Eine Marke verliert ihren Wert
Der Niedergang des Kinderhilfswerks Pro Juventute scheint unaufhaltsam. Seit Jahren schreibt es Millionenverluste, und interne Konflikte belasten die Mitarbeiter. Nun spitzt sich die Krise zu: Die Stiftung soll ihren Zürcher Hauptsitz verkaufen.
Veröffentlicht am 19. September 2007 - 16:17 Uhr
Eigentlich hätte auf dem Berner Hausberg Gurten am letzten Wochenende ein unvergessliches Fest steigen sollen. Bescheidenheit war nicht angesagt: Unter dem Patronat von Bundesrat Pascal Couchepin sollte «das grösste Festival für Kinder und Jugendliche in der Schweiz» über die Bühne gehen. Die Stiftung Pro Juventute rechnete mit 20'000 Besuchern. Doch es blieb still auf dem Gurten: keine Kinderbühne, keine Kinderwelten - die Stiftung fand für den Anlass keine Geldgeber.
Der Flop ist symptomatisch für Pro Juventute, die seit Jahren keinen Ausweg aus ihrer Krise findet. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Zum sechsten Mal in Folge schliesst die Stiftung ihr Geschäftsjahr mit einem Millionenverlust ab. Diesmal sind es 1,8 Millionen Franken. Jetzt soll das Tafelsilber verscherbelt werden: Der Stiftungsrat gab grünes Licht, das Gebäude des Hauptsitzes an der Zürcher Seehofstrasse zu verkaufen. Geschätzter Wert: zwischen 30 und 40 Millionen Franken.
«Freiwillige Helfer werden ausgebeutet»
Die Stiftung mit Zentrale in Zürich teilt sich landesweit in 187 Bezirke auf. Dort verkaufen Schulkinder und Freiwillige mit viel Aufwand, aber immer weniger Ertrag die Briefmarken mit dem Sozialzuschlag. Die einstige Haupteinnahmequelle ist in den letzten Jahren weitgehend versiegt: Heute werden nur noch rund halb so viele Marken verkauft wie 1999. Mit dem Erlös von noch knapp fünf Millionen Franken wird die Arbeit vor Ort finanziert - wie Beiträge an mittellose Familien oder an Ferienpässe für Kinder. Der Rest geht an den Hauptsitz.
«Es ist für die Freiwilligen unglaublich frustrierend, wenn die bezahlten Profis in der Zentrale die mühsam gesammelten Spendengelder mit einem völlig überdimensionierten Fest in den Sand setzen», sagt der Berner Armin Schmidt. Er engagierte sich wie 8000 andere jahrelang unbezahlt, sass während vier Jahren gar als Vertreter der Freiwilligen im Stiftungsrat. «Pro Juventute lebt auf Kosten der Freiwilligen in den Regionen. Diese werden ausgebeutet. Der Hauptsitz braucht sie, um Geld zu sammeln, nimmt ihre Anliegen aber nicht ernst», sagt Schmidt, der 2006 sein Amt nach 14 Jahren niederlegte.
Mit Flops Spendengelder verheizt
Als die Zentrale in ihrer finanziellen Not vor drei Jahren auf die Kassen der Aussenstellen zurückgreifen wollte, eskalierte der Streit, so etwa in St. Gallen. «Die Zentrale wollte uns die finanzielle Kontrolle entziehen, aber die Verantwortung belassen», sagt Clemens Müller, ehemaliger Präsident des örtlichen Bezirksrats. Die Freiwilligen wollten sich diese Bevormundung nicht gefallen lassen, doch bissen sie bei Josiane Grandjean auf Granit. Grandjean war damals «Leiterin Regionen», inzwischen hat sie zusätzlich auch noch den Chefposten übernommen. «Sie signalisierte, dass sie nicht bereit war, uns entgegenzukommen, um uns zu behalten», sagt Müller. Der St. Galler Bezirksrat trat 2005 schliesslich geschlossen zurück.
Vom Beobachter mit den Vorwürfen konfrontiert, lässt sich Josiane Grandjean, die amtierende Chefin von Pro Juventute, nicht aus der Ruhe bringen: «In St. Gallen haben wir problemlos neue Freiwillige gefunden.» Auch den Flop mit dem Festival auf dem Gurten spielt sie herunter. «Es gehört zum Risiko des Tagesgeschäfts, dass ein solches Projekt keine Sponsoren findet», sagt sie. Wie viel Spendengelder es verschlungen hat, gibt sie aber nicht preis.
Gescheitert ist die Stiftung auch mit tschau.ch, der Internetberatung für Jugendliche. Pro Juventute betrieb die von Fachleuten hochgelobte und mit Preisen ausgezeichnete Plattform im Auftrag der Gesundheitsförderung Schweiz und des Bundesamts für Gesundheit. Diese entzogen dem Hilfswerk nun den Auftrag zum Betreiben des Vorzeigeprojekts. Seit Juli hat der Berner Verein Infoclick das Beratungsangebot übernommen.
Ein externer Bericht der Basler Beratungsfirma Advocacy AG, der dem Beobachter vorliegt, kommt zum Schluss, dass zwischen Pro Juventute und den Auftraggebern «keine ausreichende Basis besteht, um strategische Fragen gemeinsam zu diskutieren». In den drei Jahren, in welchen Pro Juventute für tschau.ch verantwortlich zeichnete, «wurde der Fokus auf die minimale Sicherstellung des Betriebs gelegt». Im Klartext: Alles, was über das Tagesgeschäft hinausging, vernachlässigte die Stiftung sträflich. Schuld daran waren laut dem Bericht mehrfache Personalwechsel in der Projektleitung bei Pro Juventute.
