Seltsame Vorgänge in der Kantine der Strafanstalt Realta im bündnerischen Domleschg. Wie von Geisterhand weggezaubert, verschwinden nachts aus dem Kühlschrank Landjäger, Salsiz und Käse. Einer der rund hundert Anstaltsinsassen auf Landjägerklau? Fehlanzeige, denn nachts ist die Kantine verschlossen.

«Das können nur Angestellte sein», kombinierte der Insasse E. messerscharf. Er war im Kaffeedienst tätig und entdeckte erstmals 1995, wie Würste verschwanden. Seither kontrollierte er, was abends im Kühlschrank gelagert wurde. Teils handelte es sich um Essensreste vom Vortag, teils um Lunchrationen für die Waldgruppe.

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Eine Zeitlang behielt E. seine Entdeckungen für sich. Erst im Frühling 1996, als in einer Nacht über zwanzig Rauchwürste verschwanden, meldete er sich beim Stellvertreter des Ökonomiechefs. Dieser unterrichtete sofort seinen Vorgesetzten. Kurz darauf erfuhr auch Anstaltsdirektor Andrea Zinsli vom nächtlichen Lebensmittelklau.

Eine äusserst peinliche Sache, vor allem wenn öffentlich bekannt würde, dass diejenigen, die als Aufseher über verurteilte Langfinger wachen, plötzlich selber zur gleichen Zunft gehören. Was tun? Die Sache in einem Sofortrapport klären? Eine Disziplinaruntersuchung gegen alle möglichen Täter einleiten oder gleich die Polizei beiziehen?

Direktor Zinsli und der Ökonomieleiter beschlossen, auf eigene Faust Detektiv zu spielen. Sie kauften beim Metzger Landjäger ein und deponierten die Wurstwaren im Kühlschrank. Tatsächlich: Wenige Tage später war die Hälfte der Landjäger weg. Auch weitere Kontrollen endeten mit demselben Resultat. Besonders aktiv waren die Langfinger im Juni 1996: In einer einzigen Nacht verschwanden über zwanzig Salsize. Jetzt wusste Direktor Zinsli zwar, dass der Insasse E. keine Märchen erzählt hatte. Aber wer hielt sich in der Nacht am Kühlschrank schadlos? Das blieb weiterhin unbekannt. Die Knacknuss: Als Klauer kamen über ein Dutzend Leute in Frage, vor allem Aufseher des Innendiensts, aber auch solche des Aussendiensts, die manchmal Nachtwachen und Sonntagsdienste übernahmen.

Am 3. Juli 1996 reichte Direktor Andrea Zinsli bei der Kantonspolizei in Chur eine Diebstahlanzeige gegen Unbekannt ein. Die Kantonspolizei begann zu ermitteln - ohne Ergebnis. In der Anstalt hatten inzwischen mehrere Personen von den Ermittlungen erfahren. Der Druck wuchs, den Fall möglichst schnell und ohne Aufsehen abzuschliessen. Am 12. August 1996 gab Andrea Zinsli dem Verfahren eine ganz neue Dynamik. Er machte bei der Polizei eine zweite Anzeige, diesmal konkret gegen «tatverdächtige Personen». Ins Visier genommen wurden die Aufseher Fridolin Schiess und Gaudenz Thaller.

Das kommt nicht von ungefähr. Seit langem gibt es im Anstaltsteam des Innendiensts Spannungen. Misstrauen prägt das Klima. Thaller und Schiess gehören im verkrachten Team zur Minderheit der eher Unbequemen. Sie kritisierten den Führungsstil des Direktors und machten sich damit unbeliebt. Auch in den Arbeitspausen und über Mittag gingen sich die beiden Gruppen aus dem Weg. Die «Oppositionellen» trafen sich jeweils im Umkleide- und Aufenthaltsraum. Dieser ist mit einem Mikrowellenofen, einer Kaffeemaschine und einem Kühlschrank ausgestattet. Und ausgerechnet in diesem Kühlschrank lagerten immer wieder Landjäger, Salami und Käse. Private Esswaren? Oder solche, die tags zuvor aus der Kantine verschwunden waren?

Obwohl alle Aufseher täglich fürs Umkleiden in den Aufenthaltsraum kommen, wurden nach der zweiten Anzeige des Direktors nur die «Oppositionellen» als Verdächtige in die Mangel genommen. Andere Aufseher befragte der zuständige Beamte nur als Auskunftspersonen.Die bisher völlig unbescholtenen Familienväter gaben zu, sich im Verlauf der letzten Jahre mit insgesamt rund fünf Landjägern und einigem Käse bedient zu haben. Die Landjäger hatten sie während der Arbeitspausen verzehrt. Schiess gab im weiteren zu, im Verlauf der Jahre rund fünfmal Menüs bezogen zu haben, ohne diese zu bezahlen. Seine Begründung: Dies sei jeweils dann geschehen, wenn er vom Essen weggerufen worden sei, so dass er die Speisen nicht habe verzehren können.

Für die beiden langjährigen Aufseher hatte das Geständnis verheerende Folgen. Als Anstaltsdirektor Zinsli von den Ermittlungsergebnissen erfuhr, suspendierte er beide Mitarbeiter vom Dienst. Im Januar 1997 doppelte die Bündner Regierung mit einer fristlosen Entlassung nach. Heute sind beide arbeitslos und als Diebe verschrien. Anstaltsdirektor Andrea Zinsli konnte aufatmen: Durch den Rausschmiss der beiden Sündenböcke konnte er die Landjägeraffäre unter den Teppich kehren und von der seit längerem schwelenden Führungskrise ablenken. Auch die Bündner Regierung in Chur, insbesondere Justizchef Peter Aliesch, scheute sich, die Vorkommnisse und Probleme in Realta durch eine neutrale Untersuchung objektiv klären zu lassen.

