Mensch und Justiz: Eltern zeigen den eigenen Sohn an
Er wuchs behütet auf – und griff dennoch zu Drogen. Also ein Rebell ohne Grund? Nicht ganz: Vor Gericht stellt der junge Mann seine Sucht als Aufbegehren gegen die gläubigen Eltern dar. Wegen ihnen sitzt er heute auch auf der Anklagebank.
Veröffentlicht am 30. Januar 2001 - 00:00 Uhr
Nervös schaut sich Rolf Greminger* vor der noch geschlossenen Tür des Bezirksgerichts um. Einige Meter entfernt steht Peter*, sein 21-jähriger Sohn. Der junge Mann macht einen gelassenen Eindruck; in Jeans, Hemd und Pullover sieht er eher wie ein angehender Primarlehrer aus – jedenfalls nicht wie ein drogensüchtiger Kleinkrimineller.
Endlich öffnet die Gerichtsweibelin die Tür; geschlossen schreitet Familie Greminger in den Saal. Während die Eltern hinter ihm Platz nehmen, tritt Peter ans Stehpult. Freundlich beantwortet er die Fragen des Richters. Ja, heute gehe es ihm gut, er sei drogenfrei. Doch ehrlich gesteht er, vor wenigen Monaten rückfällig geworden zu sein, wieder zu Heroin gegriffen zu haben. Ja, er nehme an einem Methadonprogramm teil. Ja, er besuche regelmässig das Psychologische Ambulatorium in Romanshorn TG, wo er mit einem Sozialarbeiter seine Probleme bespreche. Ja, seine neue Arbeit im Behindertenheim gefalle ihm sehr gut; er spiele sogar mit dem Gedanken, später eine Ausbildung als Sozialpädagoge zu machen.
Typisches Beschaffungsdelikt
«Haben Sie sich je bei der Frau entschuldigt, die Sie verletzt und bestohlen haben?», will der Richter jetzt wissen. Zum ersten Mal während der Verhandlung antwortet Peter mit Nein. Der Mut habe ihn bislang ganz einfach im Stich gelassen. Einen Brief an die alte Dame habe er zwar begonnen, aber nie beendigt. «Leider», wie er anfügt. Der Richter lässt nicht locker: «Wieso ist es eigentlich so weit mit Ihnen gekommen, dass Sie heute vor Gericht stehen? Sie sind doch in einem behüteten, gläubigen Elternhaus aufgewachsen und haben Geschwister.» – «Meine Lehre in Schaffhausen gefiel mir nicht», versucht Peter zu erklären, «und meine Freundin hatte mit mir Schluss gemacht. Ich fühlte mich in meiner kleinen Wohnung einsam.» Als er das erste Mal Drogen genommen habe, sei sicher Neugier mit im Spiel gewesen. Und – ja, er habe auch gegen das Elternhaus aufbegehren wollen.
Peter muss sich wegen Raubs, Körperverletzung und Drogenkonsums verantworten. Vor einem Jahr hatte er kein Geld, um sich Stoff zu verschaffen. In seiner Not beging er ein typisches Beschaffungsdelikt. Auf dem Fahrrad sitzend, lauerte der junge Mann am späten Abend Passanten auf. Er hoffte dabei auf das Überraschungsmoment. Der erste Versuch, einer Frau die Handtasche im Vorbeifahren zu entreissen, schlug fehl. Doch statt zur Besinnung zu kommen, versuchte er es weiter – diesmal mit Erfolg. Bei einem Überfall zog sich eine ältere Dame eine Zerrung am Handgelenk zu; sie musste deswegen zum Arzt. Insgesamt erbeutete der Angeklagte bei seinen Diebeszügen 390 Franken; mit dem Geld kaufte er sich Heroin.
Kurzerhand vor die Tür gesetzt
«Darf ich auch etwas sagen?» Peters Vater schaltet sich in die Verhandlung ein und beginnt, die Dinge aus seiner Sicht zu schildern. «Peter war mit seiner Berufswahl nicht zufrieden, er war mit der Ausbildung überfordert.» Weit schlimmer jedoch sei gewesen, dass Peter sich plötzlich in einer Clique bewegte, die einen schlechten Einfluss auf ihn ausübte. Als Eltern hätten sie sich in einer schwierigen Lage befunden. Dass Peter weder religiös noch ehrgeizig war, konnten sie mit Mühe akzeptieren – seinen Drogenkonsum hingegen lehnten sie kategorisch ab. Doch je mehr Druck sie auf ihren Sohn ausübten, desto mehr begehrte dieser auf.
