«Sind Sie an die Grenze Ihrer Belastbarkeit gekommen, Herr Schärz? – Haben Sie Ihre Tochter deshalb geschüttelt? – Für das Schütteln von Shania kommen nur Sie oder Ihre Frau in Frage…»

14 Stunden war der junge Vater von den Behörden befragt worden. Die Protokolle umfassen knapp zwei Dutzend Seiten. Zwei Tage nach Beginn der Ermittlungen notierte der Untersuchungsrichter in seinen Akten: «Die Todesursache von Shania Schärz steht fest.»

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Am Nachmittag des 26. November 2000 hatten die Eltern das fünf Wochen alte Baby als Notfall ins Berner Inselspital gefahren. Wenig später lag es in der Intensivstation. Diagnose: Hirnblutung. Fritz Schärz erklärte, er sei mit seiner Tochter im Arm gestürzt. «Sie können mich mit tausend Umschweifungen fragen: Ich weiss, dass ich Shania nichts getan habe», beteuerte er der Polizei. «Ich habe mich in dieser Nacht nicht aufgeregt, habe Shania nicht angebrüllt, und ich hatte nie das Gefühl, jetzt verlöre ich die Nerven.»

Fritz Schärz’ Ruf am Wohn- und Arbeitsort ist unbescholten. Im Leumundsbericht wird er als «ehrlicher, in jeder Beziehung korrekter und hilfsbereiter Mitbürger» geschildert. Eineinhalb Jahre nach dem Tod seiner Tochter wird gegen ihn Anklage erhoben – wegen «schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Tötung».

Das Schicksal nahm an einem Samstagabend im Spätherbst seinen Lauf. Die Kleinfamilie hatte sich auf einen Spaziergang begeben. Shania schlief im Kinderwagen. «Es war fast beängstigend, wie oft die Kleine schlief», sagt die Mutter.

Gegen 20 Uhr erwachte Shania. Doch den Schoppen mochte sie, anders als sonst, nicht recht trinken. Abwechslungsweise hielten die Eltern vor dem Fenseher das Kind auf dem Schoss. Gegen 22 Uhr begann das Kind wieder zu weinen. Beim Wechseln der Windeln bemerkte die Mutter, dass die Beinchen «krampfartig vibrierten». Gegen halb eins begab sich Patricia Schärz zu Bett.

Fritz Schärz hütete fortan das Kind allein. Das Paar kennt sich seit 15 Jahren; «jeder macht das Nötige», erklärte der Vater der Polizei. Als Shania wieder zu weinen anfing, gab er ihr abermals den Schoppen. Wiederum trank das Mädchen kaum, beruhigte sich aber. Der Vater schaltete das Dimmerlicht ein und legte sich schlafen.

Fritz Schärz trägt ausserhalb der Arbeitszeit keine Uhr. Er kann nicht sagen, wann das Kind wieder zu wimmern anfing. Er trug es ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, und Shania trank, auf seinen Knien liegend, den Schoppen halb leer. «Ich hielt dann die leere Flasche in der linken Hand, nahm das Kind an die Brust und wollte in die Küche gehen», erklärte er der Polizei. «Beim ersten Schritt stolperte ich über die Katze, die aufgesprungen war. Dabei stürzte ich mit Shania zu Boden.Es war nahezu dunkel im Raum.»

«Geringe Überlebenschancen»
Wie sich der Sturz genau zugetragen hat, weiss Fritz Schärz nicht mehr. Er ist sich sicher, dass das Kind in ein Spielgerät mit runden Federstahldrähten fiel. Dabei sei ihm das Mädchen nicht aus den Armen geglitten. «Shania schrie sofort laut auf, als sie aufschlug. Nach etwa zehn Minuten schlief sie wieder ein.»

Am andern Morgen wollte das Kind noch immer nicht trinken. «Es war, als ob sie durch mich hindurchschaute», erklärte die Mutter der Polizei. Ihr Mann habe ihr vom Sturz erzählt; er habe gesagt, es könne nicht so schlimm sein. Dann erbrach sich Shania. Die Mutter entdeckte eine Rötung an der Brust der Kleinen. Die nachmittags konsultierte Ärztin veranlasste die sofortige Einweisung ins Inselspital.

Für das Mädchen war es bereits der zweite Aufenthalt dort. Die Mutter hatte keine leichte Geburt gehabt. Nach dem Kaiserschnitt war ihr Kind ins Inselspital geflogen worden; sieben Tage lag es auf der Intensivstation und benötigte Atemhilfe. Als die Eltern die Kleine damals nach Hause holten, war es für sie, «als wäre Shania ein zweites Mal geboren».

