«Du hast sie angesprochen.» – «Die haben gar nicht reagiert.» – «Ich hörte das Aufklappen eines Messers.» – «Das war viel später.» – «Halt! Der kam von dort!»

Der Schock sitzt tief, die Verwirrung ist gross. Sieben Männer rekonstruieren mit Hilfe eines Psychologen, was ihnen geschah. 36 Stunden zuvor war in ihrer Gegenwart ein Freund erstochen worden: Pedro Javier S., genannt Peach, 35 Jahre alt, Lokomotivführer.

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Die Schilderungen der sieben Handballer – sie sind zwischen 20 und 37 Jahre alt – wurden vom Therapeuten auf Video festgehalten. Die Männer sitzen im Halbkreis; ihre Gesichter sieht man nicht. Im Bild erscheinen wippende Füsse – und Hände, die eingreifen. Die Hände verschieben hölzerne Puppen. Wer war wann wo? Was geschah wirklich? Die Stimmen sind laut und zornig.

Wil ist die «besterhaltene Kleinstadt der Ostschweiz», heisst es im Tourismusprospekt: «Während Jahrhunderten befand sich hier die weltliche Residenz der Fürstäbte von St. Gallen.» Wil hat 16000 Einwohnerinnen und Einwohner. Stihl Kettensägen ist die einzige Weltfirma des Ortes, aktiv bis in die tropischen Regenwälder. Auf dem 63 Meter hohen Lagersilo weht bald die Fahne des Kantons St. Gallen, bald jene des Städtchens. Erscheinen Kunden aus dem Nachbarkanton, wird die Thurgauer Fahne gehisst.

Im Befragungsprotokoll vom 23. Dezember 2000 hält der Polizist zu Beginn fest: «Herr Glaus, Sie waren vergangene Nacht in Wil.» Daniel Glaus, 21 Jahre alt, gab zur Antwort: «Ja, das stimmt.» (Namen aller Betroffenen geändert.)

Daniel Glaus, Werkzeugmacher, 1 Meter 62 gross, spielte im Handballklub Flawil auf dem linken Flügel. Das Jahr 2000 war seine erste Saison in der ersten Liga. In neun Spielen hatte er ein gutes Dutzend Tore geschossen. Das Jahr war mässig erfolgreich, der Abstieg in die zweite Liga zeichnete sich bereits ab, doch auf die Mannschaftslaune hatte dies keinen Einfluss: Am 22. Dezember fand die Jahresendfeier statt. Treffpunkt: 20 Uhr in der «Filzi» von Wil, dem städtischen Zentrum der Region, 15 Kilometer von Flawil entfernt.

«Den habe ich nie gesehen»
Puppe drei steht jetzt links vorne. Stimmen aus dem Video: «Der Grosse kam dann hinzu.» – «Den habe ich nie gesehen.» – «Du kamst zu mir und du sagtest: Peach blutet.» – «Ich weiss nicht, woher er das Messer genommen hat.» – «Das war abgesprochen, ganz klar.»

Horst Kraemer, spezialisiert auf Gewalt und Traumacoaching, verwendet das Video zu Ausbildungszwecken. Was bewirkt ein derart aufwühlendes Ereignis? «Der Schock zersplittert die Erinnerung in lose Einzelteile», sagt der Fachmann: «Das Gesamtbild des Geschehens zerfällt.» Dieser Zustand bewirke eine grosse Verunsicherung; die Menschen begännen an sich selbst zu zweifeln und entwickelten Schuldgefühle.

Die sieben Sportler besuchten den Psychologen drei Mal. Kraemer befragte sie nach Details wie Gerüchen, Geräuschen; durch die Puppen konnte die Nähe zum Geschehen wiederhergestellt werden. Nach und nach tauchte die Erinnerung wieder auf: «Der Schrecken weicht dem Erinnern. Erst die Erinnerung ermöglicht, zu verstehen, was wirklich geschah.»

«Viele waren angetrunken»
Der 22. Dezember war ein kühler Wintertag, die Nacht war klar gewesen; insgesamt herrschten 351 Minuten Sonne. Daniel Glaus hatte einen Nachmittagsschlaf gemacht. Danach nahm er ein Bad, rasierte sich, benutzte sein Eau de Cologne von Chiemsee. Um 19.40 Uhr bestieg er den Regionalzug von Flawil nach Wil. Daniel traf als Letzter in der «Filzi» ein.

Wenig später brachen die Handballer zur Bar «J & B» auf. Daniel unterhielt sich dort grösstenteils mit Peach. An Details kann er sich nicht mehr erinnern. Daniel verzehrte einen Pouletschenkel, trank einige Bier, genehmigte sich noch einen Drink. Um 1.30 Uhr verliess er mit dem Goalie den Pub Richtung «Palms» an der Bahnhofstrasse 5.

