Anne F. wollte schwanger werden. Zuvor musste sie sich eine Wucherung aus der Gebärmutter entfernen lassen. Bei der Narkoseeinleitung kam es zu einem Zwischenfall. Die Operation konnte nicht durchgeführt werden. Seither liegt die Patientin im Koma. Die Angehörigen sind fassungslos, denn die Entfernung eines Myoms ist ein Routineeingriff. War es menschliches Versagen?

Wo gearbeitet wird, passieren Fehler. Nur: In der Hochrisikobranche Medizin können Fehlleistungen lebensbedrohliche Folgen haben. Drei aktuelle Beispiele: Anfang Jahr amputierte ein Operationsteam in Lugano einem Mann das gesunde statt das kranke Bein. Der 80-Jährige ist inzwischen gestorben.

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Kurz vor Weihnachten wurde im Berner Kinderspital drei Neugeborenen eine falsch gemischte Infusionslösung verabreicht. Einer der Säuglinge starb sofort.

In Luzern musste eine 55-jährige Blinddarmpatientin eine Ampullenverwechslung mit ihrem Leben bezahlen. Die Krankenschwester hatte ihr statt einer Kochsalzlösung Kaliumchlorat in den Venenkatheter gespritzt.

2000 bis 3000 Menschen jährlich sterben in Schweizer Akutspitälern an den Folgen von medizinischen Fehlleistungen, schreckte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) kürzlich die Öffentlichkeit auf. Zum Vergleich: Auf Schweizer Strassen kommen pro Jahr knapp 600 Menschen ums Leben.

Die BSV-Zahlen seien masslos übertrieben, konterte die Ärzteschaft. Die US-Studien, die diesen Berechnungen zugrunde lägen, liessen sich nicht direkt auf Schweizer Verhältnisse übertragen.

Das Feilschen um die Anzahl toter Patientinnen und Patienten ist fehl am Platz. In der Medizin ist jeder Fehler ein Fehler zu viel. Kommt dazu, dass viele Fehlbehandlungen vermeidbar wären. Gemäss einer britischen Studie, die der Londoner Professor Charles Vincent an einer BSV-Tagung im Dezember vorstellte, könnte die Hälfte der «medizinischen Irrtümer» vermieden werden.

Fehler, die neben Leid auch Kosten verursachen. Bis zu 800 Millionen Franken jährlich schlagen die zusätzlichen Spitaltage in der Schweiz zu Buche. 400 Millionen Franken könnten eingespart werden, denn die Fehler sind vermeidbar.

Viele Pannen werden verschwiegen
Nicht jeder medizinische Irrtum führt zwingend zu einem Schaden. Oft kommen Ärztin und Patient mit einem blauen Auge davon. Das kommt öfter vor, als man denkt. Laut einer Studie aus dem Jahr 1995 ergibt sich – unter der Vielzahl der täglichen Massnahmen – eine Fehlerquote von 1,7 pro Patient.

Fast zwei Fehler täglich – und die Patienten wissen nichts davon. Wie in der Fliegerei werden auch in der Medizin «Beinahe-Zwischenfälle» nicht an die grosse Glocke gehängt. Doch während in der Luftfahrt jeder Zwischenfall exakt analysiert wird, nimmt man es in der Medizin offenbar (noch) nicht so genau.

«Was die Patientin nicht weiss, macht niemanden heiss», heisst das Motto. «Über Pannen zu sprechen, die nicht geschadet haben, verunsichert die Patienten nur», sagt Hanspeter Kuhn, stellvertretender Generalsekretär der Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH).

Der Fall liegt jedoch anders, wenn der Verdacht besteht, dass sich ein medizinischer Irrtum negativ auf den Heilungsverlauf oder die Gesundheit auswirken könnte. In dieser Situation kommen viele Ärzte in einen Clinch: Ist der Fehler für Aussenstehende nicht offensichtlich, «dann ist die Versuchung gross, das Missgeschick zu vertuschen – auch wenn der Patient geschädigt wurde», sagt Manfred Langenegger, wissenschaftlicher Adjunkt für Fragen der Qualitätskontrolle beim Bundesamt für Sozialversicherung.

