Fatale Fehldiagnose
Der Urlaub im Engadin wurde zur Tragödie – Fritz Glauser kam praktisch blind nach Hause. Das Spital Oberengadin räumt Fehler ein.
Veröffentlicht am 20. Mai 2005 - 15:03 Uhr
Mechanikermeister Fritz Glauser freute sich auf den Campingurlaub mit seiner Frau im Engadin. Den hatte sich der damals 59-Jährige redlich verdient. Eben hatte er eine anspruchsvolle Bohrvorrichtung für die Raumfahrtindustrie zu Ende gebaut. Das war Anfang Juli 2000.
Am Ende der ersten Ferienwoche, in der Nacht von Freitag auf Samstag, ist Fritz Glauser urplötzlich hundeelend zumute. Er hat Kopfschmerzen, das rechte Auge tut höllisch weh, und er erbricht während der ganzen Nacht. Als ihn auch noch ein heftiger Schüttelfrost plagt, wird er am Samstag notfallmässig mit der Ambulanz ins Spital Oberengadin in Samedan gefahren. Dann legt sich die Hektik.
Im Spital erhält er Schmerzmittel. Glauser schläft viel. Am Sonntag sieht er alles nur noch verschwommen und klagt über Kopfschmerz im Bereich des rechten Auges. Das alles meldet er mehrmals. Das medizinische Personal ist offenbar unbeeindruckt. Am Montagmorgen soll der Patient entlassen werden. Glauser ist entsetzt und entgegnet: «Sicher nicht, ich sehe auf dem rechten Auge nur noch Schwarz.» Auch das scheint die Ärzte nicht zu alarmieren – «obwohl ich nun praktisch blind war, denn seit Geburt sehe ich auf dem andern Auge nur zu zehn Prozent». Das hatte er beim Eintrittsuntersuch mitgeteilt.
Am Montagnachmittag folgt endlich der Termin beim externen Augenarzt des Spitals. Der Untersuch fördert nichts Verdächtiges zutage; der Arzt tippt auf Entzündung des Sehnervs und rät zu einem Computertomogramm. Glauser begibt sich zurück ins Spital und hofft – dank der (falschen) Diagnose – auf baldige Besserung.
Am Dienstag, drei Tage nach Einlieferung, wird ein Computertomogramm von Glausers Kopf gemacht. Befund: nichts Verdächtiges. Die Ärzte sind mit ihrem Latein am Ende und schicken ihn zur weiteren Abklärung ins Berner Inselspital. Wieder vergeht ein Tag. Dann liefert eine Tomografie mit Kontrastmittel den korrekten Befund: Eine Zyste drückt auf den rechten Sehnerv. Glauser muss sofort operiert werden; je früher, desto grösser die Heilungschancen…
Doch der Eingriff kommt zu spät: Glausers Sehnerv ist für immer zerstört.
Er nimmt sich einen Anwalt und fordert von der Haftpflichtversicherung des Spitals Schadenersatz. Gutachten werden geschrieben, Juristen beschäftigt, es wird hin und her korrespondiert. Das Gutachten der Versicherung kommt zum Schluss, dass es sich nicht um einen «Kunstfehler» handelt. Das Verhalten der Ärzte sei «vertretbar» und «korrekt», zumal das Computertomogramm in Samedan nichts Verdächtiges gezeigt habe. Ausserdem seien die Symptome atypisch gewesen.
Der Beobachter schaltet sich ein
Fritz Glauser bleibt hartnäckig und kämpft weiter. Dabei kommt ihm eine Einschätzung von Professor Joram Raveh zugute, dem Chefarzt, der Glauser im Inselspital operierte. Er bestätigt schriftlich, bis zur Behandlung sei «kostbare Zeit verstrichen». Aufgrund der seit Geburt vorhandenen Einäugigkeit und der Symptome hätte «die Dringlichkeit einer sofortigen Überweisung unbedingt erkannt werden sollen». Als sich auch der Beobachter einschaltet, reagiert das Spital plötzlich sehr schnell.
Chefarzt Donat Marugg vom Spital Oberengadin räumt Versäumnisse ein: «Retrospektiv hätten die Abklärungen und die Verlegung ins Zentrumsspital sicher speditiver erfolgen müssen.» Warum Glauser am Montag «erst um 15 Uhr» vom Augenarzt untersucht worden war, sei ihm «nicht bekannt». Und weshalb wurde die Computertomografie erst einen Tag nach der augenärztlichen Untersuchung durchgeführt? «Ich nehme an, dass aufgrund des augenärztlichen Konsiliumbefundes die notfallmässige Indikation (…) nicht erkannt wurde.»
Fritz Glauser hegt den Verdacht, dass das Tomogramm im Spital Oberengadin schludrig gemacht worden sei, denn am Inselspital fanden die Ärzte die richtige Diagnose mit Hilfe eines solchen heraus. Der Chefarzt des spitalinternen Röntgeninstituts Samedan lässt mitteilen: «Es ist mir nicht bekannt, warum nicht noch eine Untersuchung des Nervus opticus in der Ebene des Verlaufs der erwähnten Nerven stattgefunden hat.» Der betreffende Radiologe sei «abwesend» und arbeite nicht mehr am Spital Oberengadin.
«Bewährte Betriebsabläufe»
Chefarzt Marugg sieht trotz allem keinen Grund, die Betriebsabläufe im Spital zu überprüfen. Er ist der Ansicht, dass die Kommunikation zwischen Augenarzt, Radiologe, Assistenz- und Oberärzten funktioniert habe. «Aufgrund der Kleinheit des Spitals sind die Betriebsabläufe sehr kurz und die Kommunikation mit den Spezialärzten jederzeit zwanglos möglich», schreibt er. Diese «vielfach bewährten Betriebsabläufe» wolle er nicht in Frage stellen. Warum wurde dann in diesem schwierigen Fall nicht automatisch der Chefarzt eingeschaltet? – Hier räumt Marugg ein gewisses Versäumnis ein: «Allerdings hätte der Assistenz- oder Oberarzt zur Beurteilung der Problematik von Herrn Glauser noch den leitenden oder Chefarzt beiziehen können.»
Fritz Glauser nützt das nichts mehr. Die Ärzte mögen einzeln fachlich korrekt gehandelt haben, doch die Summe ihrer Handlungen und Versäumnisse und deren unglückliche Verkettung wurde für ihn zum Alptraum. Seine Hartnäckigkeit und die kritischen Fragen des Beobachters zahlen sich nun aus: Glauser erhält von der Haftpflichtversicherung des Spitals eine stattliche Summe für den erlittenen Schaden.