Vormundschaft: Jäh zerplatzte Hoffnungen
Durch ein blutiges Familiendrama verlieren zwei Geschwister ihre Eltern. Zunächst leben die Waisenkinder bei Verwandten. Doch dann verfügen die Behörden die Heimeinweisung.
Veröffentlicht am 13. November 2002 - 00:00 Uhr
Mittwoch, 29. Mai 2002, 7.45 Uhr. Wie gewohnt wirft Doris Iseli Schlegel einen Blick aus dem Fenster ihres Reihenhauses am Wangelenrain, einer ruhigen Wohnsiedlung ausserhalb von Kirchberg BE. Die Mutter einer vierjährigen Tochter traut ihren Augen kaum: Ihr Hauseingang, der Garten und der Zugangsweg zum Nachbarhaus sind mit roten Bändern abgesperrt. Das Gebäude ist von einem Dutzend Polizisten umstellt. Ein Rettungswagen steht bereit. Es herrscht eine unheimliche Stille.
Ein Gasunfall, denkt Doris Iseli Schlegel und fragt die Polizisten durchs Fenster nach Einzelheiten. Schweigend winkt sie ein Beamter nach unten und macht ihr den Sachverhalt klar: Der Nachbar, ein 55-jähriger Familienvater, hat in der vergangenen Nacht seine 17 Jahre jüngere Frau mit einem Messer umgebracht. Noch fehlt von ihm jede Spur.
Die Kinder, ein neunjähriger Junge und ein fünfjähriges Mädchen, fanden die Mutter in einer Blutlache liegend. Der Knabe rief telefonisch die Sanität herbei und wartete mit seiner Schwester neben der Leiche. Unmittelbar danach wurden die beiden Geschwister vom Notfallseelsorger der Gemeinde, Richard Stern, betreut und dann zu den Eltern des Opfers in Obhut gebracht.
Am Nachmittag findet die Sondertruppe Enzian den Vater tot im nahe gelegenen Wald. Mit einer Kugel in den Kopf hat er sich selber gerichtet.
«Wie in einem Fernsehkrimi»
«Es war wie in einem Fernsehkrimi – am liebsten hätte ich den Film ausgeblendet», erinnert sich die Nachbarin. Nur: Der Film ist Wirklichkeit, unauslöschlich. Reto und Sonja (Namen geändert), die Kinder von nebenan, sind über Nacht zu Waisen geworden. Am Stubentisch der Nachbarn informiert jetzt der Untersuchungsrichter die Angehörigen über die ersten Ermittlungen. Die Sprachlosigkeit ist zum Ersticken.
Bei der schlichten Abdankung lässt Pfarrer Stern die quälenden Fragen der nächsten Angehörigen im Raum stehen: «Wieso hast du das Liebste und dich selbst ausgelöscht und die Kinder fürs Leben gezeichnet?» Nichts wird mehr sein, wie es war. Nichts. Nie mehr.
Die durch die Ereignisse schwer traumatisierten Kinder finden in Huttwil BE bei den Verwandten mütterlicherseits ein neues Zuhause. Ihre Grosseltern, Regina und Werner Burkhardt, sowie die beiden Schwestern des Opfers, Silvia Grossenbacher und Regula Lüthi, wohnen mit ihren Familien im selben Dorf. Die Tanten suchen mit Reto und Sonja regelmässig eine Kinderpsychiaterin auf. Silvia Grossenbacher, selber Mutter eines vierjährigen Sohnes, reicht einen Pflegeplatzantrag ein. Im gegenseitigen Einverständnis schlagen die Verwandten der Getöteten den Kirchberger Behörden als Vormund Pfarrer Stern vor, diejenigen des Täters den Burgdorfer Psychiater Walter Bangerter.
Am Wangelenrain hält der Alltag langsam wieder Einzug. Zum Schutz und zum Wohl der beiden Waisenkinder beschliessen die Nachbarn Stillschweigen über die näheren Umstände der Tat.