Nach dem Sturz blieben die Eltern bis in die Morgenstunden im Spital. Gegen acht Uhr teilte ihnen der leitende Arzt mit, das Kind habe eine Hirnblutung erlitten. Um 14 Uhr wurde der kleine Körper von Krämpfen geschüttelt. Shanias Hirn zeigte kaum mehr Aktivität. Einen Tag später hatten die Eltern erst nachmittags Zugang zum Kind. 60 Stunden waren seit dem ungeklärten Vorfall verstrichen. Der Internist nahm Patricia und Fritz Schärz zur Seite. Shania werde nie wieder selbstständig atmen können, erklärte er ihnen; die Überlebenschancen der Kleinen seien äusserst gering. Gemeinsam mit dem Dienst habenden Arzt entschieden die Eltern am 28. November um 15 Uhr, Shania vom Beatmungsgerät zu trennen.

Ihr Bettchen wurde in ein freies Zimmer gezügelt. Der Vater hielt seine Tochter in den Armen; sie war sehr ruhig. Die Mutter sprach leise zu ihr. Der Pulsmeter an der kleinen Zehe zeichnete lautlos die Herzschläge auf. Um 19.37 Uhr setzten sie aus.

Fritz Schärz hatte sein Kind immer selber gebadet. Er wusch es jetzt ein letztes Mal. Die Mutter zog ihm Strampelhöschen und Söckchen an. Es war ihr, als ob das Mädchen fror. Die Eltern wachten am Totenbett. Um zwei Uhr früh waren sie zu Hause.

Sechs Stunden später. Es klingelt an der Haustür des Ehepaars. Folgende Personen verlangen Einlass: der Untersuchungsrichter, zwei Polizisten des kriminaltechnischen Dienstes, vier Polizisten der kantonalen Fahndung, der Gerichtsarzt und der Fotograf. Der Dorfpolizist bewacht den Hauseingang. Laut Durchsuchungsbeschluss sollen «sämtliche Räume und Nebenräume durchsucht werden: Estrich, Mansarde, Keller, auch Garage und Fahrzeuge». Zweck: «Sicherstellung von Beweismitteln». Das Spielzeug wird sichergestellt; das junge Ehepaar wird festgenommen; Patricia Schärz wird, ohne dass sie sich hätte frisieren können, durchs Dorf auf den Polizeiposten geführt.

Der Chef der Regionalpolizei verfügt um 13 Uhr: Die Eltern werden unter Polizeihaft gestellt. Die Verhöre laufen getrennt ab. Das Paar sieht sich erst um 23 Uhr wieder.

Der Hausarzt Christoph Trachsel hat Fritz Schärz als «überdurchschnittlich besorgten Vater» kennen gelernt. Der Vorwurf des Babyschüttelns ist für ihn «unerklärlich»: In dieser Familie könne er sich eine Überlastungssituation nicht vorstellen. Als er von der Anklage hörte, dachte er sofort: «Hier stimmt etwas nicht.» Trachsel wurde vom Untersuchungsrichter als Zeuge nicht einvernommen. Es dauerte 15 Monate, bis ein rechtsmedizinisches Gutachten erstellt wurde; über ein Jahr war verstrichen, bis der Untersuchungsrichter ein solches überhaupt in Auftrag gab.

«Nicht rekonstruierbar»
Der Hauptabschnitt dieses Gutachtens widmet sich dem «Schütteltrauma» im Allgemeinen; für ein solches, heisst es, würden «vier bis fünf Schüttelbewegungen ausreichen». Allerdings: Wie oft Shania geschüttelt worden sei, lasse sich «nicht rekonstruieren». Und doch: «Die tödlichen Verletzungen sind durch ein heftiges Schütteln entstanden.» Andere Möglichkeiten, auch eine andere «Täterschaft», wurden nicht ernsthaft in Betracht gezogen – weder von den Gutachtern noch vom Untersuchungsrichter.

Shania, geboren mit Atemschwäche, gestorben an Atemlähmung: Besteht da vielleicht ein Zusammenhang? Die Krankengeschichte von Shanias erstem Aufenthalt im Inselspital rückte die Spitalleitung trotz mehrmaligem Nachfragen der Eltern und ihres Rechtsanwalts nicht heraus.

Ein unabhängiger deutscher Facharzt studierte die gerichtsmedizinischen Akten. Er zweifelt, ob die zu früh geborene Shania altersgerecht entwickelt war. Im Gutachten seien zudem Geburtsschäden nicht in Betracht gezogen worden. Auch habe man den Fallmechanismus des von Fritz Schärz geschilderten Sturzes nie untersucht.

Für den Gerichtstermin, knapp zwei Jahre nach Shanias Tod, wird sich die Faktenlage womöglich verändern. Der Richter liess zusätzliche Zeugen einvernehmen – und verlangte mit aller Deutlichkeit die Herausgabe von Shania Schärz’ Geburtsbericht.