Patientin im Ungewissen gelassen
«Warum stand der versierte Chirurg nicht von Anfang an zur Misere?», fragt sich etwa Louise Engström. Anfang 1998 musste die 70-Jährige einen Oberschenkelhalsbruch operieren lassen. Warum das frisch eingesetzte künstliche Hüftgelenk kurz nach dem Vernähen der Operationswunde wieder auskugelte, weiss sie bis heute nicht. Durch den Schleier der nachlassenden Narkose hindurch habe sie lediglich mitbekommen, dass eine grün gekleidete Gestalt sich bei ihr entschuldigte und ihr mitteilte, dass sie nochmals operiert werden müsse.

Für Louise Engström endete die sechsstündige Anästhesie mit einem bösen Erwachen. «Mein rechter Arm lag schlaff neben mir. Ich konnte ihn weder fühlen noch bewegen.» Panik sei in ihr aufgestiegen, denn tagelang lebte sie im Ungewissen. «Niemand erklärte mir, was die Lähmung verursachte.» Louise Engström befürchtete gar, einen Schlaganfall erlitten zu haben. Aus Hilflosigkeit wurde Wut. Engström: «Ich liess nicht locker und wollte genau wissen, was abgelaufen war.»

Eine Fehllagerung während der Operation hatte eine Nervenverletzung verursacht. Dank viel Geduld und zahlreichen Therapien kann Louise Engström den Arm heute zwar wieder bewegen, voll einsatzfähig wird er jedoch nie mehr sein.

Zu allem Übel machte auch die operierte Hüfte Probleme. Die Bewegungsfreiheit der einst agilen Frau ist seit der Operation stark eingeschränkt. Nur dank der Hartnäckigkeit eines Anwalts erhielt die Teilinvalide eine Abfindung.

«Während der Behandlung wollen alle Ärzte für die Patienten das Beste», kritisiert Margrit Kessler, Präsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). «Doch weshalb wollen sie das nicht mehr, wenn ihnen ein Fehler unterlaufen ist?»

Der Anästhesist etwa, der für die fehlerhafte Narkoseeinleitung bei Anne F. verantwortlich war, gab erst Monate später eine oberflächliche Stellungnahme ab. Kommentar eines Experten: «Die Sachdarstellung ist in keiner Weise schlüssig.»

Informationen werden verschleppt
Die Haftungsregelung geht entsprechend schleppend voran. «Das Personal hat den Hergang erst zehn Tage nach dem Ereignis aufgezeichnet», ärgert sich der Anwalt der Patientin. «Die Meldung an die Haftpflichtversicherung erfolgte sogar erst zwei Monate später.»

Immerhin: Die Versicherungsgesellschaft will nochmals über die Bücher gehen. Denn es handelt sich hier nicht um einen Bagatellfall. Anne F. wird nie mehr aus dem Koma erwachen. Sie «lebt» heute in einem Pflegeheim.

«Jedem Handwerker ist klar, dass er für fehlerhafte Arbeit geradestehen muss», ärgert sich Prostatapatient Eugenio Paganini. «Viele Ärzte hingegen glauben, einfach über Fehler hinweggehen zu können.» Bei Eugenio Paganini war der Behandlungsfehler offensichtlich. Die am Oberschenkel fixierte Erdungsplatte des Lasergeräts hatte an drei Auflagestellen Haut und darunter liegendes Gewebe verbrannt. Auch der eigentliche Eingriff misslang – weil die Stromzufuhr des Lasers wegen des Defekts ungenügend war.

Eugenio Paganini wurde durch einen rasch herbeigerufenen Chirurgen wieder «zusammengeflickt». Die verbrannten Gewebeteile wurden herausgeschnitten, die Wunden zusammengepresst und vernäht. Durch das Zusammenziehen der Schnittränder ergaben sich jedoch starke Spannungen. Die Narben schmerzen Paganini noch heute.

Am Tag nach der missglückten Operation erschien der Spitalarzt am Krankenbett, entschuldigte sich höflich und dachte schliesslich laut darüber nach, ob es sich hier wohl um einen Haftpflichtfall handle. «Von da an herrschte von Seiten des Spitals und der Ärzteschaft Funkstille», sagt Eugenio Paganini.

Abwimmeln führt oft zum Erfolg
Abwiegeln, abwimmeln und auf keinen Fall eigene Fehler zugeben: Oft kommen Ärztinnen und Ärzte mit dieser Vertuschungsstrategie zum Erfolg. Denn leider sind nicht alle Betroffenen und deren Angehörige mit dem Mut und dem Durchstehvermögen einer Louise Engström oder eines Eugenio Paganini gewappnet.

