Psychiatrie: Diskriminierung mit System
Überlastete Kliniken, Ärztemangel, schikanöse Krankenkassen, knausrige Kantone: Psychisch kranke Menschen werden zu Patienten zweiter Klasse.
Veröffentlicht am 31. Januar 2003 - 00:00 Uhr
Woran denken Sie, wenn Sie «psychiatrische Klinik» lesen? Spinnwinde? Klapsmühle? Gummizelle?
Schön, wenn es nicht so ist. Doch diese Bilder sind nach wie vor weit verbreitet – womit psychisch kranke Menschen ebenso diskriminiert bleiben wie die ganze Psychiatrie. Neuerdings schrecken selbst Krankenkassen nicht vor dieser Haltung zurück: Helsana und CSS weigern sich plötzlich, psychiatrische Pflegeleistungen aus der Grundversicherung zu zahlen, wie sie es jahrelang taten.
Psychische Erkrankungen haben sich in den letzten 15 Jahren fast epidemisch ausgebreitet. Jeder vierte Patient beim Hausarzt zeigt Anzeichen von Depressionen, Angstzuständen oder Ess-Brech-Sucht. Jeder zweite Mensch in der Schweiz leidet mindestens einmal in seinem Leben an einer psychischen Krankheit. Der jährliche Umsatz mit Antidepressiva hat sich seit 1990 versiebenfacht.
Es kann jeden und jede treffen
Montagmorgen, Psychiatrische Klinik Wil SG. In der Ergotherapie sitzen fünf Personen konzentriert über ihren Arbeiten – gestalten ein Mandala, einen Brotkorb, eine Filzpuppe. Die Atmosphäre ist friedlich wie in einem Bastelkurs der Migros-Klubschule. Auf den Gängen wird freundlich gegrüsst. War das eine Betreuerin? «Nein, eine Patientin», klärt Bruno Facci, Leiter des Pflegedienstes.
Wer sich Klinikpatienten als verrückt oder verwahrlost vorstellt, bekräftigt Vorurteile, die weit von der Wirklichkeit entfernt sind: Es kann jeden und jede treffen. Wie Markus B., 42, Bankkaufmann. Erst verlor er seine Stelle, dann folgte die Scheidung. «Plötzlich war ich ohne Halt, begann zu trinken und liess meinen Aggressionen freien Lauf.» Schliesslich blieb nur der Gang in die Klinik. Jeder vierte Patient in Wil ist keine 30 Jahre alt, jeder zweite zwischen 30 und 60. Die Hälfte sind Männer.
Jeder zehnte Erwachsene, so lässt sich heute abschätzen, tritt zumindest einmal in seinem Leben in eine psychiatrische Klinik ein. Seit 1990 hat sich die Zahl der Aufnahmen fast verdreifacht: 50'000 bis 60'000 Menschen werden im Lauf eines Jahres stationär behandelt. Gut ein Drittel sind allerdings gegen ihren Willen dort; fürsorgerische Freiheitsentziehung heisst das in der Fachsprache.
Die 58 Kliniken in der Schweiz sind weitgehend ausgelastet – und die Angestellten chronisch überlastet. Viele beherbergen in Spitzenzeiten mehr Kranke, als offiziell Betten vorhanden sind. Das setzt einen verheerenden Kreislauf in Gang: Zahlreiche Patienten müssen zu früh entlassen werden, finden sich im Alltag nicht zurecht und landen wieder in der Klinik. Fast die Hälfte der Betroffenen geht diesen Weg, einige dutzendfach: Die «Drehtürpsychiatrie» hat sich zur «Propellerpsychiatrie» beschleunigt.
Der Ansturm auf die Kliniken wird anhalten, da sich heute wiederholt, was schon in den neunziger Jahren die Zahl der psychisch kranken Menschen massiv steigen liess: Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, erhöht den Druck, immer mehr leisten zu müssen. In der Folge steigen der Stresspegel und das Konkurrenzdenken.
Das Armenhaus der Medizin
Viele kommen nicht damit zurecht und bleiben auf der Strecke – die Psychiatrie wird mehr und mehr zur Abstellkammer der Leistungsgesellschaft. Ähnlich wie die Invalidenversicherung: In der Schweiz leben 75'000 Menschen, deren psychische Leiden eine IV-Rente nötig machen – dreimal so viel wie vor 15 Jahren. Mancher Arbeitgeber delegiert so die soziale Verantwortung an die Gemeinschaft.