Die Weihnachtsbeleuchtung der Unteren Bahnhofstrasse, in der die Tat geschah, war 1998 aus Spargründen abgeschafft worden. Sie hatte aus stilisierten Weihnachtsbäumchen bestanden.

Auf den Anhöhen von Wil wohnen seit alters die begüterten Einwohner; in der Ebene die ärmeren Neuzuzüger. Auf dem Stadtplan sind separat aufgeführt: fünf katholische und vier reformierte Kirchen; drei Filialen der Kantonalbank sowie fünf Privatbanken. In den neunziger Jahren, im Rahmen des Familiennachzugs, wurde eine grosse Zahl von jungen Menschen aus Mazedonien in der Region sesshaft. Unter ihnen auch Iniz Elmazi, geboren 1983 in Vesala, einem Dorf nahe Tetovo. Er zog 1994, elfjährig, mit der Mutter zu seinem Vater, in die Schweiz.

Iniz Elmazi, siebzehn Jahre alt, ohne Arbeit, gab der Polizei am 23. Dezember 2000 zu Protokoll, nach Mitternacht erst in der «Linde» gewesen zu sein; nach einem Besuch des Kebabstands am Bahnhof habe er die «Schmitte» aufsuchen wollen.

Um 1.43 Uhr wurde die Regionalpatrouille «Gallus 5701» von der Notrufzentrale nach Wil beordert. Kurz darauf kam der Anruf, dass eine Person mit einem Messer verletzt worden sei. Sämtliche im Dienst stehenden Polizeibeamten der Region rückten aus. Eine Ambulanz stand bereits auf dem Platz. «Die Informationsbeschaffung war nicht einfach», heisst es im Protokoll: «Zahlreiche Anwesende waren angetrunken.»

Insgesamt acht Wunden
Aus den Gerichtsakten geht hervor: Der Handballklub Flawil bewegte sich in drei Gruppen über den Bahnhofplatz. Zwei Unbekannte – ein Mazedonier und ein Schweizer – verwickelten einzelne Sportler in ein Handgemenge, woraus eine Keilerei entstand. Aus dem Hinterhalt tauchten dann zwei weitere Männer auf. Diese stammten beide aus dem Balkan. Einer von ihnen stach auf Peach ein. Er verletzte ihn tödlich. An Brustkorb und Rücken fanden sich insgesamt acht Wunden. Der Tatverdächtige Iniz Elmazi wurde um sechs Uhr früh desselben Tages verhaftet.

1999 wurden in Wil 28 Körperverletzungen oder Tätlichkeiten gezählt; im Jahr 2000 waren es 43. Im Geschäftsbericht dieses Jahres hielt der zuständige Stadtrat fest: «Der teilweise Zerfall von Sitte und Anstand gibt zu einer gewissen Beunruhigung Anlass.» Die parlamentarische Diskussion kam zum Schluss, dass die Zunahme der Gewaltbereitschaft «nicht ein spezifisches Wiler Problem» sei.

Daniel Glaus befand sich um 1.25 Uhr auf dem linken Trottoir der Bahnhofstrasse. Er sah, wie auf der anderen Strassenseite zwei junge Männer seine Freunde anpöbelten. «Ich bin Jugo! Willst du meinen Ausweis sehen?», rief ein Unbekannter den Schlendernden zu. Wie das Handgemenge seinen Anfang nahm, weiss keiner der Beteiligten mehr genau. Unbestritten ist, dass die Handgreiflichkeiten nicht bei Peach, sondern bei Ernst Egger begannen: Egger, 1 Meter 80 gross, der kräftigste Handballer, war von einem eher schmächtigen jungen Mann von hinten attackiert worden. Daniel Glaus versuchte die beiden auseinander zu bringen. Faustschläge und Fusstritte wurden ausgeteilt – dann trat ein bisher unbeteiligter Mann hinzu. Daniel hörte, wie sich dessen Schmetterlingsmesser öffnete. «Achtung! Der hat ein Messer!», rief er Peach zu. Kurz danach ging Ernst Egger zu Boden. Daniel eilte wie in Trance zu ihm, legte dem Ohnmächtigen die Jacke unter den Kopf. Peach, zwei Meter daneben, schwer verletzt, stand noch. Auf seinem weissen Pullover waren unter dem Schulterblatt zwei rote Flecken erkennbar. Wie der Täter sich entfernte, sah Daniel Glaus nicht.

