Sitzen je nach Altersklasse
In den Strafanstalten sitzen zunehmend Häftlinge im Pensionsalter. Deutschland baut den zweiten Seniorenknast, die Schweiz will andere Konzepte.
«Hm», Paul Waridel hält inne und lässt die Luft aus der Lunge zischen. «Ich weiss nicht, was ich später mal mache, ich habe eine lange Haftstrafe vor mir.» Der Häftling, demnächst 65, muss wegen Drogenhandels noch mindestens elf Jahre im Zuchthaus absitzen. Er ist in der Strafanstalt Lenzburg AG beim Putzdienst eingeteilt, fängt jeden Morgen um halb acht an und fährt mit dem Putzwagen durch die Gänge. Pro Arbeitsblock gibt es eine Viertelstunde Pause – wie für alle anderen Gefangenen. Obwohl im Pensionsalter, hat Waridel denselben Gefängnisalltag wie seine jüngeren Mitinsassen.
Die Zahl der älteren Gefangenen in der Schweiz nimmt stark zu. 1982 gab es schweizweit nur 38 Häftlinge, die über 59 Jahre alt waren. 20 Jahre später waren es 81, mehr als doppelt so viele. Und der Trend hält an. Ueli Graf, Direktor der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf ZH: «Die Situation wird sich in Zukunft wohl akzentuieren, weil mit der Freilassung der Verwahrten sehr restriktiv umgegangen wird und sie in der Haft alt werden.»
Weshalb landen immer mehr Senioren hinter Gittern? Daniel Fink, Leiter der Sektion Kriminalität und Strafrecht beim Bundesamt für Statistik, glaubt, dass ältere Personen früher ebenso kriminell waren wie heute, viele Fälle aber nicht angezeigt wurden. Habe man einst weggeschaut, wenn der Onkel die Nichte missbraucht habe, so komme es heute viel eher zu einer Anzeige. «Zudem sind die alten Leute länger aktiv, und die Wahrscheinlichkeit ist grösser, dass einer im Kasino überbordet, lange Finger bekommt, wenn die Rente nicht reicht, oder bei seinem Nebenjob als Buchhalter etwas für sich abzweigt.»
Wechsel über die Landesgrenze. Justizvollzugsanstalt Konstanz, Aussenstelle Singen, nahe der Grenze zu Schaffhausen. Ein älterer Herr am Stock kommt aus seiner Zelle und geht Richtung Innenhof, wo auf der Bank ein Mitinsasse mit Drainageschläuchen am Bein sitzt. Während sich in der Bibliothek ein weisshaariger Häftling bei einem Film entspannt, steigt vom oberen Stock ein Mann leicht hinkend die Treppe hinunter zum Telefon. Hätte man nicht eine Sicherheitsschleuse passiert – man würde glatt vergessen, dass sich diese Szenen in einer Strafanstalt abspielen.
Mitbestimmung beim Tagesablauf
In Singen wird seit über 30 Jahren der erste Seniorenknast in Deutschland geführt. «Nach aussen geschlossen, nach innen offen», lautet das Konzept. Wer hierher kommt, ist mindestens 63 – der älteste Häftling ist derzeit 80 Jahre alt. «Wir sind kein Altersheim», sagt Anstaltsleiter Peter Rennhak, «wir sind eine Vollzugseinrichtung, die alten Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Strafe anders abzusitzen.» Die 50 Gefangenen können ihren Tag selber einteilen. Kraftraum, Billardzimmer und Tischtennisplatte stehen von 7 bis 22 Uhr zur Verfügung. Wer will, kann arbeiten.
Alex Bremer* will unbedingt. So kann der 68-Jährige monatlich knapp 200 Euro verdienen und hat eine Aufgabe. Die Arbeiten sind auf ältere Leute abgestimmt: keine gefährlichen Maschinen, kein Leistungsdruck. Die Insassen verpacken Kleiderhaken, Schrauben und Dübel, setzen Besen zusammen. «In anderen Anstalten musste ich in schlecht beleuchteten Räumen Rattenfallen herstellen und bekam vom Drahtbiegen blutige Finger», sagt Bremer und verschweisst eine Schraubenschachtel mit Plastik.
