Mensch und Justiz: Absturz in die Paragraphen
Ein Gleitschirmflieger und ein Deltasegler wollen abheben. Doch eine Kollision holt die beiden jäh auf den Boden herunter. Liegt fahrlässiges Verhalten vor? Das Zürcher Obergericht muss Flugtheoriestunden nehmen.
Veröffentlicht am 26. September 2000 - 00:00 Uhr
Sonntag wars und ideales Flugwetter. Auf der Alp Scheidegg, oberhalb des Dorfs Wald im Zürcher Oberland, herrschte Hochbetrieb. Deltasegler und Gleitschirmflieger nutzten die Gunst der Stunde. Unter ihnen: Alain Sieber und Manfred Aeschbacher (beide Namen geändert) – beide erfahrene Piloten Ende vierzig.
Die betonierte Startrampe für die Deltasegler und der Startplatz für die Gleitschirmflieger liegen auf der Alp Scheidegg im Abstand von zirka 15 Metern nebeneinander; die Deltarampe befindet sich links und zudem etwa 20 Meter nach vorn versetzt. Nach einem gelungenen ersten Flug setzte Manfred Aeschbacher mit seinem Gleitschirm kurz vor 15.30 Uhr zu einem weiteren Start an. Diesen musste er aber abbrechen, weil er in der «Aufziehphase», in der sich der Schirm mit Luft füllt, einen Linksklapper hatte. Im Klartext: Der linke Flügel öffnete sich nicht richtig.
Sturz aus 20 Meter Höhe
Beim zweiten Versuch füllte sich der ganze Schirm mit Luft. Aeschbacher hob ab, sah sich aber mit einer neuen Tücke konfrontiert: Eine Turbulenz verursachte einen «Einklapper»: Der linke Flügel des Gleitschirms klappte ein. In einem solchen Moment muss der Pilot handeln, sonst droht ein Absturz. Aeschbacher brachte den Flügel wieder in die richtige Form. Als Folge der Korrektur geriet er allerdings weiter nach links als vorgesehen und verlor zudem etwas an Höhe.
Auf der Startrampe für Deltasegler hatte schon seit einigen Minuten Alain Sieber gestanden und sich auf den Start vorbereitet. Den Standplatz der Gleitschirmflieger konnte er nicht mehr sehen. Denn vom Moment an, in dem ein Deltasegler in sein Gerät steigt, ist sein Blickfeld eingeschränkt: Er sieht nicht mehr nach oben und nicht mehr nach hinten. Es ist deshalb üblich, dass der Deltasegler einen Starthelfer beizieht; Vorschrift ist das jedoch nicht. An manchen Orten teilen die Sportler einander auch mit Rufen den nahen Start mit. Der Deltapilot gibt zudem ein Signal, wenn er sein Segel anhebt: Für die Umgebung heisst dies, dass der Start unmittelbar bevorsteht – und dass entsprechend Rücksicht genommen werden muss.
Startete Aeschbacher, als Sieber sein Gerät bereits angehoben hatte? Im Nachhinein konnte das nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden. Fest steht, dass Sieber losflog und nach wenigen Sekunden Aeschbachers Gleitschirm vor sich hatte. Der Abstand zwischen den beiden war zu klein für ein Ausweichmanöver; es kam zum Zusammenstoss. Der Deltasegler prallte mit dem rechten Flügelende in die äussere linke Leine des Gleitschirms. Dieser konnte sich in der Luft halten, der Deltasegler aber stürzte aus etwa 20 Meter Höhe ab. Sieber erlitt schwere Verletzungen: Schädel- und Hirnverletzungen, Beckenbrüche und einen Kreuzbeinbruch.
Zusammenstösse dieser Art sind selten. Aber die Gefahr von Unfällen besteht – nicht nur auf der Alp Scheidegg. Auch auf der Marbachegg im Kanton Luzern, wo die Startrampe der Deltasegler und der Gleitschirmstartplatz in einem Abstand von etwa 50 Metern nebeneinander liegen, ist es laut Ruedi Moser, Inhaber der Flugschule Marbach, «schon zu gefährlichen Situationen gekommen». Und dies, obwohl hier eine Hupe montiert wurde.
Der Unfall auf der Alp Scheidegg hatte rechtliche Folgen: Manfred Aeschbacher wurde wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung angeklagt. Das Bezirksgericht Hinwil sprach ihn frei, worauf Deltapilot Sieber den Fall ans Obergericht Zürich weiterzog. Dort sahen sich die beiden wieder, zwei Jahre nach dem Unglückstag. Alain Sieber leidet noch immer an den Nachwirkungen seiner Verletzungen: Er hat Konzentrationsstörungen, ist nicht voll arbeitsfähig. Manfred Aeschbacher versicherte mehrmals, er bedaure den Unfall sehr. Eine Schuld wies er jedoch von sich.