«Die Schnauze voll»
Aus dem Weiher von Wil, am Fuss des Ölbergs, schiesst sommers und winters eine acht Meter hohe Fontäne. Der Druck von fünf Bar wird neuerdings durch natürliches Gefälle erzeugt; dadurch spart das Städtchen jährlich 10'000 Franken. Wil steht steuermässig äusserst gut da. Das Parlament tagt achtmal jährlich. Es ist geprägt von der Christlichdemokratischen Volkspartei. Am 24. November, einen Monat vor der Tat, konnte nach mehrjähriger Bauzeit die neue Bahnhofstrasse eröffnet werden. Darauf nicht zugelassen sind: Velos, Rollschuhe, Skateboards. Zur Ausstattung der Zone gehören zwanzig Sitzbänke, vier Robidogs und zehn Abfallbehälter.

«Schweizer! Wir haben die Schnauze voll vom sinnlosen Niederhauen und Abstechen von anständigen Bürgern!» Der Aufruf war wenige Tage nach dem Tod von Peach auf der Homepage der Nachbargemeinde Bronschhofen zu lesen. Ein «Nikito Kartell» warb mit diesen Worten um Mitglieder. Beitrittsbedingung: Erfahrung im Kampfsport. Bronschhofens Gemeinderat distanzierte sich umgehend von diesem Aufruf. Dieser wurde wenig später gelöscht. Die Kantonspolizei liess verlauten, dessen Urheber sei harmlos.

Bei Ernst Egger klingelte es sieben Stunden nach der Tat an der Haustür. «Sind Sie Ernst Egger?», fragte die junge Frau, die sich als Polizeibeamtin vorstellte. Beiläufig erwähnte sie, sein Kollege Peach sei erstochen worden; Egger solle jetzt «doch bitte keine Szene» machen.

Ernst Egger, gelernter Maler, 30 Jahre alt, gehört zur Stammsechs des HC Flawil. Er hatte sich durch den Angriff aus dem Hinterhalt leichte Verletzungen zugezogen. Sein schneller Sturz war bierbedingt: Der Panzergrenadier hatte um zwei Uhr früh rund 1,5 Alkoholpromille im Blut. «Ich habe einen Filmriss», erklärte er der Polizeibeamtin. Wie gegen alle andern Handballer erhob die Staatsanwaltschaft auch gegen ihn Anklage wegen «Raufhandels». Egger wurde in zweiter Instanz freigesprochen. Die Klagen gegen seine Kollegen wurden mehrheitlich fallen gelassen.

Die Beschuldigung machte Egger schwer zu schaffen: «Ich hatte einen Kollegen verloren – und stand plötzlich als Beschuldigter da.» Neben den psychischen Problemen ergaben sich auch berufliche: Er hatte sich bei der Polizeischule beworben. Eine Verurteilung hätte diese Pläne zunichte gemacht.

6. Februar 2001. Sechs Wochen nach der Tat treffen sich rund 700 Menschen in Wil zu einem Schweigemarsch. «Meine Damen und Herren! Wiler! Auswärtige! Gross und Klein, Jung und Alt!», begann SVP-Nationalrat Theophil Pfister seine Rede: «Wir sind hier, um ein Zeichen zu setzen!» An der Demonstration «für ein sicheres Leben» wurde die Petition «für mehr Polizeipräsenz» lanciert. 2303 Unterschriften kamen zusammen.

Witwe um ein Haar ausgewiesen
«Hier ist Peach. Sprich doch nach dem Piepston.» Erika S., die Ehefrau von Peach, sprach in den frühen Morgenstunden des 23. Dezember «gewiss zwanzig Mal» auf seine Combox. Peach, der Lokführer, war ein zuverlässiger Mann. Wenn er sich verspätete, hatte er dies immer angekündigt. Erika irrte in der Wohnung umher, erkundigte sich bei Freunden. Die Polizei sprach bei der Witwe um 6.30 Uhr vor – fünf Stunden nach der Tat. Den Leichnam konnte sie erst gegen Mittag sehen.

Wenige Tage danach wurde ihr mitgeteilt, sie werde die Schweiz nach der Beerdigung verlassen müssen; das Ausländergesetz setze für den Verbleib eine dreijährige Ehe voraus. Erika S. ist gebürtige Slowakin. Ihre Ehe hatte nur zweieinhalb Jahre gedauert. Es brauchte einen parlamentarischen Vorstoss, um ihr das Verbleiben im Land zu ermöglichen.

Daniel Glaus, dem linken Flügel des HC Flawil, war nach der Tat «die Brust wochenlang wie zugeschnürt». Sah er ein Messer, «war sofort alles wieder da». Verängstigt, schlief er lange Zeit auf dem Sofa seiner Eltern. Wenn ihm in Flawil jemand entgegenkam, glaubte er, feindselige Blicke zu erkennen: Er war sich sicher, dass alle der Meinung waren, er sei schuld am Tod von Peach.