Wegen seiner Spielsucht hat Bremer in den letzten 20 Jahren verschiedene Gefängnisse von innen gesehen. Er ist froh, dass er im Alter in diesem speziellen Knast ist. «Unter diesen vielen Jungen in anderen Gefängnissen, die sich regelmässig Schlägereien liefern, war es schwierig für mich.» Hier will er in Ruhe seine Strafe absitzen und hofft, dass er in gut einem Jahr entlassen wird. Dann möchte er im Wohnmobil durch Kanada und Alaska reisen.
Nicht alle Häftlinge in Singen haben noch Perspektiven: Einige von ihnen sind wegen Mordes hier und müssen damit rechnen, dass dies die letzte Station ihres Lebens ist. Für Anstaltsleiter Rennhak, der sich seit über 30 Jahren mit dem Strafvollzug von Betagten beschäftigt, ist es des-halb wichtig, dass die Gefangenen diese Lebensphase ihren Bedürfnissen entsprechend gestalten können.
Wer zum Pflegefall wird, «kommt in eine entsprechende Institution, sofern er für die Öffentlichkeit keine Gefahr darstellt», sagt Rennhak. Und auch wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, werde eine Lösung gesucht: «Wir möchten keinen Häftling hinter Gittern sterben lassen, sondern wir verlegen die Person je nach der Entscheidung des Richters in ein Spital oder nach Hause.»
Schweizer gegen Sonderbehandlung
In der Schweiz sucht man solche Einrichtungen wie in Singen vergebens. «Bis jetzt schleppt man die Sonderfälle im normalen Vollzug mit», sagt Strafvollzugsexperte Andrea Bächtold.
Viele Extraangebote gibt es da nicht: «Bei uns können die älteren Gefangenen über Mittag separat duschen», sagt der Direktor der Strafanstalt Lenzburg, Marcel Ruf – sie haben so etwas mehr Zeit und Privatsphäre. Laut Gesetz sind in der Schweiz alle Inhaftierten zur Arbeit verpflichtet, bei älteren wird aber ein Auge zugedrückt. «Wir schauen, wozu sie noch fähig sind und wie wir sie einsetzen können», sagt Hans-Jürg Patzen, Direktor der halboffenen Anstalt Realta im Bündnerland. So ist der mit 75 Jahren älteste Insasse für das Blumenwässern im Treibhaus und die Ordnung in den Büchergestellen zuständig.
Während in Deutschland bereits das zweite Seniorengefängnis im Bau ist, mehren sich in der Schweiz erste Stimmen, die auf das Thema aufmerksam machen. Im kürzlich erschienenen Lehrbuch «Strafvollzug» schreibt Experte Andrea Bächtold: «Der Freiheitsentzug an alten Menschen ist bislang kaum systematisch thematisiert worden.» In mehreren Kapiteln kommt er auf die Problematik der alten Leute im Vollzug zu sprechen. Nur: «Konkrete Bestrebungen wird es wahrscheinlich erst geben, wenn das Problem unter den Nägeln brennt.» Für Hans-Jürg Patzen ist klar, dass es die Bedürfnisse der Insassen auszuloten gilt: «Wir müssen uns fragen: Wo verpassen wir soziale Anliegen, die für diese älteren Männer zentral sind?»
Wie die meisten Anstaltsleiter in der Schweiz ist Patzen jedoch gegen eine Seniorenanstalt. Die soziale Durchmischung sei wichtig in den Gefängnissen, man wolle die älteren Leute nicht einfach abschieben. Die Verantwortlichen der St. Galler Strafanstalt Saxerriet hingegen machten mit dem altersspezifischen Vollzug erste positive Erfahrungen: Vor ein paar Jahren wurde eine Wohngruppe von älteren Gefangenen in einem separaten Haus untergebracht. «Diese Form hat sich bewährt», sagt der stellvertretende Saxerriet-Leiter Paul Suter: «Die Insassen konnten sich frei im Haus bewegen, fühlten sich lockerer und schätzten dieses Angebot.»
