Was bringt das Uno-Gütesiegel?
Elf Welterbestätten hat die Schweiz bereits. Die zwölfte sollen Bauten von Le Corbusier werden. Doch die ganze Sache ist umstritten: Der Unterhalt ist teuer, der Nutzen ungewiss.
Veröffentlicht am 11. Mai 2015 - 09:34 Uhr
Nur gerade drei Welterbestätten hatte die Schweiz bis zur Jahrtausendwende. Dann ging es Schlag auf Schlag: Beinahe jedes Jahr kam eine neue hinzu (siehe «Die elf Welterbestätten in der Schweiz»). Doch der Boom ist zu Ende. In diesem Jahrzehnt gibt es womöglich keine weitere. Eine Kandidatur kostet viel Geld, weltweit gibt es eher schon zu viele Welterbestätten. Und die Vermarkter sind ernüchtert.
Etwa die Rhätische Bahn. Die RhB liess ihre spektakulären Bahnstrecken durch den Albulatunnel und über den Berninapass im Jahr 2008 zum Weltkulturerbe erklären. Verlässliche Zahlen über den wirtschaftlichen Mehrwert, den dieser Status bringt, gebe es nicht, sagt Roman Cathomas, Produktmanager bei der RhB. «Auf der Albula- und der Bernina-Strecke steigen die Passagierzahlen leicht stärker an als auf den anderen Strecken – aber das kann verschiedene Gründe haben.» Euphorie klingt anders.
Bei der Vermarktung über internationale Tour-Operatoren sei das Label zweifellos hilfreich, sagt Cathomas. Doch ein Welterbe muss man auch schützen und erhalten, und das verursacht Kosten. «Es ist komplexer und teurer geworden, die teils mehr als hundertjährigen Kehrtunnel und Viadukte instand zu halten, damit sie zwar allen modernen Sicherheitsauflagen entsprechen, aber immer noch wie alt aussehen.»
Dazu kommen auf den ersten Blick ganz banale Probleme: Als die RhB den an der Albulastrecke gelegenen Bahnhof Filisur sanierte, wollte sie auch gleich ein Perrondach bauen, weil das heutzutage zum Komfort für die Reisenden gehört. Ein solches verändert aber die als Ganzes geschützte Bahnanlage – entspricht sie dann noch dem von der Unesco geschützten Gut? «Es kommt kein Unesco-Kontrolleur vorbei und prüft, ob wir das Welterbe genug schützen», sagt Cathomas. «Aber die Eidgenossenschaft hat sich gegenüber der Unesco verpflichtet, das Werk vollumfänglich zu erhalten, und sie muss alle paar Jahre einen Bericht abliefern, der diesen Nachweis erbringt.»
«Es kommt kein Unesco-Kontrolleur vorbei und prüft, ob wir das Welterbe genug schützen.»
Roman Cathomas, RhB-Produktmanager
Die RhB entschloss sich für ein Holzdach, das konstruktionstechnisch dem alten Baustil zumindest ähnelt – nach aufwendigen Abklärungen und in Absprache mit einer Kommission aus Fachleuten des Bundes und des Kantons Graubünden.
Grundsätzlich ist eine Sehenswürdigkeit nicht besser geschützt, weil die Unesco sie als Welterbe bezeichnet: Was die Schweiz als schützenswert vorschlägt, steht in aller Regel bereits unter Heimat- oder Denkmalschutz.
Und längst nicht alle sind glücklich über eine Kandidatur als Welterbe. So sträubten sich die SBB dagegen, die Gotthardstrecke unter den Schutz der Unesco zu stellen, weil sie dann ein «Nutzungs- und Erhaltungskonzept» einreichen müssten. Doch die SBB wollen sich die Option offenhalten, nach der Eröffnung des Basistunnels die alte Bergstrecke weniger aufwendig zu unterhalten, teilweise zurückzubauen oder irgendwann ganz stillzulegen.
Der Bundesrat hat deshalb einen Entscheid über eine Kandidatur der Gotthard-Bergstrecke auf die lange Bank geschoben. Ohnehin ist nicht sicher, ob die Unesco die legendäre Gotthardbahn als Welterbe akzeptieren würde: Deren strategische und wirtschaftliche Bedeutung ist zwar unbestritten, aber ausser der Streckenführung ist nicht mehr viel im Originalzustand. Das meiste wurde um- oder ausgebaut. Fraglich ist etwa, ob die vor wenigen Jahren gebauten Lärmschutzwände nicht wieder demontiert werden müssten – das wäre ein Schildbürgerstreich.
Kosten entstehen aber schon vorher: mit der Kandidatur, für die ein dickes Dossier bei der Unesco eingereicht werden muss. Für die Bewerbung der Albula- und Bernina-Bahnstrecken haben 39 Fachleute in monatelanger Arbeit 625 Seiten verfasst. Erfasst wurde alles nur Denkbare bis hin zu Beschreibungen frühmittelalterlicher Kirchen entlang der Strecke. Das kostet rasch einmal einen Millionenbetrag – ohne Garantie dafür, den Status Welterbe zu erlangen, und vor allem ohne Garantie dafür, diese Kosten dereinst durch mehr Touristen wieder hereinzuholen.
