Warten auf das Wunder
Flüchtet ein Elternteil mit den Kindern in die Schweiz, schafft man die Kinder von Amts wegen zurück in ihr Herkunftsland. Wohl kaum immer zum Wohl der Kinder.
Veröffentlicht am 1. September 2004 - 09:43 Uhr
«Vielleicht geschieht noch ein Wunder.» Für die Bündnerin Maya Wood ist das der letzte Strohhalm, an den sie sich kurz vor der drohenden Zwangsrückführung ihrer beiden Kinder nach Australien klammert. Das Bundesgericht hat entschieden, die Mutter müsse ihre Kinder im Alter von acht und sechs Jahren, die wie sie das Schweizer Bürgerrecht besitzen, ins Heimatland des Vaters zurückbringen. Auch wenn für die Geschwister mit schweren Entwicklungsstörungen und Traumatisierungen zu rechnen ist.
Mit dem für sie bis heute Unfassbaren sah sich die Mutter vor vier Jahren in Australien konfrontiert: Ein Kinderarzt hatte die Mutter darauf aufmerksam gemacht, ihre damals dreijährige Tochter weise deutliche Spuren sexuellen Missbrauchs auf. Der Verdacht fiel auf den australischen Vater. Das Gericht entschied, die Indizien wie die Schilderungen des Kindes seien nicht schlüssig. Die Mutter hatte sich bereits vor dem Prozess von ihrem Mann getrennt. Ihm stand ein – überwachtes – Besuchsrecht zu. Ein Jahr später flüchtete die Schweizerin mit gefälschten Pässen für die Kinder in ihre Heimat.
In Australien, dem letzten gemeinsamen Wohnsitz der Familie Wood, soll nun das zuständige Gericht unter Anwesenheit der Kinder im hängigen Eheschutzverfahren ermitteln und die Zuteilung des Sorgerechts klären. Weil sich die Schweizer Mutter bisher gerichtlich gegen diesen Entscheid zur Wehr setzte und der Vater auf seinem Antrag auf Rückführung beharrte, steht die Zwangsvollstreckung bevor. Die Gerichte berufen sich dabei auf das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung.
Und wenn Maya Wood vergeblich auf das Wunder wartet? Dann muss die 40-Jährige das Aufgebot von Marcel Kunz abwarten. Der Zürcher Stadtammann des Kreises 6 ist von Amts wegen mit dem Vollzug der Rückführung beauftragt. Nach seinem Marschbefehl bleiben 24 Stunden Zeit bis zum Abflug ins Ungewisse. In Australien läuft die Mutter Gefahr, wegen Urkundenfälschung gleich in Untersuchungshaft genommen zu werden.
Nach Auskunft eines australischen Rechtsexperten ist eine unbedingte Strafe von mehreren Monaten, wenn nicht Jahren unausweichlich. Maya Wood schaudert: «Eine Horrorvorstellung.»
Rückführung «nicht zu verantworten»
Für den Kinderpsychologen Heinrich Nufer ist die zwangsweise Rückführung, gemessen am vorrangigen Kindeswohl und Kindesschutz, «unzumutbar und nicht zu verantworten». Eine weitere psychische Traumatisierung sei absehbar, nachdem die Polizei die Geschwister im Januar in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf Veranlassung des Gerichts in der Zürcher Wohnung der Mutter abgeholt und zur Sicherstellung «des Streitobjekts» in die Obhut eines Heims gebracht hatte. Über das Vorgehen der Behörden und die Missachtung der Kinderrechte ist auch der Kinderarzt Remo Largo bestürzt. Er versucht mit allen Kräften, das Katastrophenszenario zu verhindern. «Das Haager Abkommen sieht eine Verweigerung der Rückführung vor», sagt er. Doch das Gericht habe diese Paragrafen ignoriert.
Psychologe Nufer erachtet es – nach dem Vorliegen neuer Fakten – als «vordringlich», die Lage erneut kinderpsychiatrisch abklären zu lassen. Bis zum Vorliegen der Resultate sei das Auslieferungsprozedere zu unterbrechen. Auch Politikerinnen und Kinderexperten hinterfragen den Vollzug des Haager Abkommens. Im Nationalrat ist ein Postulat von Ruth-Gaby Vermot-Mangold für einen «wirksamen Kinderschutz bei Kindesentführungen durch einen Elternteil» hängig, das in der Herbstsession zur Sprache kommen soll. Zusammen mit 104 Unterzeichnenden quer durch die Parteien beauftragt sie den Bundesrat, das bisherige Vorgehen von externen Experten beurteilen zu lassen.