In acht Einzelsitzungen mit dem Psychologen lernte er, die zerstückelte Erinnerung wieder als Ganzes wahrzunehmen: wie der Täter auf Peach zukam, wie sich die beiden stritten, wie Peach das Gleichgewicht verlor und wie der Täter schliesslich auf ihn einstach – acht und nicht bloss drei Mal, wie Glaus anfänglich geglaubt hatte. Er lernte, innerlich einen Schritt zurückzutreten, das Ereignis aus der Distanz zu betrachten: «Ich konnte plötzlich, wie auf dem Computerbildschirm, ein neues Fenster aufmachen.»

Iniz Elmazi begab sich, nachdem die Tat geschehen war, nach Hause. Er duschte; danach ging er wieder in den Ausgang. Vier Stunden später wurde er festgenommen. Der Polizei erklärte er erst, ein anderer habe Peach getötet; dann gab er an, fünf Mal zugestochen zu haben; später konnte er sich nur noch an drei Stiche erinnern. Bei anderer Gelegenheit behauptete er, einen Zwillingsbruder zu haben, es liege eine Verwechslung vor. Nachdem die Anzahl Stichwunden des Opfers öffentlich geworden war, gab Iniz an, es habe noch ein Zweiter zugestochen.

«Lügen sind erlaubt»
«Ein geordnetes Gespräch mit dem Tatverdächtigen ist fast nicht möglich», schrieb der psychiatrische Gutachter von Iniz Elmazi zuhanden des Gerichts. Aus den Polizeiprotokollen gehe aber eindeutig hervor, dass sich Elmazi an den Tathergang erinnerte – auch wenn er dies später mehrmals verleugnete. Der Gutachter hielt fest, Elmazi sei hinzugestossen, als die Keilerei längst im Gange war: «Iniz suchte den Raufhandel. Er mischte sich ohne Not ein.»

«Die Begriffe von Recht und Wahrheit sind auf dem Balkan grundsätzlich anders als in Westeuropa», sagt Vica Mitrovic, Politologe. Der heutige Sekretär der Gewerkschaft Bau und Industrie hat in Belgrad studiert und lebt seit 1986 in der Schweiz: «Vieles, was bei den Westeuropäern als Lüge und somit als verwerflich gilt, ist bei den Menschen vom Balkan erlaubt – solange sie damit ihre eigene Position schützen können.» Lügen nach unserem Verständnis seien auf dem Balkan nur im familiären Kreis tabu. Ausserhalb davon sei die moralische Freiheit sehr gross.

Iniz Elmazi hat keinen Beruf erlernt. Er wurde mit 15 von der Realschule von Wil gewiesen. Eine weitere Ausbildung hat er nicht absolviert; seit dem Schulabgang ist er ohne Arbeit. Mitrovic, der den Angeklagten nicht kennt, sagt: «Ich kann, was geschehen ist, in keiner Weise rechtfertigen. Ich kann nur versuchen zu verstehen.» Für die zweite Generation von Ex-Jugoslawen, der auch Iniz Elmazi angehört, sei die Lebenssituation «oft hoffnungslos: Diese Jungen waren, als ihr Vater noch Geld in die Heimat schickte, Dorfkönige – und nach dem eigenen Nachzug mussten sie erkennen, dass sie hier ziemlich tief in der Hackordnung stehen. Viele Menschen ohne Ausbildung sind hier plötzlich ohne Aufgabe, ohne Berufsalltag und leben zwischen zwei Kulturen. Sie sind sich selbst, aber auch dem Grossangebot der Schaufenster überlassen. Ihre Väter, oft in der Baubranche, arbeiten bis spätabends; ohne Familienoberhaupt sind viele Regeln ausser Kraft gesetzt.» Mitrovic hofft, dass die nächste Generation von Menschen aus dem Balkan die Integration besser schafft.

Kaum Geld für die Integration
«Das Hauptanliegen von Wils Bürgerschaft war durch alle Jahrhunderte hindurch die Autonomie, die Wahrung und Sicherung der Freiheit», steht im Tourismusprospekt des Städtchens. Die Projektgruppe «Prävention gegen Gewalt» war ehrenamtlich tätig; Geld stand dafür keines zur Verfügung. Nach zwei Jahren wurde deren Tätigkeit eingestellt. Neuerdings sind für ein städtisches Integrationskonzept 40'000 Franken vorgesehen. Die Arbeit soll demnächst aufgenommen werden.

Heute erinnert in Wil nichts mehr an die Tat. Der Durchgangsverkehr an der Bahnhofstrasse ist fliessend; an der Ilgenkreuzung entsteht hie und da ein Stau. Der Abwart der Liegenschaft, vor der die Tat geschah, mag sich zum Todesfall nicht äussern. Der Präsident der Hausverwaltung entschied «nach eingehenden Gesprächen mit der Gemeinde», die Gedenkkerzen vor seinem Grundstück nach einem Monat wegräumen zu lassen: «Wir wollten keinen Friedhof da unten», sagt er.