Keiner bleibt länger als zwei Jahre
Auch im obersten Kader gab man sich die Klinke in die Hand: Allein in der fünfköpfigen Geschäftsleitung kam es in den letzten dreieinhalb Jahren zu acht Wechseln. Keines der derzeitigen Geschäftsleitungsmitglieder ist länger als zwei Jahre im Amt. Josiane Grandjean hat den Chefposten erst im Februar 2006 zusätzlich zur Leitung der Regionen übernommen. Ihre Vorgänger - Peter Mousson aus der Baubranche und die Sprachwissenschaftlerin Brigitte Zünd - waren nicht länger als zwei Jahre im Amt. Die fehlende Kontinuität kritisiert selbst der ehemalige Vizepräsident des Pro-Juventute-Stiftungsrats, Joseph Eigenmann: «Die vielen Personalwechsel haben die Organisation geschwächt.»
Oberste Verantwortliche für die Personalpolitik und die Strategie der Pro Juventute ist seit elf Jahren Stiftungsratspräsidentin Christine Beerli. In ihrer zwölfjährigen Amtszeit als Berner FDP-Ständerätin reichte sie einen einzigen Vorstoss zur Familienpolitik ein. Sie betont, Pro Juventute habe sich komplett reorganisiert und sei nun eine schlanke Organisation. «Schwarze Zahlen zu schreiben ist nicht unser vordringlichstes Ziel. Wir wollen vielmehr das Geld möglichst direkt Kindern und Jugendlichen zugute kommen lassen. Daher haben wir ins Auge gefasst, die Liegenschaft des Hauptsitzes zu verkaufen», sagt Beerli.
Der grosse Kahlschlag
Um das sinkende Schiff vor dem Untergang zu retten, musste Pro Juventute in den letzten fünf Jahren neben tschau.ch zahlreiche weitere Projekte einstellen:
- Der Verlag Pro Juventute/Atlantis wird 2003 an Orell Füssli verkauft.
- Von den begleiteten Besuchstagen für Kinder geschiedener Eltern zieht sich die Stiftung ab 2003 schrittweise zurück.
- Das Projekt zur Prävention von Gewalt und Suizid «jung & stark» wird 2004 eingestellt.
- Die Drogenrehabilitation in Zürich und in der Toskana wird 2004 aufgegeben.
- Das Familiendorf «Bosco della Bella» im Tessin wird 2006 verkauft.
- Der Lehrgang Spielraumberatung wird 2006 an die Hochschule für Soziale Arbeit abgegeben.
- Die Beratungsstelle für Tagesfamilien wird 2006 aufgehoben.
- Im August 2007 sagen sich drei Regionen der sozialpädagogischen Familienbegleiterinnen von Pro Juventute los und gründen eine eigene Firma. Die übrigen sollen bald folgen. Damit verliert die Stiftung eines ihrer letzten Standbeine.
«Es tut weh, mitansehen zu müssen, wie Pro Juventute langsam in der Bedeutungslosigkeit versinkt», findet Philipp Oechsli, ehemaliger langjähriger Kadermitarbeiter. «Und niemanden scheint dies zu kümmern.» Tatsächlich gibt sich Chefin Grandjean betont gelassen: «Wir sind vom Gemischtwarenladen weggekommen und fokussieren jetzt auf weniger Dienstleistungen, die aber direkt Kindern und Jugendlichen zugute kommen.»
So gibt es gerade noch zwei nennenswerte nationale Projekte im Angebot: die erfolgreichen Elternbriefe mit Ratschlägen für frischgebackene Eltern und die Telefonhilfe 147 für Kinder und Jugendliche. Doch hier operierte die Stiftung lange mit geschönten Statistiken: Anstelle der geführten Beratungsgespräche veröffentlichte sie die Zahl der Anrufe insgesamt und kam so auf sagenhafte 165'000 für das Jahr 2004 - mit steigender Tendenz. Erst seit kurzem legt Pro Juventute offen, dass lediglich ein Bruchteil der Anrufe, im laufenden Geschäftsjahr 22 Prozent, zu einem Beratungsgespräch führen. Der Rest sind Juxanrufe und Anrufer, die schweigen. Total zählte die Stiftung im letzten Geschäftsjahr 55'000 Beratungsgespräche. Trotz wachsender Beteiligung der öffentlichen Hand blieb bei Telefon 147 ein Verlust von über 800'000 Franken.
Für die Anliegen von Kindern und Jugendlichen ist der Niedergang der Stiftung verheerend. Schon vor Jahren hat diese die politische Abteilung geschlossen und beschränkt sich weitgehend auf Stellungnahmen bei Vernehmlassungsverfahren. SP-Nationalrätin und Familienpolitikerin Jacqueline Fehr ärgert sich: «Was sich Pro Juventute leistet, ist ein Trauerspiel. Es ist unglaublich, dass die einzige grosse Organisation für Kinder und Jugendliche politisch durch Abwesenheit glänzt und auch bei den Dienstleistungen nur abbaut.»
Für den ehemaligen Stiftungsrat und Genfer FDP-Nationalrat Peter Tschopp hat die Führung versagt: «Der Stiftungsrat hat viel Geld in Reorganisationen investiert, statt sich die grundlegende Frage zu stellen, ob es Pro Juventute in dieser Form heute noch braucht.» Für den Wirtschaftsprofessor ist klar: Wenn die Stiftung überleben soll, dann nur mit Leistungsverträgen der öffentlichen Hand statt mit Spendengeldern. «Pro Juventute hat mit einem kolossal aufgeblähten Hauptsitz viel zu lange auf Pump gelebt, statt sich zu sanieren. In ihrer althergebrachten Form wird die Stiftung kaum überleben.»