Mensch und Justiz: Tod unter der Tauchglocke
Eine Tauchglocke lässt jedes Taucherherz höher schlagen. Jenes einer jungen Frau schlägt jedoch nicht mehr: Sie kam unter der Luftglocke im Bodensee um. Ist der Tauchklub Kreuzlingen für ihren Tod mitverantwortlich?
Veröffentlicht am 9. Oktober 2000 - 00:00 Uhr
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Gottlob, beide sind gerettet!» Mit diesen Worten rief ein Tauchschüler vor dem Bezirksgericht Kreuzlingen TG seine erste Reaktion nach dem Tauchunglück vor sechs Jahren in Erinnerung. Doch die Erleichterung hatte nicht lange gewährt: Unverletzt geblieben war damals nur der Tauchlehrer, der eingeklemmt in 14 Meter Tiefe vom Tauchschüler kurz zuvor befreit worden war.
Die 23-jährige Sabine Meier* hingegen tauchte nie mehr auf. Vermutlich trieb sie bereits bewusstlos im Wasser, als der Tauchschüler sie zum letzten Mal gesehen hatte. Später fanden Taucher der Seepolizei die Leiche der jungen Lehrerin wenige Meter vom Unglücksort entfernt rund 14 Meter unter der Wasseroberfläche.
Mutprobe für Tauchneulinge
Die Kreuzlinger Tauchglocke die einzige ihrer Art in der Schweiz war schon seit Jahren eine grosse Attraktion: Nicht nur Klubmitglieder tauchten regelmässig zu ihr hinab, sondern auch auswärtige Taucherinnen und Taucher. Ihr Geheimnis beruht auf einem einfachen physikalischen Gesetz: Aus einem umgestülpten Behälter, den man unter Wasser drückt, kann keine Luft entweichen; umgekehrt dringt aber auch kein Wasser ein solange der Behälter nicht kippt.
Der Tauchklub Kreuzlingen hatte die Glocke 1979 im Bodensee versenkt, 100 Meter vom Kreuzlinger Ufer entfernt. Sie steht auf einem Gitterrost rund zwei Meter über dem Seegrund und ist mit Eisenketten im Boden verankert.
Das Eintauchen von unten in die 1,7 Meter hohe Glocke galt insbesondere bei Tauchneulingen als kleine Mutprobe. In der Glocke steht man auf dem Gitterrost, kann den Lungenautomaten aus dem Mund nehmen und die gefangene Luft der Glocke atmen, ja unter Wasser sogar reden oder ein Glas Wasser trinken. Viele Taucherinnen und Taucher erhalten einen zusätzlichen Kick, wenn sie nachts abtauchen: Der Bodensee ist dann stockfinster.
Das Unfallopfer zögerte zunächst
Sabine Meier hatte wenige Wochen vor dem Unglück im Roten Meer tauchen gelernt. In den anspruchsvolleren Gewässern des dunklen, kalten Bodensees hatte sie schon Erfahrungen gesammelt, als sie sich für jenen verhängnisvollen Nachttauchgang im September 1994 anmeldete. Die insgesamt sieben Schüler tauchten in drei Gruppen, begleitet von zwei Lehrern. Sabines Gruppe machte sich auf den Weg hinunter zur Glocke aber erst nachdem der Tauchlehrer der ängstlich zögernden jungen Frau gut zugeredet hatte.
Was dann geschah, ist auch nach jahrelangen Untersuchungen noch immer nicht ganz geklärt. Barst eine der Ketten, weil sie verrostet war und das Gewicht der Glocke nicht mehr halten konnte? Oder barst sie, weil der Tauchlehrer beim Einstieg unglücklich mit der Tauchflasche angestossen war, sich dabei ein Ventil geöffnet hatte und explosionsartig Luft entwichen war?
Sabine war zu diesem Zeitpunkt in der Glocke und muss unglaublich erschrocken sein. Ob sie beim Bersten der Kette noch versucht hatte, aus der kippenden Glocke herauszuschwimmen, oder ob sie von Panik erfasst Wasser geschluckt hatte und bewusstlos geworden war, steht nicht mit letzter Sicherheit fest.
