Kirchen: Geplagte Anwohner wünschen Glocken zum Teufel
Am morgendlichen Geläut der Kirchenglocken scheiden sich die Geister. Immer häufiger müssen Richter entscheiden, ob es sich bei den Glockenschlägen um Lärmbelästigung oder eine erhaltenswerte abendländische Tradition handelt.
Veröffentlicht am 17. Dezember 2001 - 00:00 Uhr
«Erlöse uns vom Glockenlärm!» – «Wir brauchen weder einen kirchlichen Frühweckdienst noch ein lärmiges Betsignal!» – «Die meisten Kirchenglocken der Welt haben einen scheppernden Klang. Wir in den USA verwenden längst Leuchtschriften an den Kirchen.»
www.kirchenglocken.ch: Diese Homepage vereint die Gegner der alten Klänge. Die Stimmen sind deutlich, der Zorn ist gross. Immer häufiger sind Behörden mit Einzelklagen konfrontiert, die das Geläut der Glocken zum Teufel wünschen.
Neben der Transitachse der A3 und der A1, an der Zürcher Rosengartenstrasse, steht das Haus des Ingenieurs Franz Alt (die Namen aller Kläger sind geändert). Die täglich 60'000 Last- und Personenwagen vor seiner Tür stören ihn nicht. «Auf dem Nachbargrundstück betreibt die römisch-katholische Kirche Guthirt ein Gotteshaus gleichen Namens», schreibt Alt in seiner Beschwerde. Das Morgenläuten zwischen 7.56 und 7.58 Uhr sei nicht statthaft; diese Aufgabe werde bereits durch die nächstfolgende Kirche erledigt. Bei geöffnetem Fenster sei das Schlagen der Uhrzeit «schlicht unerträglich». Zur Veranschaulichung seiner Pein nimmt Ingenieur Alt den Pegel des Transitverkehrs als Mass: «371 Rosengarten», schreibt er, entspreche der Glockenschlag von 23 Uhr. Und am Sonntagmorgen erreiche das nachbarschaftliche Geläute gar den Wert von 9772 Rosengarten. Ob die Glocken nicht per Funk in die Stube übertragen werden könnten – individuell? Die Richter verneinen die Frage. Franz Alts Klage wird abgewiesen.
Ist Lärm gleich Lärm? Auf zehn Meter Distanz haben Kirchenglocken mitunter dieselben Messausschläge wie ein Lastwagen: rund 100 Dezibel. Zum Vergleich: Grillen können locker 60 Dezibel erzirpen. Ein zorniger Hund kläfft sich auch mal auf 80 Einheiten hoch. Menschlicher Small Talk pflegt sich um die 50 Dezibel einzuspielen. Ob ein Geräusch aber stört, entscheiden nicht Messwerte, sondern allein das subjektive Empfinden.
Laut Bundesgericht gibt es keinen absoluten Anspruch auf Ruhe. Die Lärmschutzvorschriften zielen auf Immissionen, die als «unerwünschte Nebenwirkungen einer bestimmten Tätigkeit» auftreten. Daneben gibt es jedoch Geräusche, die den eigentlichen Zweck einer Aktivität ausmachen: das Läuten von Glocken zum Beispiel.
Eine einheitliche Regelung existiert nicht; die Lärmschutzverordnung des Umweltschutzgesetzes nennt diesbezüglich keine Grenzwerte.
Karin Kräuchli, Städterin, hatte Sehnsucht nach ländlicher Stille. Nur: Ihre neue Wohnung befand sich knapp 50 Meter vom Kirchturm von Buchs ZH entfernt. Und dieser, 350 Jahre älter als Kräuchlis Stockwerkeigentum, schmetterte in unbekümmerter Regelmässigkeit um halb sechs in der Früh seinen Weckruf ins Gelände. Ein Schlag «von harter Klangart und erheblicher Intensität», wie die Baukommission befand. Vermittlungsversuche fruchteten nichts. Karin Kräuchli reichte Klage ein: Der Kirchgemeinde sei «unter Strafandrohung zu gebieten», dieses Geläut zu streichen. Die Einwohnerschaft von Buchs sei kaum mehr in der Landwirtschaft tätig; «man schläft hier um halb sechs».
Sie bekam Recht. Das Zürcher Verwaltungsgericht qualifizierte den kirchlichen Weckruf 1995 als «Lärm», der «nicht zu tolerieren» sei. Dieses Verdikt wiederholte dieselbe Instanz vor einem Monat: Das Frühgeläut von Wangen-Brüttisellen ZH, vom Kläger als «Terrorgeläut in Herrgottsfrühe» tituliert, darf nun erst um sieben Uhr einsetzen.
Eine Glocke ist laut dem «Lexikon für Theologie und Kirche» ein «Klanginstrument von weittragender Lautstärke». Deren Tonhöhe ist abhängig von Grösse und Gewicht. In den christlichen Kirchen sind meist mehrere Glocken zu einem Geläut vereinigt. Darunter versteht man ein Zusammenspiel von drei bis zehn Glocken unterschiedlicher Tonhöhe. Der Klang ist in einer Reichweite von bis zu fünf Kilometern vernehmbar.
In der Schweiz gibt es eine Fülle von tontiefen, weittragenden Glocken. «Die Kirchtürme sind hier im Durchschnitt eher niedrig», sagt Glockenfachmann Matthias Walter. «Vor allem in der Ostschweiz hängen oft riesige Geläute. Diese Glocken sind viel zu nah am Publikum. Der angemessene akustische Raum fehlt.» Erstaunlicherweise fehlen aber just in der Ostschweiz diesbezügliche Klagen. Die Glocken der Kantone St. Gallen, Thurgau und der beiden Appenzell läuten bis anhin ohne Mitwirkung von Juristen.
