Tod auf Bestellung
In der Schweiz darf jeder jedem beim Suizid helfen. Kritiker fordern strengere Richtlinien – doch der Bund zögert.
Die Inneneinrichtung ähnelt einer trendigen Lounge: ein hellgrauer Raum, asketische Sitzmöbel, fast steril die Glasscheibe, die den Blick auf einen Medikamentenschrank freigibt. In dieser unterkühlten Umgebung will Arzt Gustav Strom der lebensmüden, aus Hamburg angereisten Alice zum Tod verhelfen. Nachdem ihr der umtriebige Sterbehelfer routiniert die Modalitäten der letzten Reise erklärt hat, erklingt im Hintergrund Barockmusik… So inszenierte der Schweizer Autor Lukas Bärfuss in seinem Schauspiel «Alices Reise in die Schweiz», das 2003 am Theater Basel uraufgeführt wurde, die Situation der Suizidbeihilfe für Lebensmüde.
Die Realität in einem unauffälligen Mietshaus in Zürich-Wiedikon präsentiert sich etwas altmodischer: ein Zimmer mit einem Bett, daneben ein Nachtkästchen, ein Tisch mit fünf Stühlen, an der Wand ein Ölbild. Neben dem Kassettenrekorder liegt eine Vivaldi-CD: «Die vier Jahreszeiten».
In der kleinen Wohnung, die die Sterbehilfeorganisation Dignitas gemietet hat, sind im letzten Jahr 138 Menschen gestorben. Dazu kommen 162 Personen, die sich mit Exit Deutschschweiz das Leben genommen haben – und etwa 50 weitere mit Exit Romandie.
Verglichen mit den jährlich rund 1’400 Suiziden in der Schweiz, nimmt sich die Zahl der begleiteten Freitode zwar bescheiden aus – die Tendenz zeigt aber seit Jahren stetig nach oben. Sterbehilfe ist eine Antwort auf die Apparatemedizin: Schwerstkranke können immer länger am Leben erhalten werden, auch wenn sie dies gar nicht mehr wollen. Das Recht, über den eigenen Tod bestimmen zu können, ist deshalb das gewichtigste Argument, das Exit und Dignitas als Legitimation für ihre Arbeit ins Feld führen.
Um Hilfe beim Freitod ersuchen in der Regel Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit oder unter schweren Schmerzen leiden – hin und wieder Hochbetagte, die ganz einfach «lebensmüde» sind. Wer urteilsfähig ist und seinen Sterbewunsch wiederholt unzweifelhaft äussert, erhält nach einem Gespräch mit einem Vertrauensarzt der beiden Vereine ein Rezept für Natrium-Pentobarbital. Betreut von einem freiwilligen Exit- oder Dignitas-Helfer, schlucken die Betroffenen zuerst ein Antibrechmittel und wenig später das in Wasser aufgelöste, bittere Gift. Bald darauf setzt der Schlaf ein, der langsam und schmerzlos in den Tod übergeht.
Wer hat das Recht auf Selbstmord?
In einfühlsamen, zugleich Distanz suchenden Bildern zeigt der Film «Exit» des Lausanner Regisseurs Fernand Melgar das begleitete Sterben. «Exit», der am 9. Februar in den Deutschschweizer Kinos anläuft, wurde an den Solothurner Filmtagen als bester Dokumentarstreifen ausgezeichnet. Er zeigt zum Beispiel die 45-jährige Jocelyne, die vor 20 Jahren an multipler Sklerose erkrankt ist. Sie leide sehr darunter, ihr Leben nicht ohne die dauernde Hilfe von zahllosen Menschen führen zu können, sagt sie mühsam. Ihre Freitoderklärung kann sie nur noch mit grösster Kraftanstrengung zu Papier bringen. Das geht unter die Haut. Doch was der Film nur andeutet, sind die Probleme, die sich hinter der Sterbehilfe verbergen.
- Psychische Krankheiten: Hat auch ein Recht auf Selbstmord, wer unter Depressionen oder einer psychischen Krankheit leidet? Die nationale Ethikkommission wie auch die Mehrheit der Psychiater sagen Nein: Bei Psychischkranken sei der Suizidwunsch «in der Regel» eine Folge der Krankheit, und verlässliche Prognosen seien zudem schwierig.
Der Verein Exit ist darum sehr zurückhaltend: Von den 162 Freitodbegleitungen betrafen letztes Jahr gerade mal zwei Psychischkranke. Dignitas hingegen betrachtet Menschen mit mentalen Krankheiten als urteilsfähig in Bezug auf die Frage, ob sie weiterleben oder lieber sterben möchten. «Sie haben in der Regel den Anspruch darauf, bei einem vorgesehenen Freitod begleitet zu werden, um Risiken auszuschalten», sagt Dignitas-Generalsekretär Ludwig A. Minelli. - Sterbetourismus: Von den 138 Menschen, die 2005 mit Hilfe von Dignitas starben, lebten 126 im Ausland. Inzwischen wächst die Kritik an dieser Praxis – vor allem wegen der manchmal extrem kurzen Zeit der «Begleitung»: Nach oft bloss telefonischem oder schriftlichem Kontakt reist der Sterbewillige in die Schweiz, trifft kurz den Vertrauensarzt und lässt sich unmittelbar darauf, oft noch am gleichen Tag, das tödliche Mittel geben.