Markus B. ist auf gutem Weg, den Alltag wieder zu meistern. Unterstützt wird er dabei von seiner Schwester und einem Freund aus der Jugendzeit. «Ohne die beiden würde ich den Rank nicht schaffen.» Heute ist ihm bewusst, wie wichtig ein soziales Netz ist. Über Jahre hinweg hatte er private Beziehungen der Karriere geopfert – und so die Familie verloren.
Fachleute betonen seit langem, dass soziale Integration der beste und billigste Gesundheitsschutz ist. Dem steht aber die Individualisierung der Gesellschaft entgegen. Mit fatalen Folgen: Wo das Ego zum Mass der Dinge wird, zerfällt der Gemeinschaftssinn. Die Bereitschaft, psychisch kranke Angehörige oder Freunde zu unterstützen, nimmt laufend ab.
Umso wichtiger wäre es, ausserhalb der Kliniken fachgerechte Betreuungsangebote zu haben. Doch überall klaffen Lücken, bei den Psychiatern genauso wie bei der psychiatrischen Spitex.
Im Kanton Uri zum Beispiel praktiziert kein einziger Psychiater, im Kanton Schwyz sind es nur drei und in Graubünden 20. Zum Vergleich: In diesen Kantonen gibt es mindestens viermal so viele Spezialisten für innere Medizin. Das ist auch ein Beleg dafür, wie schlecht die Psychiatrie innerhalb des Gesundheitswesens gestellt ist. Da sie weder teure Apparate noch aufwändige Operationsmethoden benötigt, ist sie schlicht zu wenig attraktiv für die Krankheitsindustrie. Die Psychiatrie ist das Armenhaus der Medizin.
Ein Psychiater mit eigener Praxis bringt es im schweizerischen Durchschnitt auf ein AHV-pflichtiges Jahreseinkommen von 125'000 Franken. Bei einer Frauenärztin sind es 285'000, bei einem Facharzt für innere Medizin 214'000 Franken. Drei von vier Psychiatern können sich kein Sekretariat leisten, die Hälfte putzt auch noch die eigene Praxis. Das Ansehen der Psychiater in der Ärzteschaft ist so gering wie das ihrer Patienten in der Gesellschaft.
Entsprechend schwierig ist es, Nachwuchs zu finden. Zwei von drei Assistenzärzten in den Kliniken stammen aus dem Ausland, ein Grossteil aus Deutschland. Doch dieses Reservoir erschöpft sich zusehends, weshalb auf fremdsprachige Länder ausgewichen werden muss – ein zusätzliches Handicap für eine Disziplin, in der das Gespräch oberstes Gebot ist.
Bizarre Vorgaben der Kassen
Zudem stehen die Kliniken und Psychiater unter massivem Druck der Krankenversicherer. Hanspeter Wengle, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Wil, schätzt, dass ein Assistenzarzt ein Drittel seiner Ausbildungszeit für Administratives einsetzen muss. Ausserdem sind die Vorgaben der Kassen bisweilen bizarr. Laut Maria Distel, Präsidentin des Vereins St. Galler Psychiaterinnen und Psychiater, stehen pro Patient und Jahr ganze 9,8 Behandlungsstunden zur Verfügung – also keine Stunde pro Monat. «Was darüber hinausgeht, muss aufwändig belegt werden.
Ganz anders sieht es aus bei Patienten mit körperlichen Gebrechen, zum Beispiel einem übergewichtigen Raucher mit Bluthochdruck und erhöhtem Blutfett: Er erhält von seiner Kasse jahrelang Medikamente vergütet, falls nötig die Behandlung eines ersten Herzinfarkts, dann eines zweiten und schliesslich eine aufwändige Bypass-Operation – Kostenpunkt rund 100'000 Franken. Und das alles, ohne dass sich sein Arzt je rechtfertigen muss.