Sieben Wochen nach der Familientragödie erreicht sie die Hiobsbotschaft: Die Kinder dürfen nicht länger bei den Verwandten leben, sondern müssen in eine sozialpädagogische Wohngruppe umziehen. Weder die Angehörigen in Huttwil noch mit den Familienverhältnissen vertraute Personen wie Nachbarn, Lehrer, Kindergärtnerin, Arbeitskollegen oder die beiden vorgeschlagenen Vormünder wurden in den Entscheidungsprozess eingebunden. Auch die Hauptbetroffenen, die Kinder, sind über ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht eingehend befragt worden.
«Empört über die Behörden»
Selbst Silvia Grossenbacher und ihre Eltern werden vor vollendete Tatsachen gestellt. «Wir zweifeln nicht an der kompetenten Leitung des Heims», betont die Schwester. Doch sie sind «empört über die Behörden, wie sie uns den Entscheid aus heiterem Himmel mitgeteilt haben». Während die Verwandten des Täters grundsätzlich nichts gegen die Heimplatzierung einzuwenden haben, legen die Eltern des Opfers beim Regierungsstatthalter des Amtes Burgdorf BE, Franz Haussener, Beschwerde ein. Dieser verweigert die aufschiebende Wirkung.
Als Hauptargument führen die Behörden Loyalitätskonflikte der Kinder an. Ihre rein rationale Sichtweise hört sich im Wortlaut so an: «Belastet durch die Tatsache, dass der Vater ihre Mutter auf brutale Art umgebracht hat, sind sie unweigerlich hin und her gerissen zwischen ihren Eltern und den Verwandten mütterlicherseits. Auch diese sind Opfer des Mordes. Ihre Wut richtet sich damit gegen einen Elternteil der Kinder, für welche die Eltern letztlich die wichtigsten Bezugspersonen in ihrem Leben bleiben.»
In der Grundsatzfrage Heimplatzierung oder Pflegefamilie lässt sich die Vormundschaftsbehörde vom kantonalen Jugendamt sowie von Fachpersonen beraten und zieht Fachliteratur bei, so auch die Abhandlung «Fremdplatzierung von Kindern – wohin?» von Martin Inversini, Leiter der kantonalen Erziehungsberatungsstelle Langenthal BE. Allerdings bezieht sich der Aufsatz auf «erziehungsbeeinträchtigte, so genannt erziehungsschwierige Knaben und Mädchen».
«Kindeswohl an erster Stelle»
Vom künftigen Vormund verlangen die Behörden, dass er auch die Vermögensverwaltung und den Verkauf des Hauses an die Hand nimmt. Die Bewerber, Pfarrer Stern und der Psychiater Bangerter, sehen sich dazu ausserstande und lassen sich zum Rückzug bewegen.
In dieser komplexen Situation, lässt die Gemeinde verlauten, bleibe der Vormundschaftsbehörde nur die Einsetzung des Amtsvormunds, Margrit Brüngger-Habegger, Leiterin Soziale Dienste in der Gemeinde Kirchberg. «Das Kindeswohl stand bei unserem Entscheid an erster Stelle», sagt der Gemeinderat Alfred Bütikofer. Die Heimplatzierung erachte er als eine «gute, tragfähige und langfristige Lösung».
«Für uns war das ein zweiter Schock», sagt Doris Iseli Schlegel. «Die Überlegung, dass eine solche Amtswillkür auch unsere Tochter treffen könnte, wenn uns Eltern etwas zustösst, hat uns zum Handeln veranlasst.» Die Mutter initiiert das Komitee zur Wahrung der Interessen der Waisenkinder vom Wangelenrain, dem sich Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen der Ermordeten, Politiker und Betreuer der Kinder anschliessen. Ihr Hauptanliegen ist die Überprüfung der Sachlage unter Einbezug eines Netzes von Fachpersonen, Pädagogen, Nachbarn und Bekannten, die die Kinder vor der Tat bereits kannten.
