Dienstagmorgen kurz nach neun Uhr bei einer Quartierschule in der Stadt Zürich: Von allen Seiten strömen Kinder auf den Pausenplatz. Die einen sind mit dem Velo da, andere werden von ihren Eltern mit dem Auto gebracht – die meisten aber kommen zu Fuss. Auch der achtjährige Kuvet ist unterwegs zur Schule. Der Erstklässler ist stolz auf seine neuste Errungenschaft: ein modisches Kickboard.

Unweit des Schulhauses passiert, wovon sich Eltern in ihren Vorstellungen häufig fürchten, was man aber doch nur in Gangsterfilmen und Kriminalromanen für möglich hält: Kuvet wird von einem fremden Mann gepackt, vom Trottoir zu einem Auto gezerrt und in den Kofferraum gesperrt. Noch am selben Tag fordern die Entführer von Kuvets Vater, einem vermögenden Geschäftsmann, ein Lösegeld von 1,2 Millionen Franken. Nach einer bangen Woche gelingt es der Polizei, Kuvet zu befreien und die Kidnapper zu verhaften.

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Der Vorfall sorgte landesweit für Aufsehen und Verunsicherung. Viele Eltern begannen sich Sorgen zu machen um die Sicherheit ihrer Schützlinge auf dem täglichen Weg ins Klassenzimmer, obwohl die Behörden versuchten, die Ängste zu zerstreuen.

Die «für Zürich erstmalige Tat» sei ein Ausnahmefall, hielt die Polizei im «Tages-Anzeiger» fest, die Entführung sei «raffiniert und professionell geplant worden» und habe direkt auf Kuvet gezielt; andere Kinder seien nicht gefährdet gewesen. Die Entführer hätten sich über die Familie, den Stundenplan und den Schulweg genaustens informiert. Eine Zeugin behauptete sogar, Kuvet sei auf dem Schulweg ein Jahr lang von einem Mann beobachtet worden und habe aus diesem Grund immer wieder neue Routen gewählt.

Risikofaktor Schulweg
Diese Aussagen vermochten die Eltern von Kuvets Schulkameraden kaum zu beruhigen: Während Wochen liessen Mütter ihre Kinder nicht mehr allein zur Schule gehen und organisierten einen Autodienst. Besorgt äusserte sich eine Mutter gegenüber dem «Tages-Anzeiger»: «Es ist doch jeden Tag eine Frage des Gottvertrauens, die Kinder allein zur Schule zu schicken.»

Inzwischen hat sich die Situation entspannt: Die Kinder schlendern wieder unbelastet zum Unterricht – Kuvet selber hat die Schule gewechselt. Dennoch wirft die dramatische Entführung viele Fragen auf, die über den Vorfall hinaus aktuell sind: Wie sicher sind die Schulwege unserer Kinder? Was können Eltern und Behörden unternehmen, um Schulrouten, Pausenplätze und die Umgebung von Schulhäusern sicherer zu machen?

Die grösste und alltäglichste Gefährdung von Schulkindern geht nicht etwa von Entführern und andern Gewaltverbrechern aus, sondern vom Verkehr. Jeden Tag werden auf Schweizer Strassen sieben Kinder unter 14 Jahren verletzt oder sogar getötet. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, denn viele leichtere Unfälle werden gar nicht gemeldet. Rapportiert werden über 2500 Unfälle und 30 Todesfälle – davon ereignen sich 40 Prozent auf dem Schulweg. Besonders gefährdet sind die Kleinsten, wie der Verband Fussverkehr Schweiz in einer Studie schreibt: «Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil haben die fünf- bis neunjährigen Kinder ein fünfmal grösseres Risiko, zu Fuss zu verunfallen, als eine erwachsene Person.»

Sicherheit bleibt auf der Strecke
Die Gründe liegen vor allem in unserer auf Mobilität fixierten Gesellschaft: Immer häufiger durchschneiden stark befahrene Strassen die Wohn- und Schulgebiete. Die meisten Kinderunfälle ereignen sich innerorts und auf Hauptstrassen. Fatal ist, dass Sicherheitsvorrichtungen für Fussgänger häufig fehlen: nicht genügend Zebrastreifen und Mittelinseln, riskante Lichtsignalanlagen mit gleichzeitiger Grünphase für Fussgänger und abbiegende Autos. Extrem gefährlich für Kinder sind zudem Fahrzeuge, die am Strassenrand oder auf dem Trottoir parkiert sind: Sie rauben den Kleinen die Sicht auf die Fahrbahn und nötigen sie, auf die Strasse auszuweichen.

