Ich muss draussen bleiben
Schweizer Städte machen gegen Randständige mobil: Die Polizei deckt Alkis und Drögeler mit Platzverboten ein. Doch auch zufällig anwesende Passanten werden mitunter weggewiesen. Wie zum Beispiel in Thun.
Veröffentlicht am 22. November 2005 - 15:19 Uhr
Redet jetzt der Polizeidirektor aus diesem verschmitzten Gesicht, das sich hinter der Studentenbrille versteckt? Oder ist es der Pfarrer? Oder gar der Sozialdemokrat? Man weiss es nicht – Heinz Leuenberger ist alles in einer Person. Zum Gespräch erscheint der 61-Jährige nicht im Talar, sondern in dunklem Anzug mit farbiger Krawatte. Leuenberger ist der Mann, auf dessen Geheiss die Polizei in Thun Alkoholiker und andere Drogensüchtige aus der Innenstadt verscheucht und mit Platzverboten belegt. «Ich kann das mit meinem Gewissen vereinbaren», sagt der Polizeidirektor gelassen. Und der Pfarrer nickt.
Mitte Juni lief in der Kleinstadt die Polizeiaktion «Marathon» an. Der Name deutet darauf hin, dass sich die Beamten auf einen längeren Abnützungskampf um den Mühleplatz einstellen. Seit Jahren schon hat sich dort eine Drogenszene etabliert, die in der schicken Beizenmeile am Aarequai stört. Die Aktion scheint zumindest optisch ein Erfolg zu sein, wie ein Augenschein zeigt. Nur ein einsamer Alki ist auszumachen.
«Plötzlich tauchten Polizisten auf»
Um zu verhindern, dass die Szene den Platz erneut in Beschlag nimmt, verhängt die Polizei zweimonatige Platzverbote, die für weite Teile der Altstadt gelten. 190 solcher «Wegweisungen» haben die Ordnungshüter seit Juni verfügt. Dabei erwischt es offenbar auch zufällig anwesende Passanten. Der Beobachter weiss von drei Personen, die darüber berichten.
Gerhard Nydegger, 29, erwischte es an einem sonnigen Oktobertag: «Ich trank ein Feierabendbier mit einem Freund», erinnert er sich. «Ein paar Meter von uns entfernt sassen weitere Leute. Plötzlich tauchte eine Hand voll Polizisten in Zivil auf, und ein Wagen mit zwei uniformierten Beamten fuhr heran.» Anwesende mussten sich einer Leibesvisitation unterziehen.
Nydegger und sein Kumpel erhielten ein im Voraus von Polizeidirektor Leuenberger unterschriebenes Platzverbot in die Hand gedrückt. «Hielt sich innerhalb einer Gruppe ‹Randständiger› auf», schrieb der Beamte als Grund auf die amtliche Verfügung. Genau bis zum Heiligen Abend 2005 darf der junge Thuner weite Teile der Altstadt nicht mehr betreten. Bei Zuwiderhandlung setzt es zuerst eine Busse ab, beim dritten Mal gibts Haft. «Ich akzeptiere eine solche Wegweisung nicht», empört sich der arbeitslose Nydegger, «die machen mich zu einem Randständigen.» Er hat zwar Beschwerde eingereicht, doch diese hebt das Platzverbot nicht auf.
Seit Polizeidirektor Leuenberger mit harter Hand durchgreift, lobt ihn das «Thuner Tagblatt». Das war nicht immer so. Die Lokalzeitung warf den Behörden «Versager-Politik» vor und forderte die Räumung des Platzes. Der Chefredaktor, der in der Nähe des Platzes wohnt, schrieb vom «Pfarrer mit dem Polizistenhut, der um den Brei herumredete».
Leuenberger zuckt auf solche Anwürfe hin nur die Schultern und gibt sich kritikresistent. Er macht den Job als Polizeivorsteher schon seit 14 Jahren: «Der Druck des ‹Tagblatts› hatte keinen Einfluss auf meinen Entscheid. Seit Jahren haben wir eine Ansammlung von Drogenabhängigen, Alkoholikern und Baby-Punks auf dem Mühleplatz», sagt er. Rund 50 Personen hätten einen Teil des Platzes einfach besetzt. «Ich machte eine Güterabwägung: Es kann doch nicht sein, dass diese wenigen Leute einen zentralen Platz der Öffentlichkeit einfach so wegnehmen.»