Eher lasche Reglementierung
An der Verhandlung wurde rasch einmal klar, dass sich das Richtergremium gründlich in die Materie eingearbeitet hatte. Es vermochte den detaillierten Ausführungen zu Phänomenen wie Hangaufwind, Einklappern und thermischen Schlägen mühelos zu folgen. Auseinander gesetzt hatten sich die Richter auch mit den Verkehrsregeln in der Luft. Wie Motorflugzeuge, Segelflugzeuge, Gleitschirme, Deltasegel und Ballone mühelos aneinander vorbeikommen, ist allerdings nicht annähernd so detailliert festgelegt wie der Strassenverkehr.
Grundsätzlich gilt: Das manövrierfähigere Gefährt muss ausweichen. So muss ein Helikopter einem Gleitschirm den Vortritt lassen, und dieser wiederum hat einem Ballon Platz zu machen. Deltasegel und Gleitschirme gelten als gleichberechtigt. Für alle Fliegerinnen und Flieger heisst es zudem: Wer nach rechts ausweichen kann, muss dies tun. Ausweichen muss auch, wer den Hang links von sich hat.
Hanspeter Denzler, Direktor des Schweizerischen Hängegleiter-Verbands, hält eine stärkere Reglementierung nicht für sinnvoll: «Dass es nur wenige, dafür aber einfache und klare Regelungen gibt, trägt dazu bei, dass Zusammenstösse bisher nur sehr selten vorgekommen sind.»
Vor dem Zürcher Obergericht ging es jedoch weniger um die Verkehrsregeln in der Luft als vielmehr um die Frage, ob Gleitschirmflieger Aeschbacher beim Start seine Sorgfaltspflicht verletzt hatte. Der Vertreter des verunfallten Alain Sieber war dieser Ansicht und warf Aeschbacher gleich in mehrerer Hinsicht Fehlverhalten vor: Er sei zu nah bei der Deltarampe gestartet und habe nicht beachtet, dass Sieber unmittelbar vor dem Start stand. Auch habe er wissen müssen, dass Sieber ihn nicht sehen konnte; deshalb wäre es seine Pflicht gewesen, den Start durch Rufen anzuzeigen. Dass er in der Aufziehphase einen Linksklapper und kurz danach in der Luft einen Einklapper hatte, war dem Geschädigtenvertreter Beweis genug, dass Sieber sein Fluggerät nicht beherrscht habe.
Der Verteidiger des Angeklagten konterte: Sein Mandant sei genau so gestartet, wie es auf der Alp Scheidegg üblich sei. Zurufe seien dort nicht Usanz; bei Hochbetrieb wie am Unglückssonntag seien solche wohl auch kaum zu verstehen. Er verwies zudem auf die Regeln des Fünf-Punkte-Checks vor dem Start, nach denen unter anderem geprüft werden muss, ob Start- und Luftraum frei sind.
Der Hintere muss mehr aufpassen
Für Aeschbachers Anwalt gabs nicht den geringsten Zweifel: Deltasegler Sieber hätte den Check umfassend durchführen müssen, angesichts seines eingeschränkten Blickfelds halt mit der Unterstützung eines Starthelfers. Für ihn stand zudem fest, dass Sieber hätte respektieren müssen, dass Gleitschirmflieger Aeschbacher vor ihm gestartet sei. Zudem müsse in der Luft jeweils derjenige, der von hinten komme, Rücksicht nehmen, und das sei im vorliegenden Fall der Deltasegler gewesen. Was den Linksklapper in der Startphase und den Einklapper in der Luft angehe, so seien dies zwei verschiedene Vorfälle mit unterschiedlichen Ursachen gewesen.
Das Obergericht folgte der Vorinstanz: Manfred Aeschbacher wurde freigesprochen. Alain Sieber kann den Unfall allerdings nicht ad acta legen und will den Fall weiterziehen. Welche Sorgfaltsmassnahmen beim Start getroffen werden müssen, wird nun das Bundesgericht beschäftigen.
1 Kommentar
Das Bundesgericht hat mit Urteil vom 10. April 2008
4A_22/2008 /len die Beschwerde des Deltaseglers abgewiesen und ihm auch die Verfahrenskosten auferlegt.