Letzten Sommer legten Helsana und CSS, die beiden Branchengrössten, noch einen Zacken zu: Plötzlich weigerten sie sich, Leistungen von psychiatrischen Pflegefachpersonen zu übernehmen, die sie jahrelang aus der Grundversicherung bezahlt hatten. Angeblich waren die Rechnungsbeträge «explodiert». Gabi Rombach, eine der betroffenen Fachfrauen, wartet auf 40'000 Franken von der Helsana und muss von ihrem Ersparten leben.
Die Versicherer nutzten bei ihrem Rückzieher den Umstand, dass die gesetzliche Grundlage unklar ist. Doch das Muskelspiel der beiden Grosskassen bringt einmal mehr die Schwächsten in Not. Und der mögliche Spareffekt steht in krassem Missverhältnis zum möglichen Schaden: 2001 machten die Leistungen der psychiatrischen Pflegefachpersonen nur einen Tausendstel aller Kosten aus, die die Helsana aus der Grundversicherung vergütete.
Auch Markus B. hoffte, nach dem Klinikaustritt von einer Fachperson unterstützt zu werden. «Ich war überfordert und wusste nicht, wie ich meinen Tag einteilen sollte.» Doch die Rückfrage bei seiner Kasse ergab, dass sie nur einen kleinen Teil der Kosten decken würde. Deshalb nahm seine Schwester unbezahlten Urlaub und half ihm, sich im Alltag zurechtzufinden.
Sparen hat groteske Folgen
Wie viel die Versicherer künftig zu zahlen haben, mag auch das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) nicht klären. «Das Problem lässt sich nur über Gerichtsentscheide lösen», sagt Vizedirektor Fritz Britt. Genau das wollen Betroffene nun im Kanton Thurgau erreichen.
Für die meisten Klinikpatienten bedeutet diese neuerliche Diskriminierung: Sie müssen auf ambulante Pflegedienste verzichten. Denn erstens ist zu befürchten, dass sich auch andere Versicherer weigern werden, die Leistungen abzugelten. Und zweitens, so zeigt die Erfahrung, fehlt vielen Patienten das Geld, um das Angebot aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Also bleiben sie lieber in der Klinik, wo die Kassen verpflichtet sind, die weit teurere Behandlung zu übernehmen.
«Uns ist bewusst, dass die ambulante Betreuung günstiger ist und für die Betroffenen persönlicher als der Aufenthalt in einer Klinik», räumt Helsana-Sprecher Christian Beusch ein. «Es kann aber nicht sein, dass die Kantone einmal mehr auf Kosten der Prämienzahler sparen.» Für Patienten in psychiatrischen Kliniken zahlen die Kantone rund die Hälfte der Kosten mit Steuergeldern; den Rest begleichen die Kassen aus den Prämien. Bei ambulanten Arzt- und Pflegeleistungen hingegen müssen die Kassen den ganzen Betrag übernehmen. Also bevorzugen sie den Klinikaufenthalt – mit grotesken Folgen: Jeder dritte Klinikpatient, sind sich die Fachleute einig, gehört nicht dorthin.
Zudem arbeitet die Psychiatrie seit Jahrzehnten darauf hin, die Kranken nicht in Kliniken wegzusperren, sondern im vertrauten Umfeld zu behandeln. Folgerichtig bauten die Kantone laufend Klinikbetten ab. Nur haben sie es verschlafen, als Ersatz dafür ambulante Angebote zu schaffen und zu finanzieren. Und heute, nach einer Welle von Steuersenkungen, fehlt das Geld – also sollen die Kassen zahlen.
Diskriminierung wird andauern
Dieses unwürdige Hin und Her lässt nur den einen Schluss zu: An der systematischen Diskriminierung psychisch kranker Menschen wird sich in nächster Zukunft ebenso wenig ändern wie an den belastenden Arbeitsbedingungen von Psychiatern und Pflegepersonen.
Gefordert wäre jetzt die Politik. Doch ein erstes Signal lässt kaum hoffen. Als der Beobachter den St. Galler CVP-Ständerat Eugen David, einen der wichtigsten Gesundheits- und Sozialpolitiker im Lande, um ein Interview bat, winkte er ab: Er sei mit der Psychiatrie in der Schweiz nicht näher vertraut und daher kein geeigneter Gesprächspartner, teilte er in einer E-Mail mit. Der Bescheid erstaunt: David ist auch Verwaltungsratspräsident der Helsana.