Mensch und Justiz: «Jesus hat mir befohlen, dich zu töten»
Ein Kurde aus dem Nordirak sucht in der Schweiz Asyl. Je länger er warten muss, desto mehr verliert der junge Mann den Bezug zur Realität. Schliesslich glaubt er, dass ihm hier erst ein Neuanfang gelingt, wenn er seinen einzigen Freund tötet.
Veröffentlicht am 20. April 2001 - 00:00 Uhr
Zwei uniformierte Polizisten, Pistole und Funkgerät am Gurt, führen den Angeklagten in Handschellen und Fussfesseln in den Gerichtssaal. Abwesend setzt sich der schmächtige junge Mann auf den Stuhl und starrt auf die Tischplatte. Einer der Polizisten schliesst ihm die Handschellen auf. Die Fussfesseln jedoch werden nicht gelöst. Grund: Während der U-Haft rastete der junge Mann manchmal völlig aus, wenn die Rede auf jenen Abend kam, an dem er mit einem Messer auf seinen Freund eingestochen hatte.
Geisterhafter Prozess
Jelal (Name geändert), 28, floh 1997 aus dem Nordirak Richtung Westen. «Warum gingen Sie weg?», fragt der Richter. «Ja, wissen Sie denn nicht, dass bei uns Krieg ist? Wir Kurden werden verfolgt, vertrieben, umgebracht», stösst Jelal hervor. Dann versinkt er wieder in sich selbst. In der Folge antwortet er zwar auf alle Fragen anstandslos, wirkt dabei aber völlig emotionslos, unbeteiligt – als ob das, worüber verhandelt wird, nichts mit ihm zu tun hätte.
Nach einem Jahr auf der Flucht strandete Jelal in der Schweiz, wo er ein Asylgesuch stellte. Im Asylheim in einer kleinen Baselbieter Gemeinde freundete er sich mit Mustafa (Name geändert) an, der ebenfalls aus dem Irak stammt. Die beiden verstanden sich, weil sie Ähnliches durchgemacht hatten. Mustafa, heisst es in der Anklageschrift, sei für Jelal wie ein Vater gewesen.
«Wollten Sie ihn an diesem Abend wirklich umbringen?», fragt der Richter. «Ja, ich wollte ihn töten», sagt der Angeklagte. «Er ist ein schlechter Mensch, er hatte immer ganz andere Gedanken.» Was genau an jenem Abend geschah und, vor allem, warum Jelal am Ende zum Küchenmesser griff, bleibt auch vor Gericht unklar. Der Prozess wirkt geisterhaft: Anwälte und Sachverständige kommen zwar ausgiebig zu Wort, nicht aber die Betroffenen selbst. Weder Jelal noch Mustafa können zum Tathergang befragt werden.
Anfang 1999 bekam Mustafa eine eigene Wohnung. Jelal fühlte sich allein gelassen und von den Behörden ungerecht behandelt. In jener Zeit erhielt er auch von seiner Frau, die er im Nordirak zurücklassen musste, einen Brief. Darin verlangte sie die Scheidung. Jelal wurde eifersüchtig auf seinen Freund; er begann, Mustafa zu verfolgen, ja zu bedrohen, bis dieser mehr und mehr Angst bekam. Schliesslich erstattete er bei der Polizei Anzeige.
Die Betreuer im Asylheim müssen von den Problemen Jelals gewusst haben; sie ordneten eine Therapie an. Der junge Kurde mochte jedoch nicht reden; er weigerte sich, Medikamente zu nehmen, und erschien bald nicht mehr zu den Sitzungen. Von da an scheint sich niemand mehr um ihn gekümmert zu haben.
In einer Welt fernab der Realität
An einem späten Sommernachmittag traf Jelal in einer Beiz in Kleinbasel zufällig auf Mustafa. Sie wechselten ein paar Worte, jeder trank sein Bier. Plötzlich nahm Jelal seinen einstigen Freund in den Würgegriff. «Jesus hat mir befohlen, dich zu töten», soll er gesagt haben. Und: «Diese Nacht hat Jesus zu mir gesagt, heute sei der richtige Tag, um dich zu töten.» Darauf schleppte er sein Opfer zur Küche, griff nach dem erstbesten Messer und stach mit der stumpfen Klinge immer wieder zu, blind vor Wut. Bis sein Opfer reglos zu Boden sackte. Die von den Gästen alarmierte Polizei konnte den jungen Mann widerstandslos abführen. Er schien zufrieden. Mustafa überlebte nur mit viel Glück.