Die Kosten sind aber nicht der Grund dafür, dass der Bund mit weiteren Welterbekandidaturen auf die Bremse tritt. Die Schweiz ist auf der insgesamt knapp über 1000 Natur- und Kulturerbestätten zählenden Unesco-Liste mit elf Objekten im Vergleich zu anderen Ländern ohnehin schon stark vertreten. «Wir wollen keine Denkmalkategorien mehr vorschlagen, die auf der Unesco-Liste bereits überrepräsentiert sind», sagt Oliver Martin, Leiter der Sektion Heimatschutz und Denkmalpflege beim Bundesamt für Kultur und Mitglied der Expertengruppe, die für den Bundesrat die Schweizer Unesco-Kandidaturen vorbereitet.
Darum wurde beispielsweise die Freiburger Altstadt von der Liste der kandidaturwürdigen Objekte gestrichen – ebenso wie 16 weitere Sehenswürdigkeiten, von der Bodenseelandschaft bis zur Römerstadt Augusta Raurica. «Was Freiburg auszeichnet, ist bereits durch Bern abgebildet; eine Kandidatur wäre chancenlos», sagt Martin. Immerhin profitiert Bern vom Status als Unesco-Welterbe.
«Das positioniert uns in einer sehr exklusiven Liga und ist ein Vermarktungsvorteil», sagt Livia Schönenberger, Sprecherin von Bern Tourismus. Die Bundesstadt, die für ihre gut erhaltene Altstadt schon 1983 den Status als Weltkulturerbe erhielt, weist darauf in der Werbung immer und immer wieder hin. Trotzdem sei kaum messbar, wie viele Gäste spezifisch deswegen kämen, schliesslich habe Bern ja ohnehin viele Attraktionen, so Schönenberger – Welterbe hin oder her.
«Das Städtchen Gruyères ist für die Schweiz aussergewöhnlich, aber nicht für die ganze Welt»
Oliver Martin, Leiter Heimatschutz beim Bundesamt für Kultur
«Unser Anspruch ist, nur Objekte mit grossen Erfolgschancen vorzuschlagen», sagt Oliver Martin. Die Unesco, eine Sonderorganisation der Uno mit Sitz in Paris, verlangt, dass das Welterbe-Objekt eine «aussergewöhnliche Antwort auf eine universelle Frage» liefert. «Ein gutes Beispiel dafür sind die Weinberge im Lavaux.» Terrassierte Rebberge an Sonnenhängen gibt es vielerorts. Doch im Lavaux werden selbst steilste Hänge bewirtschaftet, und dank eng bebauten Dörfern wird jeder Quadratmeter ausgenützt. Darum blieb die Kandidatur des malerisch auf einem Hügel gelegenen Städtchens Gruyères auf der Strecke. «Das ist für die Schweiz aussergewöhnlich, aber nicht für die ganze Welt», so Martin. «In Italien gibt es wichtigere mittelalterliche Städte.»
Pendent ist einzig noch die Kandidatur von Le Corbusiers architektonischem Werk. Frankreich hatte zunächst 30 Corbusier-Bauten in sechs Staaten auf vier Kontinenten zu einer einzigen Kandidatur zusammengefasst, doch die Unesco hat das Dossier bereits zweimal «zur Überarbeitung» zurückgewiesen.
Kulturerbe: Gehören Winzerfeste auch dazu?
Zusätzlich zur klassischen Unesco-Welterbe-Liste gibt es seit 2006 ein Verzeichnis des sogenannten immateriellen Kulturerbes. Dazu zählen etwa Volksbräuche.
Mit viel Aufwand hat das Bundesamt für Kultur 387 Vorschläge gesammelt und daraus eine Liste mit 167 «lebendigen Traditionen» aus den Bereichen Musik, Tanz, Theater, Brauchtum, Handwerk, Industrie und Wissen zusammengestellt. Es erntete viel Spott, weil auch Absurditäten wie der Zürcher Räbeliechtliumzug in der Liste Platz fanden (siehe Beobachter 23/2011, «Lebendige Traditionen»). Der Bundesrat kürzte die Liste 2014 auf acht Vorschläge, die jetzt einer nach dem anderen der Unesco unterbreitet werden, darunter auch Überraschendes wie der Umgang mit der Lawinengefahr oder die Alpsaison.
Ende März wurde eine erste Kandidatur eingereicht: das Winzerfest in Vevey. Der Unesco-Entscheid wird für November 2016 erwartet.
Der 1887 in La Chaux-de-Fonds geborene Le Corbusier – oder Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wie er bürgerlich hiess – sei «ohne jeden Zweifel» ein «aussergewöhnliches, kreatives Genie» und einer der wichtigsten Architekten des 20. Jahrhunderts, so die Unesco. Doch die Auswahl der 30 Bauten schien ihr zu wenig stringent. Jetzt, nach mehreren Überarbeitungen, sind es noch 17 Objekte, darunter zwei aus der Schweiz: die Villa Le Lac am Ufer des Genfersees in Corseaux und das Immeuble Clarté in Genf. «Wir sind zuversichtlich, dass es jetzt klappt», sagt Oliver Martin vom Bundesamt für Kultur. Der Entscheid wird für 2016 erwartet.
Danach ist vorerst Schluss mit weiteren Schweizer Welterbestätten. Im kommenden Jahr will die Expertenkommission darüber beraten, welche Objekte für eine weitere Kandidatur näher geprüft werden sollen. «Es werden weniger als fünf sein», so Oliver Martin. Erst danach wird ein detailliertes Dossier erarbeitet, und bis zu einem Entscheid der Unesco dauert es nochmals ein paar Jahre. Unwahrscheinlich deshalb, dass die Schweiz in diesem Jahrzehnt weitere Unesco-Welterbestätten erhält.