischsein und könne ihn weder erschrecken noch verletzen. Im Gegenteil: «Jedes antisemitische Erlebnis hat mich nur stärker und umso bewusster jüdisch gemacht.»

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Darum ist Beni R. seinen Eltern auch dankbar, dass sie ihn in nichtjüdische Schulen schickten. Auch wenn ihn das vor gewisse Probleme stellte: Den Sabbatgeboten zufolge durfte er am Samstag im Unterricht zwar zuhören, aber nicht mitschreiben. Mit 19 entschloss sich Beni R., ohne Kippah auf die Strasse zu gehen. «Ich musste mein inneres Jüdischsein nicht mehr demonstrieren und hatte es satt, dauernd angestarrt zu werden.»

Sein Entschluss sorgte zum Teil für Aufregung. Aber das war ihm egal. Beni R. stuft sich im orthodoxen Flügel des liberalen Judentums ein. Er versucht sich an die religiösen Gesetze von Tora und Talmud zu halten. Versucht? Nicht alle der 613 Gebote und Verbote sind in der modernen christlichen Welt einfach einzuhalten. Koschere Ernährung, Gebetsrituale und der Besuch in der Synagoge sind in der Stadt Zürich kein Problem. Doch schon mit der Heilighaltung des Sabbats drängen sich Kompromisse auf. «Am siebten Tag sollst du ruhen…»: Für Beni R. mit seiner inneren, kreativen Unruhe ein schwieriges Unterfangen. Er liebt die Geschwindigkeit – die intellektuelle in seinem Kopf und die körperliche auf dem Rennvelo. Am Sabbat darf er nicht reisen, kein Geld ausgeben oder irgend eine Arbeit verrichten. Dazu zählt schon das Ein- und Ausschalten des Lichts.

Als verbaler Ketzer verschrien
Beni R. beherrscht Latein, Griechisch und Hebräisch. Für ihn ist «Wissen die unentbehrliche Grundlage zur Entscheidungsfreiheit». Vielen seiner Glaubensbrüder und -schwestern wirft er Kritiklosigkeit vor, die in Unwissenheit und Abkapselung wurzle. Er selber gilt als verbaler Ketzer – sowohl in der Diskussion mit seinen nichtjüdischen Kollegen als auch in der Cultusgemeinde, wo er neben seinem Jurastudium allgemeine Philosophie unterrichtet. Einmal wurde er gefragt, wo denn Gott gewesen sei, als sechs Millionen Juden umgebracht wurden. «Es gibt nicht auf alles eine Antwort, auch in der Tora nicht.» Für Beni R., den Logischen, hat Glauben eben nichts Rationales.

Beni R. ist einer von rund 18'000 Juden und Jüdinnen, die in der Schweiz leben. Ein repräsentativer Jude? Sicher nicht. Dem gemeinsamen kulturellen Erbe entspringt eine verwirrende Vielfalt von Ansichten. Und auch die Religiosität manifestiert sich in einer enormen, spannungsgeladenen Bandbreite: vom jüdischen Atheisten über die liberalen Reformjuden bis hin zu den ultraorthodoxen Fundamentalisten. Die Suche nach dem «typischen Schweizer Juden» ist zum Scheitern verurteilt. Es sind weder die «alteingesessenen» Bollags, die Blochs, Wylers, Guggenheims oder Dreifuss, die Bürger der beiden Surbtaler Gemeinden Endingen und Lengnau sind, noch sind es die aus Polen, Russland, Ungarn und Rumänien eingewanderten Juden, die ihre chassidischen Traditionen pflegen und in der Familie und der Schule jiddisch reden.

Antisemitismus stark verbreitet
Aber so weit reicht das Interesse der 99,75 Prozent nichtjüdischen Schweizer Bevölkerung meistens gar nicht. Viele Leute glauben auch so zu wissen, was das Judentum ist. Dass sie dabei Vorurteilen und Klischees aufsitzen, scheint sie nicht zu stören. Die Unwissenheit beginnt schon bei der zahlenmässigen Einstufung: Laut einer Umfrage des GfS-Forschungsinstituts in Zürich überschätzt mehr als ein Drittel der Bevölkerung die Zahl der in der Schweiz lebenden Juden um das Vierfache und mehr. Von den etwas mehr als 18000 Juden leben nur knapp sechs Prozent noch wirklich orthodox, schätzungsweise 25 Prozent halten sich mehr oder weniger an die Gebote der Tora. «Und der Rest», so sagte der Zürcher Rechtsanwalt Sigi Feigel einmal, «ist von der jüdischen Tradition schon sehr weit weg.» Die schwarz gekleideten chassidischen Juden fallen mit ihren langen Bärten und Schläfenlocken zwar optisch auf, sind aber zahlenmässig unbedeutend. Eine Minderheit in einer Minderheit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema «Juden» jahrelang ein bleischweres Tabu, was auch als Ignoranz oder diffuse Dämonisierung ausgelegt werden könnte. Die latente Anwesenheit von Antisemitismus in der Schweiz brach mit den Diskussionen um die nachrichtenlosen Vermögen mit Getöse auf. Die neuste GfS-Studie fasst die Tendenz in Zahlen: 16 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind antisemitisch, 60 Prozent äussern sich tendenziell negativ über Juden – eine gefährliche Grösse, die politisch ausgenutzt werden könnte.

Gesucht: jüdische Traumfrau
Für Beni R. wurzeln solche antisemitischen Gefühle in Neid und eigener Unsicherheit sowie im Antijudaismus der christlichen Kirche. «Dass das jüdische Volk alle Ausrottungsversuche überlebt hat und sogar einen eigenen Staat hat, ist für mich ein Beweis, dass es unseren Gott gibt.» Er selber will dereinst selber dazu beitragen, dass das jüdische Volk nicht ausstirbt. Mit einer jüdischen Ehefrau und traditionell erzogenen Kindern will er für den Fortbestand seines Volkes sorgen.

Im Buch «Zwischen Davidstern und Schweizerpass» von Philipp Dreyer äussert sich Beni R. von allen 24 porträtierten jüdischen Jugendlichen am radikalsten. Unverblümt gibt er zu, dass er Affären mit Christinnen zwar eingehe, eine längere Beziehung aber nicht. Er ist sicher, dass eine Frau ohne hundertprozentig jüdische Wurzeln ihn nicht wirklich verstehen könnte – auch wenn sie zum Judentum konvertieren würde. Beni R.: «In einer jüdischen Person sind 5000 Jahre Geschichte. Die kannst du nicht einfach mit einer nichtjüdischen Frau teilen.» Viele moderne «Kinder Israels» sehen das anders: Der Anteil der Mischehen wird auf 50 Prozent geschätzt.

Auch wenn Beni R. in den eigenen Reihen Intoleranz vorgeworfen wird, steht er nach wie vor zu seinen Worten. Und seine Familie auch. «Würde ich eine Nichtjüdin heiraten, würde ich das Leben meiner Familie zerstören», sagt Beni R. «Mein Vater würde innert Minuten um zehn Jahre altern.» Seine Traumfrau muss jüdisch, aber gleichzeitig aufmüpfig und kritisch sein. Gefunden hat er die grosse Liebe aber noch nicht.