Dutzende von Schweizer Patienten fahren hier jedes Jahr vor: Die Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Tübingen, eine gute Autostunde nördlich von Schaffhausen, ist spezialisiert auf das Akustikusneurinom. Das ist ein heimtückischer Tumor im Gehörgang und so selten, dass es nur eine von 100'000 Personen befällt. Die deutsche Klinik ist europaweit bekannt, und ihr guter Ruf kommt nicht von ungefähr. Unter der Leitung des Neurologen Marcos Tatagiba hat sie sich als Kompetenzzentrum für Akustikusneurinome positioniert, operiert Patienten aus allen Ecken des Kontinents, in der Regel mehrere pro Woche. Zum Vergleich: In der Schweiz kommen pro Jahr gerade einmal 30 bis 40 Akustikusneurinom-Erkrankte auf den Operationstisch, verteilt auf das Universitätsspital Zürich, das Berner Inselspital und die Kantonsspitäler in Chur, Luzern und St. Gallen. Pro Spital macht das eine Operation alle zwei Monate.

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Logisch, dass viele Schweizer Akustikusneurinom-Patienten lieber in Tübingen behandelt werden wollen. Doch das kommt sie teuer zu stehen – eine Operation kostet rund 30'000 Franken. Mit Unterstützung durch ihre Krankenkasse dürfen die Schweizer nicht rechnen, denn die Grundversicherung muss nicht für Behandlungen im Ausland aufkommen, die keine Notfälle sind. Etwas einfacher ist es für Patienten mit Zusatzversicherung, doch auch hier liegen dem Beobachter Fälle vor, in denen sich Kassen weigern, sich an den Kosten zu beteiligen. Es herrscht ein eisernes Territorialitätsprinzip: Wer sich im Ausland behandeln lassen will, muss selber dafür aufkommen – auch wenn die Erfolgschancen höher sind als in der Schweiz und die Kosten erst noch niedriger. So schlägt die Akustikusneurinom-Operation, die in Tübingen 30'000 Franken kostet, in der Schweiz schnell mit gut 50'000 Franken zu Buche.

Im Fall Tübingen zeigt sich: Die Schweiz ist dabei, den Anschluss an den europäischen Gesundheitsraum zu verpassen. Nachdem der Europäische Gerichtshof bereits in mehreren Fällen erklärt hatte, der Begriff der Freizügigkeit schliesse auch die Gesundheitsversorgung mit ein, lockerten sich bei unseren Nachbarn die Landesgrenzen auch im Gesundheitswesen. Eine Richtlinie der EU-Kommission ermöglicht es Patienten, sich unkompliziert in einem anderen Land der Union behandeln zu lassen und die Kosten von der Krankenkasse oder den Gesundheitsbehörden ihres Landes rückerstattet zu bekommen.

«Es geht nicht um einen Blinddarm»

Als Effekt davon entwickeln sich einzelne Kliniken zu Kompetenzzentren für bestimmte Krankheiten und behandeln Patienten aus ganz Europa. «Es gibt eine Tendenz, dass Patienten für seltene Erkrankungen an Zentren geschickt werden, die über grössere Erfahrungen verfügen», sagt denn auch Marcos Tatagiba, ärztlicher Direktor der Universitätsklinik in Tübingen. «Man hat realisiert, dass ein unzureichend behandelter Patient auf Dauer mehr kostet als ein optimal behandelter.»

Nicht alle Spitäler sollen also jede noch so seltene Krankheit behandeln – nur einige wenige sollen sich auf sie konzentrieren, durch die so erzielten höheren Fallzahlen mehr Erfahrung gewinnen und damit eine bessere Versorgung garantieren. Das ist auch exakt die Forderung von Guido Fluri, Gründer der schweizerischen Interessengemeinschaft Akustikusneurinom (Igan). «Ich sage nicht, unsere Ärzte in der Schweiz seien weniger gut als jene an der Tübinger Uniklinik», sagt er. «Aber bei landesweit 30 bis 40 Operationen im Jahr haben sie doch überhaupt keine Chance, Erfahrungen zu sammeln.» Dabei sei praktische Erfahrung bei solchen Operationen unheimlich wichtig – «schliesslich handelt es sich nicht um einen entzündeten Blinddarm, sondern um einen Schädelbasistumor». Fluri sind mehrere Fälle bekannt, in denen sich Akustikusneurinom-Patienten, die sich in der Schweiz operieren liessen, ein zweites Mal unters Messer legen mussten, weil die Ärzte den Tumor beim ersten Mal nicht vollständig entfernen konnten. «Die Krankenkasse zahlt dann zweimal, insgesamt bis 100'000 Franken – statt 30'000 für eine einmalige Operation in Tübingen.»

Auch für den Gesundheitsökonomen Willy Oggier ist klar: «Das Territorialitätsprinzip für die Grundversicherung muss fallen. Wir müssen die Landesgrenze im Gesundheitssystem niederreissen, sonst erschweren wir Menschen mit seltenen Erkrankungen die bestmögliche Behandlung.» Wie beim Akustikusneurinom sei es etwa auch bei modernen Herzklappenersatz-Prozeduren nicht möglich, Patienten nach Deutschland zu schicken, obwohl die Fallzahlen in führenden Zentren höher und damit auch die Komplikationsraten bei Hochrisikopatienten niedriger sein dürften als in der Schweiz. Noch ein Beispiel: Obwohl sich in München ein Zentrum für Kinderherz-Transplantationen befindet, übernimmt die Grundversicherung keine Kosten für eine Operation.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sieht grundsätzlich zwar keinen Grund, das Territorialitätsprinzip aufzulockern oder gar aufzuheben, wie Sprecherin Miranda Dokkum erklärt. Dennoch hat der Bund in zwei Grenzgebieten Pilotprojekte bewilligt: Versicherte beider Basel können sich seit 2007 im deutschen Landkreis Lörrach behandeln lassen, seit 2008 steht es Versicherten aus dem Kanton St. Gallen frei, für Behandlungen das Landesspital Vaduz in Liechtenstein aufzusuchen. Im Raum Basel zeigt sich: Da es in der Region kaum Einrichtungen gibt, die orthopädische Rehabilitation anbieten, nutzen Schweizer rege die Angebote im benachbarten Deutschland. Beide Pilotprojekte hätten Ende 2009 auslaufen sollen, wurden aber bis 2014 verlängert, damit zusätzliche Daten gewonnen werden können.

«Hinausschiebe-Taktik wäre verheerend»

Gemäss BAG dienen die Pilotprojekte dazu, «genügend Grundlagen für einen Entscheid zu liefern, inwieweit das Territorialitätsprinzip in der Krankenversicherung definitiv gelockert und ins ordentliche Recht übernommen werden soll». Das klingt, als sei etwas in Bewegung. Dauert es also nicht mehr lange, bis die Grundversicherung Behandlungen im Ausland übernimmt? Experte Oggier bleibt skeptisch: «Der politische Wille dazu fehlt im Moment noch. Ich fürchte, die Pilotprojekte wurden verlängert, um Zeit zu gewinnen oder weil man zu wenig getan hat, um die Ziele zu erreichen.» Eine Hinausschiebe-Taktik könne sich aber verheerend auswirken, so Oggier. «Wenn wir zu lange warten, laufen wir Gefahr, uns völlig vom Gesundheitsraum abzukoppeln, der um uns herum entsteht.»