Verbände wie Fussverkehr Schweiz, die Beratungsstelle für Unfallverhütung oder der Verkehrsclub der Schweiz setzen sich seit Jahren dafür ein, die Sicherheit auf dem Schulweg zu erhöhen. Sie bieten umfangreiches Informationsmaterial an, das für Kinder, Eltern und Schulbehörden viele Tipps enthält und meist gratis abgegeben wird.

Daneben nimmt sich auch die Polizei des Themas intensiv an: Verkehrserziehung ist vom Kindergarten bis zur Mittelstufe Teil jedes Lehrplans. Die Beamten besuchen Schulklassen und üben mit den Abc-Schützen korrektes Verhalten im Verkehr. Hier kommen nach Altersstufen abgestimmte Lehrmittel zum Einsatz. Manche Schule organisiert zudem einen Lotsendienst, um die Kinderschar in Stosszeiten sicher über den Zebrastreifen zu bringen.

Schulroute als Lernweg
Daniel Sauter, der seit zehn Jahren für den Verband Fussverkehr Schweiz arbeitet, möchte aber noch einen Schritt weiter gehen: Sein Ziel ist nicht bloss die unfallfreie, sondern die erlebnisreiche Schulroute. «Der Schulweg ist ein wichtiges Stück Lebensweg», sagt der Soziologe, «er ist für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes von grosser Bedeutung.» Wo das Elternhaus und der Stundenplan den Alltag streng strukturieren, bleibt vielen Kindern nur der Schulweg als Freiraum. Sie sind weg von zu Hause, aber nicht in der Schule – können sich also ungezwungen fühlen, mit Gleichaltrigen schwatzen, selbstständig Natur und Umwelt erfahren.

Viele Schülerinnen und Schüler lieben es, in Gruppen «Geheimwege» abzulaufen, andere machen mit ihren Freunden einen Umweg. «Der Schulweg ist zugleich Erlebnis-, Lern- und Sozialisationsweg», sagt Sauter; «die Kinder lernen wichtige Fähigkeiten, gewinnen an motorischer Beweglichkeit und Selbstständigkeit, verstehen Situationen richtig einzuschätzen.»

Sauter steht der Initiative vieler Eltern, die ihre Kinder selber in die Schule fahren oder von der Gemeinde einen Taxi- oder Lotsendienst verlangen, skeptisch gegenüber. «So sinken zwar die Unfallzahlen, aber die Schulwege werden damit nicht besser.» In seiner Studie «…weil die Autos so flitzen» führt er einen Massnahmenplan auf, wie Eltern und Gemeinden Schulwege erfolgreich und nachhaltig sichern können. Dabei empfiehlt Verkehrsspezialist Sauter, nicht nur Strassenkarten, Verkehrszählungen und Tempomessungen zu studieren, sondern vor allem auch die Schüler zu konsultieren. Denn für Sauter gibts keine Zweifel: «Die beste Form, um Gefahrenstellen zu erkennen, ist die Befragung der Schülerinnen und Schüler.»

Eltern können sich wehren
Liegt das Sicherheitskonzept – idealerweise in Zusammenarbeit mit Polizei, Verkehrsvereinigungen, Schule und interessierten Gruppen entstanden – einmal auf dem Tisch, können Eltern die Behörden in die Pflicht nehmen: Die Sicherung der Schulwege gehört zur Aufgaben jeder Gemeinde. «Die Initiative muss jedoch häufig von den Eltern ausgehen», weiss Daniel Sauter, «denn sie nehmen die Gefahren für ihre Kinder bewusster wahr.»

Robert Steinegger, juristischer Sekretär beim Volksschulamt Zürich, hat regelmässig mit Schulwegsicherung zu tun. In seinem Büro landen Rekurse von Eltern, die der Meinung sind, die Schulwege ihrer Kinder seien «nicht zumutbar». Ein wichtiges Kriterium ist die Weglänge: Wo die Distanz weder zu Fuss noch per Fahrrad bewältigt werden kann, wird die Gemeinde auf ihre Kosten einen Transport organisieren müssen. Doch die Frage, was als zumutbar gilt, ist meist umstritten und muss im Einzelfall mit Hilfe von Experten abgeklärt werden. Auch die Art des Transportmittels sorge gelegentlich für Auseinandersetzungen, sagt Steinegger: «Eine Schule kann nicht verbieten, dass die Kinder mit dem Velo oder mit dem Töffli kommen. Das ist Sache der Eltern.»