Weil das Komitee bei den Kirchberger Behörden trotz mehrfachen Vorstössen kein Gehör gefunden hat, wendet es sich mit seinen Forderungen an die Öffentlichkeit: Neben der Kritik an der Heimplatzierung verlangt die Interessengemeinschaft ein psychologisches Fachgutachten.
Zudem wird darauf gepocht, die Geschwister endlich anzuhören, wie es die Uno-Kinderrechtskonvention vorschreibt. Auch ist es der Interessengemeinschaft unbegreiflich, dass die Kinder keine Kontakte mehr zu ihren vertrauten Spielkameraden aus der Nachbarschaft haben dürfen. «Ich möchte Reto und Sonja später noch in die Augen schauen dürfen», begründet Doris Iseli Schlegel ihr Engagement.
Unmissverständlich äussert sich auch Psychotherapeut Walter Bangerter zum «sehr einsamen Entscheid» der Behörden: «Aus psychotherapeutischer Sicht besteht die Gefahr, dass die Kinder die Heimplatzierung als eine Art Bestrafung empfinden.» Als Begründung ausgerechnet einen Fachartikel über «erziehungsschwierige» Kinder herbeizuziehen, grenzt für ihn an «Verleumdung». Als Vormund hätte Bangerter dem Heimentscheid nie zugestimmt. Und dass der Hausverkauf und die Vermögensverwaltung nun doch ausgelagert wurden, befremdet ihn.
«Lage stets neu überdenken»
Als «langfristige» Lösung will Rosmarie Barwinski Fäh von der Zürcher Fachstelle für Psychotraumatologie die Heimplatzierung nicht verstanden wissen. «Man muss die Situation immer wieder überdenken.» Es sei Aufgabe der Betreuer zu beobachten, was die Verwandtenbesuche bei den Kindern auslösen. «Generell geht man davon aus, die Kinder in ihrer vertrauten Umgebung zu lassen.»
Das Komitee vom Wangelenrain gelangt erneut an den Gemeinderat Kirchberg und bittet um eine Aussprache. In seiner ablehnenden schriftlichen Antwort beruft sich Gemeinderatspräsident Lorenz Wacker auf die gesetzliche Schweigepflicht in einem laufenden Verfahren.
Jetzt entschliesst sich das Komitee zu einer Unterschriftensammlung: Es spricht sich für eine Familienplatzierung der Waisenkinder aus. Innerhalb von nur 14 Tagen zeigen sich mehr als 11393 Bürgerinnen und Bürger mit den Forderungen solidarisch. Mitte November überbringen Nachbarn und Kinder Regierungsstatthalter Haussener die Petition. Im Schlosshof lassen sie weisse Ballone mit der Aufschrift «Für die Waisenkinder» in den trüben Regenhimmel steigen.
«Unzulässiges Rechtsmittel»
Haussener nimmt das geschnürte Bündel entgegen und betont, er betrachte die Petition als «Bittschrift», die er prüfen wolle. Der Kirchberger Gemeindepräsident Martin Bürgi hingegen fühlt sich veranlasst, die Petition als «kein zulässiges Rechtsmittel» zu bezeichnen. Dem widerspricht der Vizestaatsschreiber des Kantons Bern, Michel Schwob. Er sieht in der Petition ein Volksrecht, das nichts mit der Gewaltentrennung zu tun hat.
Mittlerweile steht einem Gutachten der Kinder nichts mehr im Weg. Haussener schlägt den Parteien einen Psychiater und eine Psychologin vor, damit die kinderpsychiatrischen und die pädagogischen Aspekte berücksichtigt sind.
Das Komitee hofft, dass die Anregung von Doris Iseli Schlegel, die uneinigen Verwandten mit einer Mediation an einen Tisch zu bringen, auf fruchtbaren Boden fällt. Damit würde dem unwürdigen Irrlauf durch die Instanzen endlich ein Ende gesetzt. Denn in einem sind sich die Betroffenen einig: Die Verantwortung wiegt für alle schwer.