Zudem: Wenn ein Chirurg nicht gerade das falsche Bein amputiert oder die Spitalapotheke Infusionslösungen mit der verkehrten Etikette versieht, haben Patientinnen und Patienten in der Regel schlechte Karten. Allein dank ihrem enormen Fachwissen haben die Ärzte alle Trümpfe in der Hand. Wer traut sich schon, aufgrund einer kleinen Ungereimtheit, die ein «komisches Gefühl» erzeugt, Diagnose und Behandlung in Frage zu stellen?

Den Verantwortlichen des Berner Kinderspitals ist es hoch anzurechnen, dass sie über die Hintergründe des Todes des Neugeborenen umgehend informierten. Die Eltern wurden zudem psychologisch betreut.

Es wäre auch anders gegangen. Die drei von der falsch gemischten Infusionsernährung betroffenen Babys hatten an einer angeborenen Verdauungsstörung gelitten. Es wäre für die Ärzte ein Leichtes gewesen, die vorbestandene Krankheit als Todesursache vorzuschieben. Die Eltern hätten keinen Verdacht geschöpft.

Arglos war auch Christa Hess, als ihr der Tod ihres Vaters in einem Südostschweizer Spital mitgeteilt wurde. «Herzversagen», lautete die offizielle Diagnose. Selbst die Reanimationsversuche in der Intensivstation hätten nicht mehr geholfen.

«Das war jedoch nur ein Teil der Wahrheit», weiss Christa Hess heute. «Das Herz machte tatsächlich nicht mehr mit – doch nur weil es zu wenig Sauerstoff bekam. Mein Vater war in der zweiten Nacht nach einer Operation am Unterschenkel richtiggehend verblutet. Niemand hatte etwas dagegen unternommen.» Diese «besonderen Umstände» behielten die Ärzte jedoch für sich. «Aufgrund von Beobachtungen des Bettnachbarn wurden wir stutzig», sagt Ehemann Rolf Hess. «Da wir nur ausweichende Antworten bekamen, fühlten wir uns in unserem Verdacht bestärkt. Wir sagten uns: "Da ist mehr dahinter, die wollen uns etwas verheimlichen."»

Je mehr vom wirklichen Ablauf ans Licht kam, desto grösser wurden Wut und Enttäuschung. Als sich die verantwortlichen Ärzte, das Ehepaar Hess und deren Anwalt endlich zu einer Aussprache trafen, war die Luft zum Schneiden. Es sei leider kein Gespräch in Gang gekommen, beschreibt der behandelnde Chirurg dem FMH-Gutachter das Klima des Treffens.

Ärzte nehmen Anwälte ins Visier
An der BSV-Konferenz zur Qualitätssicherung in der Medizin im letzten Dezember kritisierten verschiedene Votanten die Kampfhaltung der Anwälte. Diese würden die Patienten aufwiegeln und somit das Gesprächsklima vergiften.

Diese Schuldzuweisung ist nicht nur zu einfach, sie ist schlicht falsch. Denn jeder Eklat hat eine Vorgeschichte. Und diese stehen die Opfer und deren Angehörige meist ohne juristische Beratung durch.

So auch Familie Hess. Für die angestauten negativen Gefühle, die sich anlässlich der Sitzung mit den Ärzten entluden, gab es einen handfesten Grund: Die Hinterbliebenen fühlten sich durch die vielen geäusserten Halbwahrheiten zum Hinschied des Vaters hintergangen und in ihren Gefühlen verletzt.

Die beiden Enkelinnen des Verstorbenen konnten den Verlust und die darauf folgenden unschönen Ereignisse monatelang nicht überwinden. Sabrina Mändli erlitt eine Frühgeburt. Und Ramona Tranquilli musste sich in psychologische Behandlung begeben. «Die Auseinandersetzung verunmöglichte es uns, endlich trauern zu dürfen», sagt Rolf Hess.

«In der Regel sind es nicht die Patienten, die die Konfrontation suchen», sagt Walter Ilg, Beobachter-Experte. Der Sozialversicherungsexperte betreut seit vielen Jahren Arzthaftpflichtfälle. «Zum Eklat kommt es meistens erst dann, wenn die Betroffenen mit ihrem Anliegen kein Gehör finden.»