So leicht gaben die abservierten Aufseher aber nicht auf. Gegen die Entlassung sind Rekurse hängig. Nachdem das Bündner Verwaltungsgericht die Beschwerde abgewiesen hat, liegt der Fall jetzt beim Bundesgericht in Lausanne. Was immer die Gerichte auch entscheiden: Die Landjägeraffäre ist bis heute ungeklärt. Denn jene Realta-Angestellten, die im Juni 1996 Dutzende Landjäger und Salsize stahlen, drehen im Gefängnis noch immer unbehelligt ihre Dienstrunden. Für diesen Klau kommen nämlich weder Schiess noch Thaller in Frage. Schiess war damals gar nicht im Dienst und Thaller in den Ferien. Das bestätigt auch der Polizeibericht: «Abschliessend sei bemerkt, dass der wahre Sachverhalt bisher nicht restlos geklärt werden konnte. Vor allem wollte sich niemand der Befragten zu den in der Zeit vom 21.5. bis 24.6.1996 festgestellten Diebstählen bekennen noch dazu äussern.»Dafür zeigen Zeugenaussagen im Zusammenhang mit dem Strafprozess am Kreisgericht Thusis, dass in Realta praktisch alle Mitarbeiter gratis zulangten. «Bis hinauf zur Verwaltung haben sich alle bedient», bestätigte ein Zeuge.

Der lockere Umgang mit Nahrungsmitteln in der Anstalt Realta hat noch einen anderen Hintergrund. Der für das Essen Verantwortliche orderte von der Hauptküche in der psychiatrischen Klinik Beverin immer wieder viel zu grosse Essensmengen. Pro Tag habe es Abfälle von zwei bis drei Schweinekübeln zu 60 Liter gegeben, kritisierten mehrere Zeugen. Auch übriggebliebener Aufschnitt, Landjäger und Salami seien in diesen Kübeln gelandet. Kein Wunder, dass solche Zustände zur Selbstbedienung einluden.

Auch der Anstaltsdirektor kam in den Befragungen schlecht weg. Als es um Aussagen zum Klima in der Anstalt ging, fürchteten sich Zeugen vor Repressalien. Angst hat selbst der Realta-Vizedirektor: «Ich muss damit rechnen, dass es sich für mich nicht günstig auswirkt, wenn ich in diesem Fall Aussagen mache.»

Dass ein Anstaltsdirektor von seinen Angestellten korrektes Verhalten erwartet und durchsetzt, ist richtig. Denselben Massstab muss er aber auch bei sich selbst anwenden. Das ist nicht durchwegs so. Ein Beispiel: Direktor Andrea Zinsli verbot seinen Angestellten, Hunde in die Anstalt mitzunehmen. Für ihn gilt dieses Verbot nicht. Und es kommt noch dicker: Gutbezahlte Angestellte mussten den Vierbeiner des Herrn Direktor während der Arbeitszeit Gassi führen. Bezeichnend dazu die Aussage des inzwischen pensionierten Buchhalters: «Meine Höflichkeit gebot es mir, nicht nein zu sagen.»

Aus der verheimlichten Landjägeraffäre in Realta lässt sich schon heute ein Fazit ziehen: Mit dem Rausschmiss der Sündenböcke ist die Krise nicht bewältigt. Handeln müsste der zuständige Regierungsrat Peter Aliesch. Andere Bündner Krisenherde - etwa das Bündner Frauenspital Fontana - hat der freisinnige Magistrat rasch und kompetent saniert. Doch der «Fall Realta» ist für ihn um einiges heikler: Gefängnisdirektor Andrea Zinsli ist nämlich Alieschs Duz- und Parteifreund.

PS: Am 23. Februar hat das Kreisgericht Thusis Gaudenz Thaller und Fridolin Schiess vom Vorwurf des Diebstahls freigesprochen.

Realta-Direktoren: Häufiges Sesselrücken

Bereits 1989 machte die Bündner Strafanstalt landesweit Schlagzeilen, als der Beobachter aufdeckte, dass Gefangene in einer Spezialwerkstätte mit dem giftigen Stoff Trichloräthan arbeiten mussten. Obwohl der Anstaltsleiter sich gegen diese Arbeit ausgesprochen hatte, wollte der damalige Realta-Direktor und Chefarzt der psychiatrischen Klinik Beverin die gefährliche Werkstätte nicht schliessen. Er musste später den Hut nehmen. Der liberale Peider Ganzoni brachte frischen Wind in die Anstalt. Bald wurde ihm aber ein zu weicher Führungsstil vorgeworfen. Die intime Beziehung einer Anstaltsmitarbeiterin mit einem Gefangenen schwächte seine Position zusätzlich. Ganzoni wurde auf einen administrativen Chefposten versetzt.

Seit 1993 sitzt Andrea Zinsli auf dem Direktionssessel. Doch auch dieser Wechsel brachte keine Ruhe. Zinsli gilt nicht als Integrationsfigur. Er ist wenig kommunikativ und verschanzt sich lieber in seinem Büro. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für diesen Posten.