In Bezug auf sein Opfer habe der Angeklagte sich in seiner eigenen Welt bewegt, fernab der Realität, erklärt die Psychiaterin. «Er ist für seine Tat absolut nicht zurechnungsfähig.» Der junge Mann sei immer mehr in einen paranoiden Wahn abgedriftet. Habe geglaubt, der andere sei schuld, dass sein Leben, das er sich in der Schweiz aufbauen wollte, in noch grösseren Trümmern lag als jenes, vor dem er geflohen war. Um es hier zu etwas zu bringen, davon ist Jelal nach wie vor überzeugt, musste er zuerst Mustafa aus dem Weg räumen.
«Würden Sie sich jetzt behandeln lassen?», fragt der Richter. «Ich will keine Medikamente», entgegnet Jelal. «Ich will Asyl, darum bin ich doch in die Schweiz gekommen. In meinem Land hatte ich Probleme, nicht hier.»
Eine stationäre Massnahme, wie der Richter sie vorschlägt, lehnt die Psychiaterin rundweg ab: «Wir könnten ihm doch nicht helfen. Ich sehe kaum Perspektiven für eine Besserung.» Sie spricht von der fehlenden Krankheitseinsicht, vor allem aber von sprachlichen und kulturellen Barrieren. «Diese Leute sind nicht gewohnt, über sich zu reden.»
Ihr Fazit: «Das Beste wäre, er könnte in sein Land zurück. In seinem soziokulturellen Umfeld hätte er die grösste Chance, sein Leben wieder in die Reihe zu bringen.» Jelal, fremd in der fremden Schweiz, habe sich mehr und mehr in die Enge getrieben gefühlt. Zerrissen zwischen hier und dort und nirgendwo zu Hause, habe er einzig in den Wahn flüchten können.
In der ersten Woche nach der Verhaftung hat er sein Asylgesuch zurückgezogen, einen Monat später aber hat er es erneut eingereicht. «Würden Sie wieder zurückgehen?», fragt ihn jetzt der Richter. Jelal: «Dazu habe ich nichts zu sagen.» – «Aber Sie möchten nach Hause?» – «Ja schon.»
Doch nach Hause kann Jelal nicht. Das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) hat das Veto eingelegt. Kurden aus dem Nordirak werden wegen der politischen Situation momentan nicht ausgeschafft. Für die wenigen, die aber zurückkehren möchten, führt der Weg über die Türkei, mit der die Schweiz ein Abkommen hat. «Das ist die einzige offene Route», erklärt die Vollzugsbeamtin der Baselbieter Fremdenpolizei dem Gericht. Das BFF befürchte, Jelal könnte ausrasten. «Wenn nur das Geringste passiert, ist der Weg für alle gesperrt.»
In der Sackgasse
Der Staatsanwalt stellt den Antrag, die Verhandlung abzubrechen. «Am Morgen hatte ich noch Hoffnung, eine Lösung zu finden, die dem jungen Mann hilft», meint er. «Jetzt stecken wir in der Sackgasse.»Nach kurzer Beratung vertagt der Richter den Prozess, um den Fall nochmals zu prüfen. Ausserdem müsse man nun über eine Verwahrung diskutieren, und das ist dem Gericht in der gegenwärtigen Zusammensetzung nicht erlaubt.
«Unsere Not ist programmiert», meint der Richter. «Wir müssen etwas tun. Doch wie immer wir auch entscheiden – es ist im Grunde falsch.» Er wendet sich an den Angeklagten: «Wir können Sie nicht zwingen, dem Rat der Ärzte zu folgen. Aber ich empfehle Ihnen, sich helfen zu lassen. Sonst müssen wir Sie auf unbestimmte Zeit in einer hoch gesicherten Anstalt einschliessen.» Jelal blickt in eine undefinierbare Leere – und in eine ungewisse Zukunft.