Bei Familie Hess brauchte es einen Fernsehauftritt, um das Spital endlich dazu zu bringen, den Behandlungsfehler einzugestehen. Und Eugenio Paganini musste sich geschlagene sechs Monate um ein Treffen mit dem Chefarzt bemühen. Das Gespräch war dann «allerdings nicht von grossem Nutzen», fasst Paganini zusammen. «Er würde sich gern bei mir entschuldigen, sagte der Mann wortwörtlich zu mir, aber die Haftpflichtversicherung hätte es ihm verboten.» Von diesem Zeitpunkt an habe es bei ihm geklingelt. «So nicht!», sagte sich Paganini und begann zu kämpfen.

Weshalb haben Ärzte oft so grosse Mühe, zu eigenen Fehlern zu stehen? «Viele meinen, das Eingeständnis einer Fehlbehandlung sei gleichbedeutend mit Disqualifikation», erklärt Werner E. Ott, Vertrauensanwalt der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). Hans Heinrich Brunner, Präsident der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH), hingegen weist auf ein Umdenken hin: «Ein überwiegender Anteil der Ärzte hat eingesehen, dass es gescheiter ist, Fehler offen zu legen».

Für SPO-Präsidentin Margrit Kessler liegt «die Abwehrhaltung in der Angst begründet, ein Strafverfahren an den Hals zu bekommen». Sie plädiert deshalb dafür, dass ein ärztlicher Behandlungsfehler nicht mehr von Staates wegen strafrechtlich verfolgt wird, sondern nur noch auf Antrag der Geschädigten.

Der Thurgauer SP-Nationalrat und Rechtsanwalt Jost Gross steht diesem Vorschlag skeptisch gegenüber: «Oft handelt es sich bei ärztlichen Behandlungsfehlern um schwere Körperverletzungen. Und diese müssen zwingend von Amtes wegen geahndet werden. Es ist nicht schlüssig, für medizinische Haftpflichtfälle eine Sonderlösung einzuführen.» Gross bevorzugt eine Art Opportunitätsprinzip: «Wenn der geschädigte Patient eine zufrieden stellende Entschädigung erhält, könnte man dem Untersuchungsrichter das Recht einräumen, das Strafverfahren einzustellen.»

Bereits heute wird der Ermessensspielraum von den Untersuchungsbehörden rege genutzt. Ein Strafverfahren ist denn auch nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. So hat etwa die FMH-Gutachterstelle zwischen 1982 und 1999 insgesamt 2320 Gutachten erstellen lassen. «In etwa einem Drittel der Fälle wurden Behandlungs- oder Diagnosefehler anerkannt», sagt Hanspeter Kuhn, stellvertretender FMH-Generalsekretär. An eine daraus resultierende Strafuntersuchung kann sich Kuhn nicht erinnern.

«Die meisten Geschädigten sehen in der Bestrafung des Arztes wenig Sinn», sagt SPO-Vertrauensanwalt Werner E. Ott. «Doch es ist oft das einzige Druckmittel des Patienten.» So lange die volle Beweislast beim Geschädigten liege, «gleichen diese Auseinandersetzungen einem Kampf zwischen David und Goliath».

Um die Patientenseite zu stärken, brauche es «eine Umkehr der Beweislast zugunsten der Patientinnen und Patienten», fordert Nationalrat Gross. 60 Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben seine Motion unterzeichnet. Damit könnte sich auch die FMH anfreunden. «Eine solche Lösung im Haftpflichtrecht würde Dampf wegnehmen», sagt Hansruedi Kuhn.

Der Beobachter hilft Geschädigten
Gross hat in seinem vom Bundesrat gutgeheissenen politischen Vorstoss ein altes Beobachter-Anliegen aufgegriffen – den Patientenfonds. Eine solche Einrichtung würde geschädigte Patienten unterstützend beraten, Vorfälle abklären und «Schäden abgelten, die weder über die Haftpflicht- noch über die Sozialversicherung abgegolten werden». Damit hätten auch jene Geschädigten eine Chance, die sich aus finanziellen Gründen keinen Anwalt leisten können und bisher Unterstützung aus dem Rechtshilfefonds der Stiftung SOS Beobachter beanspruchen mussten.

Ob Bundesrat, Parlament und Interessenverbände die anstehende Revision des Haftpflichtrechts und die Motion Gross zugunsten der Patientinnen und Patienten nutzen werden, ist jedoch noch offen. Gross macht sich keine Illusionen: «Wir werden kämpfen müssen.»