Das Sicherheitsgefühl auf dem Schulweg ist ebenfalls regelmässig Gegenstand von Diskussionen. Muss etwa ein Kind abgelegene Wege oder dunkle Unterführungen benützen, können die Eltern bei der Schulbehörde anklopfen. Robert Steinegger: «Wir behandelten einen Fall, wo die Eltern während der Wintermonate Angst hatten, ihr Kind allein zur Schule gehen zu lassen. Wegen der frühen Dunkelheit gab es auf dem Weg einen gefährlich scheinenden Abschnitt. Wir einigten uns mit den Eltern, dass der Schüler von November bis Februar auf Kosten der Schule den öffentlichen Bus benutzen darf.»

Schüler erpresste 10'000 Franken
Doch selbst wenn ein Kind den Weg zur Schule findet, ohne überfahren oder überfallen zu werden, sind damit nicht alle Risiken eliminiert. Vor allem in Städten und Agglomerationen geht von der Schule ein Gefahrenpotenzial aus: Schüler erpressen oder berauben Kameraden, Schwache werden verprügelt, Lehrkräfte und Eltern bedroht. «Gewalt ist in unseren Schulen ohne Zweifel vorhanden», sagt Klaus Rohner, Chef des Jugenddienstes der Stadtpolizei Zürich. Sein Amt registriert jährlich rund 30 «gravierende Vorfälle» unter den 25'000 Schülerinnen und Schülern der städtischen Volksschule.

Ehemalige Schüler, die sich an einem verhassten Lehrer rächen wollen; ein Jugendlicher, der im Werkunterricht mit der Säge auf die Lehrerin losgeht: Gemäss Rohner haben viele Gewalttaten ein Ausmass angenommen, das über «der normalen Bubenrauferei» liegt und die Polizei zum Einschreiten zwingt. Der Polizist schildert einen besonders spektakulären Fall: «Ein 15-jähriger Schüler erpresste seine Mitschüler zu Geldzahlungen. Wer nicht zahlte, wurde verprügelt. Das lief fast ein Jahr lang so, bis eines der Opfer endlich Anzeige erstattete. Wir stellten fest, dass der junge Täter auf diese Art insgesamt rund 10'000 Franken erbeuten konnte.»

Polizei und Behörden schreiten ein
1999 starteten Polizei und Schulämter die landesweite Kampagne «Gemeinsam gegen Gewalt», um Aggressionen in der Schule abzubauen. Hierzu sind bei jedem Polizeiposten oder bei jeder Schulverwaltung gratis Broschüren und weitere Dokumente erhältlich. Es gab Informationsabende, an denen sich Eltern, Lehrer, Polizei und Schulbehörden aussprechen konnten. Auch die Kinder wurden sensibilisiert; so baute die Lehrerschaft Informationen und Gespräche über Gewalt in den Unterricht ein.

Das gilt auch für den neusten Trend unter den Abc-Schützen: Nach Handy und Kickboard finden so genannte Soft Air Guns immer mehr Verbreitung unter den Kids – Spielzeugpistolen, die echten Waffen zum Verwechseln ähnlich sehen. Die Schulbehörden haben rasch reagiert: Kürzlich wurden in den Zürcher Schulhäusern Verbotsplakate aufgehängt, zudem erhielten die Eltern einen Brief zugestellt mit der Aufforderung, den Nachwuchs künftig doch bitte ohne Plastikrevolver zur Schule zu schicken.

Verbale und körperliche Gewalt von Seiten der eigenen Mitschüler – was kann man dagegen tun? Gildo Biasio, Schulpräsident in Zürich Schwamendingen, setzt zunächst auf die Karte Prävention: «Wir sprechen mit unseren Schülerinnen und Schülern über Gewalt, zudem machen immer mehrere Lehrkräfte Pausenaufsicht. Wenn trotzdem etwas passiert, zum Beispiel auch nach dem Unterricht, informieren wir die Eltern.»

Bei gravierenden Fällen aber, so Jugenddienst-Chef Klaus Rohner, helfe meist nur noch jenes Mittel, vor dem sich viele Eltern fürchten: eine Anzeige. «Es ist auf jeden Fall besser», sagt Rohner, «Gewalt nicht einfach hinzunehmen – und gleich den Anfängen zu wehren.»