Freikirchler in allen Farben
Die Freikirchen wollen bei den Wahlen im Herbst ihren politischen Einfluss weiter ausbauen. In welcher Partei, ist nicht mehr so wichtig.
Veröffentlicht am 4. August 2015 - 09:03 Uhr
Das Seelenheil genügt den Freikirchen nicht mehr, sie wollen auch in der Politik mehr mitreden. Den Missionsbefehl setzen sie längst nicht mehr nur beim Verkünden von Gottes Wort um, sondern auch durch gezieltes Engagement in Politik und Gesellschaft. So auch im Nationalrat, wo bisher vier bekennende Mitglieder von Freikirchen sitzen. Und in den im Herbst noch ein paar weitere gewählt werden wollen.
Doch eine geeinte Stossrichtung gibt es nicht. Die Freikirchler politisieren in Parteien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Solothurner Philipp Hadorn und der Basellandschäftler Eric Nussbaumer gehören zur SP. Sie sind Mitglieder der Evangelisch-methodistischen Kirche. Ebenfalls Mitglied der Methodisten ist der Berner Oberländer Nationalrat Erich von Siebenthal, doch er ist SVPler wie der Bernjurassier Jean-Pierre Graber, der regelmässig die Gottesdienste einer evangelikalen Gemeinde besucht.
Auch aus den Reihen der FDP könnten die Freikirchen ab Herbst Unterstützung bekommen. Gewerbeverbandspräsident Hans-Ulrich Bigler, der die Gottesdienste der evangelikalen Freikirche ICF besucht, kandidiert für den Nationalrat. Dass keiner von ihnen den traditionellen Freikirchen-Parteien EVP und EDU angehört, sei kein Zufall, sagt EVP-Generalsekretär Joel Blunier. «Früher trauten sich viele Christen nicht, sich als SVP-Mitglied zu outen.» Heute könne man das gar mit Stolz tun, selbst in der religionskritischen SP. Zudem böten grosse Parteien vielerorts mehr Aufstiegschancen für Politiker als die EVP.
«Früher trauten sich viele Christen nicht, sich als SVP-Mitglied zu outen»
Joel Blunier, EVP-Generalsekretär
Entsprechend unterschiedlich sind die Motive der Freikirchler bei der Wahl ihrer Partei. Für Erich von Siebenthal vertritt die SVP «die christlichen Grundwerte wie die positive Haltung zur Schweiz, den Schutz des Lebens und die Freiheit des Einzelnen». Dass die Ausländerpolitik der SVP der biblischen Botschaft widersprechen könnte, findet er nicht. Die Partei stehe dazu, dass Menschen, die an Leib und Leben bedroht sind, in der Schweiz aufgenommen würden, sagt er. «Doch wir können nicht das weltweite Armutsproblem mit einer offenen Ausländerpolitik lösen.»
Für Eric Nussbaumer ist es die Solidarität mit Menschen am Rand der Gesellschaft, die er in der Bibel wie im SP-Parteiprogramm findet. Dass die SP als Partei atheistische Wurzeln hat, stört den Baselbieter nicht. «Ich achte auf die reale lebensdienliche Praxis und nicht auf die Wurzeln und die Herkunft, wenn ich mit Leuten zusammenarbeite», sagt er.
Nussbaumers freikirchlicher Parteikollege Philipp Hadorn beruft sich auf Jesus, der seine Anhänger gelehrt habe, zugunsten der Schwachen und Benachteiligten Partei zu ergreifen. «Das umfasst eine grosse Schnittmenge zwischen meinem Glaubensbekenntnis und meinem politischen Bekenntnis zur SP», sagt Hadorn. Nicht wenige Freikirchler sind eher der bürgerlichen Grundhaltung verpflichtet, der Freiheit des Marktes und dem Schaffen von persönlichem Wohlstand. Für Hadorn ist das weniger eine Glaubenshaltung als ein Vergessen der Werte, die Jesus gelehrt habe.
Die Parteizugehörigkeit ist gar nicht so wichtig für den SVP-Politiker Jean-Pierre Graber, der 2011 als Nationalrat abgewählt wurde und Anfang 2015 erneut nachrücken konnte. Entscheidend ist für ihn das Christsein. «In gewissen Fragen kann ich gut mit Politikern anderer Parteien zusammenarbeiten», sagt er. Trotz seiner «konservativen theologischen Haltung» vertrete er als Politiker eine liberale Position. «Auch die Stimmen von Agnostikern und Atheisten sollen zum Ausdruck kommen.»
Es erstaunt Graber nicht, dass überzeugte Christen in mehreren Parteien politisierten, schliesslich würden alle grossen Parteien christliche Werte vertreten: die CVP die Familie, die FDP die Freiheit, die SP die soziale Gerechtigkeit, die Grünen die Umwelt und die SVP die Heimat. «Ob es aber im Gotthard eine oder zwei Röhren für die Autos haben soll, hat mit dem Glauben nichts zu tun. Das ist eine rein politische Entscheidung.»
Dass Freikirchler von links bis rechts politisieren, ist für den Zürcher Politologen Michael Hermann ein klarer Hinweis darauf, dass der Glaube eine eigene Dimension ist. «Er kann nicht mit parteipolitischen Bekenntnissen gleichgesetzt werden.» Dennoch komme es bei gewissen Themen zu überraschenden Koalitionen. «Für den Schutz des ungeborenen Lebens setzen sich alle Freikirchler ein.» Umgekehrt unterstützt SVP-Politiker Erich von Siebenthal den Ausstieg aus der Atomenergie – gegen die Parteidoktrin.
Grossen politischen Einfluss hätten die Freikirchen aber ohnehin nicht, meint Hermann. «Die Hoffnung, dass eine konservative Wende in der Bevölkerung ihnen Auftrieb geben könnte, hat sich zerschlagen.» Gerade bei ihrem Kampf gegen die Öffnung der Ehe für Homosexuelle seien die Freikirchen in der Defensive. «Hier geht der Trend klar in die andere Richtung.»
Auch SP-Politiker Nussbaumer kann mit dem Anspruch von Freikirchen auf politischen Einfluss nichts anfangen. Er wehrt sich gegen die Schubladisierung und meint: «Ich bin ein liberaler Frommer.» Nussbaumer geht auch auf Distanz zu Aktionen wie «Gebet für die Schweiz», die das Ziel haben, das politische Leben religiös zu durchdringen. Für Erich von Siebenthal, SVP, ist sein politischer Weg dagegen Gottes Plan. «Ich habe mir nie vorgestellt, Nationalrat zu werden. Gott hat mich hierhingestellt», sagt er.
Interessenbindung des Autors: Matthias Herren ist ehemaliger reformierter Pfarrer und freischaffender Journalist.