Vier Wochen später lag Alice B. im Bett eines ausserkantonalen Privatspitals – ohne Gebärmutter. Was die bevormundete, geistig leicht Behinderte nicht wusste: Die Diagnose war eine Finte des Arztes – in Absprache mit der Vormündin und der Sozialarbeiterin. Alice B. hatte gar keinen bösartigen Tumor im Unterleib. Die Entfernung der Gebärmutter diente einzig und allein dem Ziel, die damals 21-Jährige unfruchtbar zu machen.

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Der Grund für die drastische Massnahme: Alice B. und ihr Lebenspartner wollten heiraten. Anstatt mit dem geistig behinderten, jedoch urteilsfähigen Paar über Verhütung zu sprechen, wurden mit der Diagnose eventuelle Folgen intimer Zweisamkeit von vornherein ausgeschlossen. Besonders stossend: Die beiden lebten damals schon zusammen; die Empfängnisverhütung war für sie in dieser Zeit kein Problem.

Diese Zwangssterilisation ist – strafrechtlich betrachtet – eine Körperverletzung. Vormündin, Sozialarbeiterin und Arzt hatten das Selbstbestimmungsrecht ihrer Schutzbefohlenen krass missachtet. Auch einer geistig Behinderten steht das Recht zu, in ärztliche Untersuchungen, Behandlungen und Eingriffe einzuwilligen – oder diese Massnahmen abzulehnen. Verwerflich ist zudem, dass der Arzt der Frau eine schwere Krankheit vorgaukelte, nur um zum gewünschten Ziel zu kommen.

Eingriffe werden geheim gehalten
Alice B. ist kein Einzelfall. «Das wird mehr oder weniger häufig gemacht», sagt Jürg Gassmann, Geschäftsführer der Pro Mente Sana. «Da die Bezugspersonen von geistig Behinderten zusammenarbeiten, bleiben die Eingriffe meistens geheim.» Auch Ruedi Haltiner, Leiter der Fachstelle «Lebensräume für Menschen mit geistiger Behinderung», glaubt, dass es eine Dunkelziffer gibt: «Wir erhalten immer wieder Hinweise auf Sterilisationen, deren korrekter Ablauf zweifelhaft ist.»

Dass die Lüge im Fall von Alice B. überhaupt aufgedeckt werden konnte, ist einer Unachtsamkeit des Arztes zu verdanken. Der Allgemeinpraktiker diagnostizierte den nicht existierenden Krebs nämlich in einer einzigen Konsultation.

Das ist jedoch völlig unmöglich. Um die Bösartigkeit einer Wucherung bestimmen zu können, müssen Gewebeproben im Speziallabor analysiert werden. Bis Resultate vorliegen, können Tage vergehen.

Sozialarbeiterin blockt ab
Diese Ungereimtheit machte eine Bekannte von Alice B. stutzig. Ein Telefongespräch mit der Sozialarbeiterin verdichtete den Verdacht. Das gehe sie nichts an, wurde sie abgeputzt. «Die Frau liess sich auf meine Argumente gar nicht erst ein. Sie drohte mir sogar schriftlich, ich solle mich nicht einmischen.» Alice B.s Bekannte informierte den Vorgesetzten der Sozialarbeiterin über die Umstände der bereits terminierten Operation. Ohne Erfolg. Der Eingriff fand planmässig statt.

Eine Sterilisation stellt einen schweren Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen dar. Sie darf deshalb nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Betroffenen vorgenommen werden. Rechtsgültig zustimmen können jedoch nur urteilsfähige Personen – Patienten also, die die Operation in ihrer vollen Tragweite erfassen. Mit dieser Regelung schliesst das Gesetz solche Eingriffe bei nicht urteilsfähigen Menschen automatisch aus, denn Ausnahmebestimmungen gibt es nicht.Das bringt die Behörden in Bedrängnis.

Seit auch Menschen mit schweren geistigen Behinderungen das Ausleben von körperlicher Liebe zugestanden wird, ist ein absolutes Unterbindungsverbot nicht mehr zeitgemäss. Mangels eidgenössischer Neuregelung sehen sich deshalb die Kantone veranlasst, das Sterilisationsverbot auf kantonaler Ebene zu lockern.

Im Aargau zum Beispiel sind solche Eingriffe seit einiger Zeit erlaubt, «wenn zwei zustimmende fachärztliche Gutachten und die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters vorliegt». Im Kanton Freiburg arbeitet man ebenfalls an einer Gesetzesänderung.

Auch die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) stellt das Sterilisationsverbot in ihren medizinisch-ethischen Richtlinien in Frage. Es stamme aus dem Jahr 1981 und sei, so SAMW-Generalsekretärin Margrit Leuthold, «in seiner absoluten Form heute nicht mehr haltbar». Die Richtlinien werden zurzeit hinter verschlossenen Türen überarbeitet.

Gesetzliche Regelung ist nötig
Die Behindertenorganisationen stehen dieser Entwicklung jedoch sehr skeptisch gegenüber. «Die Frage der Sterilisation ist ein sozialpolitisches Problem und kann nicht allein mit medizinisch-ethischen Richtlinien entschieden werden», sagt Jürg Gassmann von der Pro Mente Sana. «Wir brauchen eine einheitliche Gesetzesregelung auf Bundesebene.»

Ansätze dafür sind vorhanden. Die Expertenkommission, die gegenwärtig das Vormundschaftsrecht revidiert, will auch Fragen rund um die Sterilisation diskutieren. Dabei soll die strenge deutsche Regelung in die Arbeit einbezogen werden. In Deutschland muss ein Sterilisationsentscheid bei Bevormundeten vom Vormundschaftsgericht überprüft werden.

Solche unmissverständliche Vorschriften hätten den Arzt, die Vormündin und die Sozialarbeiterin ihre gesetzwidrige Anmassung wohl zweimal überdenken lassen. Und die Chancen von Alice B. wären rapid gestiegen, einer Operation zu entgehen, die sie gar nicht wollte.