Es ist der 17. August 2006, kurz vor 16.30 Uhr. Leichter Nieselregen setzt ein. Matthew Brown, 11, freut sich auf die Fahrt mit der Sommerrodelbahn «Feeblitz» in Saas Fee. Der Werbeprospekt der Bahn verspricht «Adrenalin pur auf der höchsten Achterbahn der Alpen» sowie «Schanzenkurven und einen 360-Grad-Kreisel». Dies bei Geschwindigkeiten von über 40 Kilometern pro Stunde.

Rund eine halbe Million Fahrten hat die Bahn bis zu diesem Zeitpunkt verzeichnet. Matthew ist der nächste Rodler. Mit einem simplen Beckengurt ist er auf dem schienengeführten Schlitten gesichert. Direkt hinter ihm startet seine Schwester die rasante Fahrt.

Blutspuren zeigen später, dass der Junge kurz nach dem Kreisel mit dem Kopf an einer Beleuchtungsstange der Bahn aufschlägt. Bewusstlos hängt er danach seitlich aus dem Rodel und liegt auf den Bremsen, die darum den Rodel nicht automatisch stoppen. Matthew wird noch über 150 Meter mitgeschleift, prallt gegen Holzplanken und das Gerüst der Bahn. Bis er unter dem Gurt herausrutscht und einen Meter tief in die Wiese fällt.

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Die Ferien von Familie Brown, aus dem englischen Stockport bei Manchester angereist, nehmen ein traumatisches Ende: Matthew Brown erliegt einen Tag nach dem Unfall im Berner Inselspital seinen Verletzungen. Gleichentags erscheinen in Saas Fee ein Richter des Untersuchungsrichteramts Oberwallis sowie ein Polizist aus Visp. Der Polizist macht mit dem Unfallrodel eine Testfahrt. Sein Befund, den er im Polizeibericht festhält: «Die Bremsen des Schlittens funktionierten einwandfrei. (...) Ebenfalls der Beckengurt gab zu keinerlei Beanstandungen Anlass.»

Das genügt offenbar: Gegen Mittag wird die Bahn, einen halben Tag nach dem tödlichen Unfall, für den Betrieb wieder freigegeben. Obwohl niemand vor Ort weiss, wie sich der Unfall zugetragen hat. Und obwohl kein einziger Sicherheitsexperte die Bahn unter die Lupe genommen hat. Die Behörden ermitteln zwar, aber dürftig. Die Staatsanwaltschaft sowie das Untersuchungsrichteramt Oberwallis verzichten auf eine strafrechtliche Untersuchung. Ihr Fazit: Weder Hersteller noch Betreiber der Bahn seien strafrechtlich zu belangen. Matthews Vater dagegen engagiert einen Schweizer Anwalt und legt Rekurs ein. Mit Erfolg: Die Beschwerdeinstanz des Walliser Kantonsgerichts gibt Brown am 5. November 2007 recht und verpflichtet das Untersuchungsrichteramt, den Unfall nochmals seriös zu prüfen.

Ein Bericht voller Vermutungen

Gerichtsakten, die dem Beobachter vorliegen, zeigen: Es wurde schlampig untersucht. So tauchte nach dem Unfall just Reto Canale von der Prüfstelle des Interkantonalen Konkordats für Seilbahnen und Skilifte (IKSS) bei der Bahn auf. Die privatrechtliche, von den Kantonen beauftragte und überwachte Firma kontrolliert die 23 Schweizer Sommerrodelbahnen und garantiert deren Sicherheit. Ist da im Fall eines tödlichen Unfalls die Unabhängigkeit gewährleistet, wenn die IKSS quasi sich selbst untersucht? «Wir stehen Kantonen für ausserordentliche Untersuchungen zur Verfügung. Die Betriebsbewilligung erteilen die Kantone», weicht IKSS-Kontrollstellenchef Canale aus.

Eine solche Selbstkontrolle sei unzulässig, findet jedoch der Oberwalliser Untersuchungsrichter Marcel Ritz. Er hatte der IKSS im Mai 2007 geschrieben, dass er mit einer Expertise «sicher nicht die IKSS», sondern «gegebenenfalls einen aussenstehenden neutralen Experten» beauftragt hätte. Doch was tut Ritz eineinhalb Monate später? Er benützt Canales IKSS-Bericht, um der strafrechtlichen Unfalluntersuchung einen Riegel zu schieben. Eine unabhängige Expertise gibt er nicht in Auftrag.

Was die IKSS nicht prüfte: das Fahrverhalten des Rodels bei Regen (es regnete bei Matthews Fahrt), Rutschigkeit der nassen Sitzfläche, Fliehkräfte und Geschwindigkeit des Rodels. Canale wiederum erklärt, er habe diese Punkte alle geprüft. In seinem Bericht ist dazu allerdings nichts zu lesen.