Glocken sind im Alten Testament nicht erwähnt. Die jüdische Religion kannte «goldene Rasseln», schellenähnliche kleine Glöcklein mit Klöppeln, die das Gewand des Hohepriesters schmückten. Im Abendland sind Glocken erst im vierten Jahrhundert nach Christus nachweisbar; weit über ein Jahrtausend bestimmte ihr Klang das Zeit- und Weltempfinden. Während der Revolution wurde in Frankreich ein grosser Teil davon eingeschmolzen – oder der weltlichen Nutzung übergeben. Dies ist bis heute so. Glocken des Protests läuteten im Kanton Uri, als sich der Bundesrat für die Neat ausgesprochen hatte, und Glockenschläge der Solidarität erklangen in ganz Europa nach den Attentaten in New York. Auch unbedeutende Ereignisse vermögen Glocken zu bewegen: In Holziken AG läuteten die Glocken, als Christoph Blocher 1996 die Gemeinde besuchte.
Henriette Bubers Kampf gegen das Frühgeläut zu Bubikon ZH war hart. Sechs Jahre dauerte es, bis das Bundesgericht ihrer Forderung letztes Jahr ein Ende bereitete: Das Frühgeläut beginnt nach wie vor um sechs. «Kirchenglocken», hielten die Richter fest, «haben für viele Leute einen Wohlklang.» Das regelmässige Ertönen entspreche einer weit verbreiteten Tradition. Im Weiteren: Die Lärmbelastung könne eben nur einzeln beurteilt werden.
Was ist Wohlklang? Was ist Lärm? Für wen? So viele Fragen. So viele Glocken.
Hin und Her in Russikon ZH: Das Besinnungsgeläut wurde von fünf auf sechs Uhr früh verlegt. Die Gemeindeversammlung rückte es wieder auf fünf. 1995 besann sich die Baurekurskommission eines anderen. Seit 1996 läutets in Russikon wieder um sechs.
Verärgerung in Immensee SZ: Der geplagte Anwohner wechselte den Wohnort, kurz nachdem der Stundenschlag zwischen 23 und sechs Uhr eingestellt und damit der Forderung entsprochen worden war.
Glocken begleiten das ganze Leben
Frieden in Urnäsch AR: Der Konflikt ums Frühgeläut legte sich, als ein altes Dokument auftauchte. Bereits vor einem halben Jahrhundert war das Geläut verschoben worden – damals von vier auf fünf Uhr. 2001 konnte es getrost noch eine Stunde später ertönen. 24 Stunden schlagen Urnäschs Glocken alle 15 Minuten. Im Weiteren erklingen: das Morgenläuten, das Elf-Uhr-Läuten, die Vesper, das Dämmerungs- und zum Schluss das Abendläuten.
Glocken künden von den elementaren Ereignissen des Lebens: von der Taufe, vom Tod, von Beginn und Ende des Tages. Glocken begleiten Wallfahrten, Prozessionen, Hochzeiten. Sind sie am Ausklingen, die alten Töne?
Das samstägliche Läuten auf Schweizer Radio DRS1, die «Glocken der Heimat», dauerte einst zehn Minuten. Heute sind es noch fünf. «Über Jahrzehnte war eine Aufnahmeequipe zu den verschiedensten Kirchen der Schweiz gereist», so Radioredaktor Georges Wettstein. «Wo nötig, hielt die Sekretärin das Postauto auf, um störende Geräusche zu vermeiden.» Die Budgetschwerpunkte von Radio DRS liegen heute anders. Das Archiv «Schweizer Glocken» wird deshalb nicht mehr erweitert.
Davon unbeeindruckt, verbreitet die «Sainte Barbara», eine zweitönnige Glocke in der Kathedrale von Freiburg, täglich um 22.15 Uhr ihren Klang. «Sainte Barbara» wurde 1367 in Aarau geschaffen. Tausende von Glocken stammen von hier: Die Giesserei Rüetschi ist heute die letzte Kirchenglockengiesserei der Schweiz.
Kleine Halle: Ein glühender Strahl durchschneidet plötzlich das Halbdunkel. Der zischende Laut der Giessereibrenner ist verstummt. Ohne ein Wort giessen die fünf Männer die kochende Bronze in die Form. 1100 Grad heiss ist die Schmelze. Sie brodelt im Eingussloch.
Zwei Tage später wird die gut 45 Kilo schwere Glocke aus dem Lehm geschlagen; «YE DA ONYAME ASE» wird die Inschrift lauten. Noch dieses Jahr wird sie nach Ghana geflogen. Ein Schweizer Missionar hat sie bestellt.
Die Auftragslage für Kirchenglocken war schon besser. «In den siebziger Jahren ging der Produktionsdurchschnitt von 70 auf 30 Tonnen pro Jahr zurück», sagt Geschäftsleiter René Spielmann. «Heute sind es noch 15 Tonnen pro Jahr. Der Markt ist gesättigt.» Zur Besorgnis besteht jedoch keinerlei Anlass. Die Firma mit den 14 Mitarbeitern stellt auch Schiffs-, Zier-, Konzert- und Souvenirglocken her.
Die Prozessfreude der Glockengegner verfolgt René Spielmann aber mit grosser Skepsis: «Heute reicht es, wenn eine einzige Person sich ärgert – und 400 Menschen müssen eine lieb gewordene Gewohnheit überdenken.»