Die Frage der Urteilsfähigkeit und der Dauerhaftigkeit des Todeswunsches könne «nicht im Schnellverfahren geklärt» werden, kritisiert Exit. Der Verein macht darum nur Freitodbegleitungen bei Mitgliedern, die in der Schweiz wohnen – «weil wir kein Dienstleistungsunternehmen der Sterbehilfe auf Knopfdruck werden wollen», sagt der Mediensprecher und frühere Direktor von Schweizer Radio DRS, Andreas Blum.
Dignitas argumentiert, der Ausschluss von Ausländern käme einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention gleich. Dabei scheut sich Dignitas nicht vor einem fragwürdigen Vergleich: «Aus der Zurückweisung von Flüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs an ihrer Grenze sollte die Schweiz ihre Lehren gezogen haben.» - Finanzen: Die Schweizer Gesetze erlauben die Suizidbeihilfe nur, falls sie nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen erfolgt (siehe «Gesetze: Die Schweiz gehört zu den liberalsten Ländern», Seite 22). Kontrolliert werden kann dies kaum; bei Dignitas etwa gewährt Chef Ludwig A. Minelli niemandem Einblick in die Bücher. Publiziert werden nur rudimentäre Zusammenfassungen – die letzte fürs Jahr 2003 –, und über Zuwendungen für eine von Minelli kontrollierte Stiftung erfährt die Öffentlichkeit überhaupt nichts.
Immer wieder taucht deshalb der Verdacht auf, Sterbewillige könnten sich mit einer üppigen Spende ein Arztrezept für das tödliche Medikament erkaufen; ruchbar geworden sind Fälle in der Grössenordnung von 160'000 Franken. Transparent sind einzig die offiziellen «Tarife» für die Freitodbegleitung: 5000 Franken lässt sich Dignitas überweisen für die Vorbereitung und die Durchführung der Freitodbegleitung, den Verkehr mit den Amtsstellen, die Arztkosten und die Kremation samt einem allfälligen Urnenversand. Exit verlangt, je nach Dauer der Mitgliedschaft, zwischen 0 und 1200 Franken.
«Es braucht einfach mehr Qualität
Der leitende Zürcher Oberstaatsanwalt Andreas Brunner fordert aufgrund all dieser Probleme ein eidgenössisches Sterbehilfegesetz. Darin soll seiner Meinung nach geregelt werden, dass die Sterbehilfeorganisationen eine staatliche Bewilligung brauchen, die sie nur erhalten, wenn Strukturen und Finanzen transparent sind. Ferner soll festgelegt werden, welche Mindestausbildung die Freitodbegleiter wie auch die Vertrauensärzte absolvieren müssen. Schliesslich verlangt Brunner für einzelne Patientengruppen wie Alzheimerkranke spezielle Mindestanforderungen, damit Sterbehilfe geleistet werden darf. «Es braucht einfach mehr Qualität in diesem Bereich», fordert Brunner. Und der Sozialethiker Hans Ruh sagt: «Der Freitod darf nicht zum Geschäft werden».
Der gleichen Meinung ist Christoph Müller, Bezirksamtmann im aargauischen Bezirk Kulm. In Reinach betrieb Dignitas von 2004 bis Anfang 2005 ein Sterbezimmer. 18 Dossiers von Sterbebegleitungen landeten auf Müllers Pult – in 16 Fällen ging es um eigens dafür angereiste Sterbewillige aus dem Ausland. «Oft lag das tödliche Medikament schon bereit, bevor der Vertrauensarzt das Rezept ausgestellt hatte», sagt Müller. Deshalb fordert er: «Der Bund muss die Aufsicht über die Sterbehilfeorganisationen regeln.»
Noch einen Schritt weiter geht der St. Galler Rechtsanwalt Frank Petermann: Auf eigene Faust entwarf er vor anderthalb Jahren ein «Gesetz zur Suizidprävention». Kernstück seines Modells sind staatliche, «neutrale» Beratungsstellen für Menschen mit Suizidwunsch. Petermann: «Vertrauen kann nur entstehen, wenn die Beratung auch einen Suizid akzeptiert, sofern sich zeigt, dass das Problem anders nicht gelöst werden kann oder dass die ratsuchende Person trotz Alternativen am Sterbewunsch festhält.» Und Dagmar Fenner, Privatdozentin für Philosophie an der Universität Basel, ergänzt: «Die Verhinderung von unbegleiteten Suiziden mit unzulänglichen Methoden ist ein dringendes Gebot mitmenschlicher Fürsorge.» Statt suizidale Menschen um jeden Preis am Leben erhalten zu wollen, soll in vertrauensvoller Beratung gemeinsam geprüft werden, ob die Einschätzung der Lebenssituation realistisch ist und auch die Auswirkungen des Suizids auf die Angehörigen ausreichend berücksichtigt wurde.