Macht es also Sinn, die Vollzugssenioren von den anderen Gefangenen zu trennen? «Nach unseren Erfahrungen, ja», ist der Singener Peter Rennhak überzeugt. «Alle übrigen Anstalten sind klar auf die jüngeren Insassen ausgerichtet – da geraten die älteren ins Hintertreffen.» Diese Meinung teilt auch der Gefangene Waridel, der in seinem Leben als «Drogenbaron» schon in etlichen Gefängnissen der Schweiz sowie in Frankreich, Italien und Griechenland inhaftiert war: «Wenn die Anstalten etwas anbieten, sind die Zielgruppe immer die jungen Insassen.» Da er fit genug sei, könne er an Freizeitprogrammen wie Jogging und Krafttraining teilnehmen, «aber andere sind dazu nicht mehr in der Lage».
Für jugendliche Kriminelle existieren in der Schweiz spezielle Anstalten. «Damit soll verhindert werden, dass sie Kontakt haben zu den erwachsenen Gefangenen und dadurch noch mehr auf die schiefe Bahn geraten», argumentiert John Zwick vom Bundesamt für Justiz. Dagegen hat Waridel nichts einzuwenden, aber er moniert: «Die Altersgruppe der über 60-Jährigen geht vergessen.»
Damit für ältere Gefangene auch in der Schweiz ein spezieller Platz eingerichtet würde, wäre laut John Zwick «ein Anstoss von Seiten der Kantone» nötig. Weil der Strafvollzug föderalistisch geregelt ist, bleibt dem Bund nicht viel mehr als die Oberaufsicht. «Wir beabsichtigen, nächstes Jahr auf das Bundesamt für Justiz zuzugehen, um zusammen mit Bund und Kantonen neue Konzepte zu entwickeln», sagt Beatrice Breitenmoser, Vorsteherin des Amts für Justizvollzug im Kanton Zürich. Es gehe um Fragen wie: Welche Angebote brauchen verwahrte, kranke oder alte Insassen? Wie viele Sicherheitsvorkehrungen sind bei diesen Gruppen nötig? Der Hintergrund: Die Schweizer Strafanstalten sind ausgelastet und viele Untersuchungsgefängnisse überbelegt. Allein in Pöschwies stieg die Zahl der verwahrten Insassen in den letzten zehn Jahren von 26 auf 63.
Im Kraftraum in Singen hebt Wolfgang Edmaier*, 68, die Hanteln aus der Halterung. Er legt sich auf den Rücken und drückt das Gewicht in die Höhe. Rauf, runter, rauf, runter. Edmaier, ausgebildeter Solartechniker, führte bis zu seiner Pensionierung ein unbescholtenes Leben. Wegen «angeblicher Steuerhinterziehung», wie der Gefangene sein Delikt nennt, sitzt er schon drei Jahre. Die Hälfte seiner Strafe hat er hinter sich. Edmaier kennt andere Anstalten nur aus seiner Untersuchungshaft, doch die paar Wochen haben ihm gereicht. «Es war nicht schön», sagt er knapp. «Hier aber findet man seine Ruhe und kann sich mit Gleichaltrigen unterhalten.»
Eher betreuen als bewachen
Mauer und Kameras – mehr ist an Sicherheitseinrichtungen nicht zu erkennen. Kein Stacheldraht, keine Überwachungstürme. Fluchtversuche sind selten – der letzte liegt zehn Jahre zurück. Thomas Maus, Dienstleiter Vollzug in Singen: «Was wir an Sicherheit vernachlässigen können, brauchen wir mehr an Betreuung, denn Leute im fortgeschrittenen Alter reagieren empfindlicher auf die Haft.» Teurer als andere Einrichtungen sei man deswegen aber nicht, wird in Singen betont.
Zeit zum Nachtessen. Mit ihren Tellern in der Hand stehen die Senioren vor der Essensausgabe. Mischbrot und Bockwurst mit Senf stehen auf dem Menüplan. Wer sich sein Essen selber kochen will, kann dies in einer separaten Küche tun. Und wer nicht weiss, wie umgehen mit Kellen und Pfannen, kann Koch- und Backkurse besuchen.
«Wir könnten in Lenzburg auch kochen lernen – allerdings in einer Anlehre, nicht in einem Kurs», sagt Paul Waridel, der noch auf unbestimmte Zeit in Lenzburg inhaftiert ist. Fest steht: Waridel wird im Gefängnis alt werden. Er wünscht sich dereinst einen Vollzug, bei dem sich die Häftlinge frei im Haus bewegen können und auf das Alter zugeschnittene Betreuung erhalten. «Da würde ich auf jeden Fall beantragen, dass man mich verlegt.»
* Name geändert