Insbesondere stelle sich die Frage, «inwieweit das Kindeswohl und damit der Kinderschutz wirklich im Vordergrund stehen», wie es die Uno-Kinderrechtskonvention und der Kinderschutzartikel in der neuen Bundesverfassung vorschreiben. Das Haager Abkommen müsse gegebenenfalls durch Zusatzprotokolle der neuen Rechtslage angepasst werden.
Im Klartext: Ob eine Rückführung und die Trennung von einem Elternteil für ein Kind zumutbar ist, soll nicht länger über dessen Kopf hinweg entschieden werden können. Vermot-Mangold schlägt dafür eine interdisziplinäre Expertenkommission vor. «Oberste Maxime muss der Kindesschutz sein», sagt sie. Es sei an der Zeit, die heutige Zentralbehörde «umzukrempeln».
Der Leiter der Zentralbehörde, David Urwyler, will das Postulat Vermot-Mangold nicht kommentieren und dem Entscheid des Bundesrats nicht vorgreifen. Die Aufgaben der Zentralbehörde seien im Haager Abkommen klar definiert: «Wir haben uns daran zu halten.» Auch zum laufenden Verfahren in Sachen Wood äussert er sich ebenso wenig wie die Sachbearbeiterin Sonja Hauser.
Dem Kinderrechtsanwalt und Beistand der Geschwister Wood, Stefan Blum, fällt es schwer, die «Fehlentscheide der höheren Gerichte» nachzuvollziehen. Diese hätten sich mit den Kinderrechten nicht im Ansatz auseinander gesetzt. Zudem hält er es für «klar menschenrechtswidrig», dass die Kinder der Mutter Anfang Jahr weggenommen wurden und seit acht Monaten in einem Heim wohnen. Dieser tragische Verlauf dokumentiere, wie Kinder durch Gerichtsurteile und behördliche Passivität zusätzlich irreparabel geschädigt werden. Die Einigungsversuche mit dem Vater, den Antrag zum Wohl der Kinder zurückzuziehen und Hand zu bieten zu einer verantwortbaren Regelung des Kontaktrechts, seien bisher gescheitert. Für die Mutter ist dieses Verhalten umso stossender, als er jahrelang keinen Versuch unternommen hatte, mit den Kindern in Kontakt zu treten, obwohl nichts im Wege stand. Auf entsprechende Fragen des Beobachters reagierte der Kindsvater nicht.
Im Verfahren Wood sieht die Schweizerische Stiftung des Internationalen Sozialdienstes «die Psyche der Kinder mit Füssen getreten». Direktor Rolf Widmer bedauert, dass seine Institution so kurzfristig miteinbezogen wurde und von der Zentralbehörde in Bern eher als «Störfaktor» denn als Unterstützung wahrgenommen wurde. Auch Rechtsanwalt Marcel Zirngast, der die Mutter neu vertritt, bezeichnet die Rückführung als für die Kinder «unzumutbar» und rein «formaljuristisch». Die Meinungen namhafter Schweizer Experten schienen bei den Entscheidungsträgern keinerlei Gehör gefunden zu haben.
Kinderpsychologe Heinrich Nufer bringt es auf den Punkt: «Hier hat nur noch die Justizmacht das Sagen, ist doch das Abkommen mit dem aktuellen Kindesrecht nicht mehr kongruent.» Und Remo Largo ergänzt: «Das Kindeswohl ist generell höher zu werten als ein Staatsvertrag.»
71 neue Anträge auf Rückschaffung entführter Kinder
Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ) ist in der Schweiz seit 1984 in Kraft. Es regelt den Anspruch des Kindes auf Kontakt mit beiden Elternteilen. Widerrechtlich in einen Vertragsstaat entführte oder zurückbehaltene Kinder sollen so rasch wie möglich an ihren früheren Aufenthaltsort gebracht werden. Für die Abwicklung von Rückführungsanträgen haben die Mitgliedstaaten eigens Zentralbehörden geschaffen. Die Schweiz ist mit 71 Staaten vertraglich verbunden. Als Zentralbehörde amtet der «Dienst für internationalen Kinderschutz» im Bundesamt für Justiz. Er hat letztes Jahr 160 Fälle behandelt, davon 71 neue Anträge. 24 Gesuche um Rückführung oder Schutz des Besuchsrechts wurden an die Schweiz gerichtet; 47 Anträge gingen ins Ausland. Die Rückgabe kann laut Abkommen verweigert werden, wenn sie «mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist» oder das Kind «in eine unzumutbare Lage bringt».