Der Staat tut sich schwer
Doch die Zeit dafür scheint noch nicht reif. Zwar schickt das zuständige Bundesamt für Justiz demnächst einen Bericht über mögliche Massnahmen in eine verwaltungsinterne Vernehmlassung. Gegenüber dem Beobachter will Amtsdirektor Heinrich Koller indes nicht sagen, welche Massnahmen er darin vorschlägt. An einer Expertentagung zum Thema Sterbehilfe liess Koller vor gut zwei Monaten durchblicken, dass er in dieser Sache am liebsten überhaupt nichts unternehmen würde: Eine staatliche Kontrolle der Sterbehilfeorganisationen führe zwangsläufig zu einer staatlichen Anerkennung, und das sei «nicht unproblematisch».
Koller weiss dabei seinen Chef, Bundesrat Christoph Blocher, hinter sich. Dessen Vorgängerin Ruth Metzler hatte die nationale Ethikkommission beauftragt, Vorschläge für eine gesetzliche Regelung zu machen. Der neu gewählte Blocher machte diesen Auftrag umgehend rückgängig. Dabei kam schon 1996 ein im Auftrag des Bundes erstellter Expertenbericht einstimmig zum Schluss, es brauche endlich eine Regelung von aktiver und passiver Sterbehilfe: «Angesichts der Auswirkungen für den Einzelnen und für die Gesellschaft kann ein demokratischer Staat seine Verantwortung in der Frage der Sterbehilfe nicht auf den einzelnen Arzt oder auf eine Standesorganisation abwälzen. Die wesentlichen Voraussetzungen, unter denen Sterbehilfe geleistet werden darf, müssen in einem formellen, dem Referendum unterstellten Gesetz geregelt werden», empfahlen die Fachleute damals. Auch die eidgenössische Ethikkommission forderte letzten Sommer einstimmig eine genauere gesetzliche Regelung: Weil keiner die Sterbehilfeorganisationen kontrolliere, könnten diese ihre selbst gesteckten Grenzen überschreiten.
Exit würde eine Art «Lizenzierungsverfahren» für Sterbehilfeorganisationen sogar «begrüssen», sagt Vorstandsmitglied Andreas Blum: Minimale Standards punkto Organisation, Aus- und Weiterbildung der Freitodbegleiter sowie finanzielle Transparenz «sollten in einem so sensiblen Bereich eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein». Dignitas hingegen erachtet die bisherige Form der Ausbildung der Sterbehelfer als genügend; eine staatliche Regelung sei nicht nötig.
Pointierter Kritiker einer verstärkten Aufsicht ist der emeritierte Berner Strafrechtsprofessor Gunther Arzt, der sich seit 35 Jahren mit dem Thema Sterbehilfe beschäftigt: Schärfere Kontrollen führten zu einem paradoxen Nebeneinander von detailliert organisierter Suizidhilfe mit humanen Mitteln und einer ungeregelten Suizidhilfe mit weniger humanen Mitteln. Für die Suizidprävention werde nichts gewonnen, «wenn die durch Organisationen oder Ärzte geförderten Fälle zurückgehen und die Leute stattdessen zu Schlafmitteln oder Plastiksäcken greifen».
Weiterleben nach dem Kopfschuss
In der Tat sind solche «wilden», unbegleiteten Suizidversuche gefährlich, weil sie oft misslingen. So etwa bei Walter Zuberbühler (Name geändert). Der 54-Jährige liegt in der Klinik, ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Er kann nicht lesen, nicht schreiben, spricht undeutlich. Mit der Armeepistole schoss er sich in den Kopf – eine Methode, die immer noch und zu Unrecht als todsicher gilt. Von drei Partnerinnen verlassen, die Tochter an Aids gestorben, schaute Zuberbühler immer tiefer ins Glas, verlor die Stelle, verspekulierte Geld an der Börse. Betrunken fuhr er einen Familienvater zum Krüppel. Da griff er zur Armeepistole.
Solch tragische Selbsttötungsversuche finden nur selten den Weg an die Öffentlichkeit. Zwar fehlt eine Statistik über Selbstmordversuche, doch der Bundesrat geht in einer vorsichtigen Annahme von 20’000 bis 67’000 Fällen aus – jedes Jahr. Nach einem missglückten Selbstmord leiden viele Betroffene unter schwer wiegenden körperlichen und geistigen Schäden. Die geschätzten Kosten dafür belaufen sich jährlich auf rund 2,5 Milliarden Franken.
Auch für die Theaterfigur Alice endet die Reise in die Schweiz nicht mit dem erhofften sanften Tod. Sie stülpt sich einen Plastiksack über den Kopf und erstickt grausam.