Leuenberger stützt sich auf das kantonale Polizeigesetz, die so genannte Lex Wasserfallen. Die Polizei kann Personen von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten, wenn sie «die öffentliche Sicherheit und Ordnung» nur schon «stören». Das in der Verfassung garantierte Recht auf «Bewegungsfreiheit» ist anscheinend weniger wert.
Keine Hilfe von der Kirche
Die Folgen der Thuner Vertreibungspolitik waren absehbar. «Heute sind die Süchtigen überall verstreut», erklärt Philipp Weber, städtischer Beauftragter für Gesundheits- und Suchtfragen. Die Betroffenen seien «gestresster» als früher, und ein Teil der Szene sei sogar «nach Bern abgewandert». Einige auch in andere Quartiere, ärgert sich Ueli Habegger, Wirt des Café Stöckli im Denner-Hochhaus hinter dem Bahn-hof. «Seit man die Drögeler vom Mühleplatz verscheucht hat, hat sich ein Teil der Szene zu uns verlagert. Manchmal pissen sie an die Mauer – es ist eine richtige Mohrerei.» Diesen Herbst wurde in sein Lokal eingebrochen. Schaden: mehr als 5000 Franken. Nun hat der «Stöckli»-Beizer eine Alarmanlage installiert, Dreipunkteverriegelung an der Tür angebracht und Panzerglas im Schaufenster.
Wenn nun einer dieser armen Kerle bei Heinz Leuenberger anklopfen und um Asyl bitten würde? Wäre er der Pfarrer oder der Polizeidirektor? «Ich würde ihm sagen, er soll zu den Sozialdiensten gehen. Die helfen so jemandem, im Gegensatz zu mir: Ich kann ihm für sein ‹Asyl› nur eine Kirche ohne Infrastruktur anbieten.»
Leuenberger empfängt Besucher im Pfarrbüro an der Peripherie von Thun. Als Polizeidirektor mit einem 35-Prozent-Pensum habe er kein eigenes Büro in der Stadt. Zu 70 Prozent ist er reformierter Pfarrer in Thun-Strättligen. Eine Medaille von Interpol und ein Degen in einem Goldschaft schmücken den Raum. Geschenke, die ein Polizeidirektor halt so erhält.
«Ich kenne die Polizei gut genug»
«Pfarrer werden gern mit Leuten gleichgesetzt, die irgendwo zwischen Himmel und Erde schweben, abgehoben sind und nicht so recht wissen, was Sache ist», sagt der Polizeivorsteher. Um seine Führungsstärke zu belegen, erwähnt er eine Amtshandlung in seinem ersten Jahr als Gemeinderat: Er schickte den Polizeikommandanten in die Wüste. Leuenberger bezeichnet sich als «typischen 68er Theologen»: Das Christentum sei nicht nur «eine Sache der Innerlichkeit, sondern ist etwas, das in die Wirklichkeit dieser Welt eingreifen muss».
Zum Fall Nydegger nimmt er keine Stellung, weil das Beschwerdeverfahren noch laufe. Immerhin so viel sagt er: «Ich kenne die Polizei gut genug, die verteilen solche Wegweisungsentscheide nicht einfach wahllos an Passanten.» Leuenberger wehrt sich ebenso gegen den Vorwurf, nur sinnlose Vertreibungspolitik zu verfolgen. Anfang November habe das Thuner Stadtparlament eine Mietzinsgarantie von 744'000 Franken für das Projekt «Betreutes Wohnen» gesprochen. Acht bis zehn Drogenabhängige sollen davon profitieren. Ausserdem werde es in Thun für solche Leute bald eine Anlaufstelle geben. Das ist allerdings Wunschdenken, denn das Stadtparlament hat das Projekt in einem ersten Anlauf abgelehnt.
Es lohnt sich ein Blick auf das «Integrationsleitbild» der Stadt Thun: «Willkommen, Bienvenue, Welcome, Bienvenido, Hosh geldiniz, Marhaba.» Im Vorwort schreibt Leuenbergers vollamtliche Gemeinderatskollegin Ursula Haller: «Nur wer ‹dazu gehört›, kann sich mit der Gemeinschaft identifizieren und so zum Wohlbefinden aller beitragen.» Integration sei «ein Aufeinanderzugehen». Schöne Worte. Wer könnte da widersprechen? Nur: Thuns Drogensüchtige gehören offenbar nicht dazu.