Als Peter trotz Verbot weiterhin Drogen zu sich nahm, setzten ihn die Eltern vor die Tür. Einsichtig wurde er auch nach diesem Rauswurf nicht, im Gegenteil. Er stürzte noch tiefer ab, griff zu härteren Drogen und schreckte schliesslich auch nicht mehr vor Diebstahl zurück. Nachdem die Eltern in der Zeitung eine Fahndungsmeldung gelesen hatten, schöpften sie Verdacht und stellten ihren Sohn zur Rede. Dieser gab die Überfälle zu, worauf die Eltern ihn bei der Polizei anzeigten. «Sucht und Diebstahl können wir nicht tolerieren», sagt der Vater mit Nachdruck. Nun aber gerät er ins Stocken und kann nur schwer die Tränen unterdrücken. Auch das fünfköpfige Gericht ist gerührt; betreten schaut es in die Runde.
Peter wurde festgenommen und verbrachte zwei Tage in Untersuchungshaft. «Nachts in der Zelle habe ich viel geweint», erinnert er sich, «einiges ging mir durch den Kopf.» Natürlich war er damals erbost über seine Eltern, über diesen «Verrat», der ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Heute sieht er das anders, «heute bin ich ihnen dankbar dafür».
Zur Clique von einst hat der junge Mann keinen Kontakt mehr. Er scheint in seinem Leben Fuss gefasst zu haben. So fährt er jeden Tag mit dem Zug zu seinem neuen Arbeitsort und von dort mit dem Velo zum zwei Kilometer entfernten Behindertenheim – und zwar bei jeder Witterung, auch im Winter. «Das ist eine Leistung, die man ihm zugute halten muss», lobt der Vater. Nur dass Peter an einem Methadonprogramm teilnimmt, passt ihm nicht. «Ich verstehe den Staat nicht. Er ist gegen Heroin, gibt aber Methadon ab, das ebenso süchtig macht.» Ginge es nach ihm, müsste sein Sohn völlig drogenfrei leben.
Bevor sich das Gericht zur Urteilsberatung zurückzieht, fragt der Richter, ob der Angeklagte zum Strafantrag des Staatsanwalts von sechs Monaten Gefängnis bedingt und einer Busse von 800 Franken noch etwas beizufügen habe. Nein, sagt Peter, das sei wohl schon richtig so. Nur fände er, die Anklageschrift sei zu hart formuliert. Wer sie lese, meine, er sei ein Schwerverbrecher. «Ich bin kein gefühlloser Typ. Nie wollte ich den Frauen Schaden zufügen.» Das Gericht bittet alle, nach draussen zu gehen, bis das Urteil gefällt ist.
Gute Prognose für Angeklagten
Nach längerer Wartezeit ertönt ein kurzes Läuten: Das Gericht ist zu einem Schluss gekommen. Peter wird zu drei Monaten Haft bedingt verurteilt, bei einer Probezeit von zwei Jahren. Er muss 800 Franken Busse und die Gerichts- und Verfahrenskosten in der Höhe von 3700 Franken bezahlen. «Wir haben ein mildes Urteil gefällt, weil Sie vor Gericht einen guten Eindruck hinterlassen haben», begründet der Richter den Entscheid. Peter sei nicht vorbestraft, und das Gericht stelle ihm eine gute Prognose. Busse und Gerichtskosten könne er monatlich abstottern. Weiterhin müsse er in die Psychotherapie gehen und am Methadonprogramm teilnehmen.
Zum Schluss wendet sich der Richter persönlich an Peter: «Wir wünschen Ihnen alles Gute und hoffen, dass wir Sie am Gericht nicht mehr sehen werden.»
Erleichtert verlassen Peter und seine Eltern den Saal. Die Mutter wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
* Namen geändert