Canale beruft sich zudem darauf, dass die Anlage vom deutschen TÜV zugelassen sei. Durch bilaterale Übereinkommen ist die Schweiz verpflichtet, die in der EU geltenden Richtlinien für den Bau und den Betrieb von Sommerrodelbahnen zu übernehmen. Diese sind vom TÜV und Herstellern von Rodelbahnen verfasst. Anforderungen für Gurtenvorrichtungen sind keine definiert.

Doch just das wäre nötig. So kam die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) nach Tests, die aufgrund eines anderen Rodelunfalls gemacht wurden, zum Schluss: Wegen der Fliehkräfte garantiert auf schienengeführten Rodelbahnen nur ein 3-Punkt- oder 4-Punkt-Gurt die Sicherheit des Fahrers. Ein solcher fixiert wie in einem Auto Schultern und Brustkorb des Fahrers. «Ein Beckengurt ist grundsätzlich ungenügend. Bei seitlichen Kippbewegungen nützt er so gut wie nichts, man verliert schnell das Gleichgewicht», sagt der Empa-Ingenieur und zertifizierte Gerichtsexperte Gabor Piskoty.

Das Problem mit den Fliehkräften

Bahnbetreiber Karl Imseng entfernte in Saas Fee wenige Wochen nach dem Unfall die Beckengurten und rüstete die Schlitten mit sichereren 3-Punkt-Gurten aus. Er habe dies «freiwillig» getan, sagt Imseng. Auch Rodelbahnhersteller Josef Wiegand wiegelt ab: «Diese Verbesserungen stehen in keinem Zusammenhang mit der Unfallursache von Matthew. Wir haben keine Probleme mit Fliehkräften, die von Gurten abgefangen werden müssten.»

Der Junge habe «bewusst die linke Hand losgelassen und sich nach rechts gelehnt (...), um sich nach seiner Schwester umzusehen», schreibt Canale im zweifelhaften IKSS-Bericht. Seine furiose Schlussfolgerung: «Der Unfall ist somit einzig auf das Fehlverhalten des Fahrgastes zurückzuführen.» Doch kein Zeuge bestätigt dies. Der IKSS-Bericht basiere «auf Vermutungen», urteilt denn auch die nächsthöhere Instanz, das Walliser Kantonsgericht. Der Bericht sei «nicht rechtsgenüglich».

Reto Canale weist die Kritik zurück: «Die Gesetze sehen nicht vor, dass wir bei einer Bahn eingehende Tests machen, ohne dass die Behörden uns beauftragen.» Weil ein Verfahren laufe, könne er darüber hinaus zum Fall nicht Stellung nehmen.

Fest steht: Sechsjährige Kinder und ihre Eltern tragen die Verantwortung beim Rodeln selbst, so will es das Gesetz. Denn die Bahnen gelten als Sport-, nicht jedoch als Vergnügungsgeräte wie auf einer Chilbi, wo die Regelungen strenger sind. Wie heisst es im Prospekt des «Feeblitz»: «Achterbahn der Alpen»! Würde dies zutreffen, müsste die Bahn wegen mangelhafter Sicherheitssysteme sofort geschlossen werden. Im Fall von Matthew läuft seit Ende 2007 eine Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung.

Rodelbahnen: Vielerorts bleibt die Sicherheit auf der Strecke

Von den 23 Sommer-Rodelbahnen in der Schweiz funktionieren 16 mit einer Rinne: Für sie wäre laut der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) wegen der Gefahr von Auffahrunfällen zumindest ein Beckengurt sinnvoll. Rillenbahnen fangen Fliehkräfte wie bei einer Bobbahn besser ab als schienengeführte, bei denen ein 3-Punkt- oder ein 4-Punkt-Gurt Voraussetzung ist, um die Sicherheit des Fahrers zu garantieren. 7 der 23 Bahnen fahren auf Schienen, davon sind drei ungenügend nur mit Beckengurten gesichert: die Appenzeller Kronberg-Bahn in Gonten AI, die Heimwehfluh-Rodelbahn in Interlaken BE sowie die Erlebnisbahn Pradaschier in Churwalden GR. Im Jahr 2000 fiel dort eine 71-jährige Frau aus dem Schlitten und starb. Wie beim tödlichen Unfall in Saas Fee hiess es auch dort, die Fahrerin sei selber schuld.

Ungenügend:
Auf diesen schienengeführten Rodelbahnen sind Fahrer nur mit einem Beckengurt gesichert:

  • Kronberg-Bahn in Gonten AI
  • Heimwehfluh-Rodelbahn in Interlaken BE
  • Erlebnisbahn Pradaschier in Churwalden GR