Offen bleibt die Schuld des Lehrers
Unklar bleibt bis heute auch, ob und inwiefern den Tauchlehrer eine Schuld an Sabines Tod traf die Untersuchung darüber ist noch im Gang. Besagter Mann verfügte jedenfalls nicht über ein Tauchlehrerpatent nach den internationalen Richtlinien des grössten Tauchverbands (Padi) und hätte somit unter diesem Titel keine Tauchgänge anbieten dürfen. Ganz abgesehen davon, dass gemäss jenen Richtlinien die verhängnisvolle Glocke überhaupt nicht hätte betaucht werden dürfen.
Vor Bezirksgericht hatten sich vorerst die beiden Verantwortlichen des Tauchklubs Kreuzlingen, der Präsident und der technische Leiter, zu verantworten. Im Saal gingen die Emotionen auch Jahre nach dem schrecklichen Unglück immer noch hoch. Aus der Ecke, wo die Familienangehörigen der ertrunkenen Taucherin sassen, konnte man immer wieder Taschentuchrascheln und Schnäuzen vernehmen.
Glocke war nicht korrekt gewartet
Sabines Anwältin schilderte ihre verstorbene Mandantin als unternehmungslustige, fröhliche, aber durchaus vorsichtige junge Frau. Um ein Zeichen zu setzen und den Anbietern von Risikosportarten ihre grosse Verantwortung bewusst zu machen, forderte die Anwältin 72000 Franken Schadenersatz und Genugtuung im Wissen, dass bei einem Schuldspruch die zwei Klubverantwortlichen mit ihrem Privatvermögen einstehen müssten.
Der Staatsanwalt plädierte auf schuldig, weil die beiden Angeklagten ihrer Verantwortung nicht nachgekommen seien und die Tauchglocke nicht korrekt gewartet hätten. Nie habe der Klub die Wartung und die Sicherheitskontrolle der Glocke geregelt. Auch hätten die Verantwortlichen einen Monat vor dem tödlichen Unfall, als Taucher dem Klub von den verrosteten Ketten und einer leichten Schieflage der Glocke berichtet hätten, eine Reparatur unterlassen.
Freisprüche forderten hingegen die Verteidiger. Schuldsprüche, so ihre Argumentation, würden in Zukunft viele davon abhalten, ehrenamtliche Vereinstätigkeiten zu übernehmen. Besonders mit dem Klubpräsidenten müsse man nachsichtig sein; er sei erst sechs Monate zuvor gewählt worden und dürfe deshalb nicht für Versäumnisse früherer Präsidenten zur Rechenschaft gezogen werden.
«Mein Mandant hat nicht die Hände in den Schoss gelegt und einfach nichts gemacht», sagte der Anwalt des Präsidenten. Er habe sich bei einem Tauchgang ein Bild von der Schieflage der Glocke gemacht und das Problem für die nächste Vorstandssitzung auf die Traktandenliste gesetzt.
Auch der Verteidiger des technischen Leiters sah kein Verschulden im Verhalten seines Mandanten. Dieser sei weder Profitaucher noch Materialexperte, und die Wartung der Glocke habe nicht im Pflichtenheft gestanden.
Mehr Sorgfalt bei hohem Risiko
Das Bezirksgericht fällte jedoch in beiden Fällen Schuldsprüche mit der Begründung, gerade bei Risikosportarten, bei denen eine erhöhte Abhängigkeit vom einwandfreien Funktionieren technischer Anlagen bestehe, müssten Einrichtungen wie Kletterwände, Seilbahnen oder auch Tauchglocken mit hohem Gefahrenpotenzial vollkommen seriös und regelmässig gewartet werden. Dies habe der Tauchklub Kreuzlingen unterlassen.
Wer Vereinsämter übernehme, müsse seine persönlichen Fähigkeiten hinterfragen und abklären, welche Aufgaben ein Amt mit sich bringe, meinte der Richter weiter. Eine im Wasser befestigte Kette bedürfe einer regelmässigen Überprüfung; um das zu wissen, müsse man kein Experte sein. Wie der technische Leiter trage auch der Klubpräsident Verantwortung umso mehr, als die Glocke einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt worden war.
Sowohl der Präsident als auch der technische Leiter wurden mit einer Busse von je 500 Franken und einer gemeinsamen Pauschalzahlung von 38000 Franken bestraft. Beide akzeptierten den Schuldspruch nicht. Deshalb wird sich auch das Thurgauer Obergericht mit Sabines Tod befassen müssen.