Wie Angst uns steuert
Ein tabuisiertes Gefühl beeinflusst fast alle unsere Handlungen. Raffinierte Politiker und die Privatwirtschaft nutzen das für ihre Zwecke. Ohne Angst würden wir nicht überleben, doch oftmals leitet sie uns in die Irre.
Angst ist ansteckend, aber keiner will es zugeben. Wohin man auch hört, niemand fürchtet sich vor der Schweinegrippe, alle halten die Pandemie-Warnungen des Bundes für Hysterie. Gleichzeitig folgen viele offensichtlich trotzdem ihrem Gefühl: Die Regale mit Schutzmasken bei Coop und Migros werden seit Wochen leergekauft. Die Migros setzte teilweise täglich 6000 Pakete à 50 Masken ab. Weit über 100 Millionen Masken wurden in den letzten Monaten in der Schweiz insgesamt verkauft. Ähnliche Verkaufsschlager: Javel-Wasser, Gummihandschuhe oder Desinfektionsmittel. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich der Verkauf von Desinfektionsmitteln, je nach Laden, fast verzehnfacht. Ist der Kauf dieser Produkte Auswuchs einer Pandemie-Angst oder nützlicher Schutz?
Als viele UBS-Kunden Anfang Jahr ihre Konti auflösten, verlor die Grossbank Tag für Tag fast eine Milliarde Franken. War dieser immense Gelderabzug wirklich bloss Rache der Kunden an den UBS-Oberen, aus Verärgerung über deren Geschäftsgebaren, oder vielleicht doch eine Folge der Angst, dass es die Bank bald einmal nicht mehr geben könnte?
«Angst ist ein ganz zentrales Sicherungssystem des Menschen», sagt Josef Hättenschwiler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. «Angst hilft uns täglich dabei, Entscheidungen zu treffen», sagt der Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression. Entwicklungsgeschichtlich sei Angst ein Selbsterhaltungsprinzip: «Wer Angst hat, überlebt.»
Anders gesagt: Angst steuert seit je unser tägliches Verhalten. Manchmal schützt sie uns vor einer realen Gefahr, manchmal leitet sie uns in die Irre. «Die Mechanismen der Psyche führen dazu, dass wir Risiken anders wahrnehmen als eine tatsächliche Gefahr», sagt Jürgen Margraf, Leiter des Instituts für Psychologie der Uni Basel. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA herrschte eine generelle Angst vor dem Fliegen, die Airlines stürzten in die Krise. Selbst in den Weiten Nordamerikas stiegen viele aufs Auto um. Die Folge: Im ersten Halbjahr nach 9/11 ereigneten sich alleine in den USA fast 900 zusätzliche Todesfälle im Strassenverkehr.
Seit 1978 erhebt das Institut für Markt- und Sozialforschung gfs-zürich in seinem gfs-Angstbarometer die Bedrohungswahrnehmung in der Schweiz (siehe nachfolgende Grafik). 2008 hatten die Schweizerinnen und Schweizer am meisten Angst vor der Umweltzerstörung und vor einer ökologischen Katastrophe. An zweiter Stelle stand die Angst vor unheilbaren Krankheiten und schweren Unfällen (Verlust der physischen Unversehrtheit). Stellenverlust oder die Angst, nicht genug Geld zu verdienen, also die sozioökonomische Bedrohung, kam im Oktober letzten Jahres erst an fünfter Stelle. «Dies scheint angesichts der damals in den Medien omnipräsenten Finanzkrise paradox», sagt Andreas Schaub, stellvertretender Institutsleiter. Die Schweiz sei zu jenem Zeitpunkt noch nicht von der Krise erfasst worden, wie auch die guten Umsatzzahlen im Weihnachtsgeschäft zeigten. «In der Zwischenzeit dürfte die Finanzkrise wegen steigender Arbeitslosigkeit auch die Schweizer beeinflussen, und auch die Schweinegrippe dürfte ihre Spuren hinterlassen. Daher rechne ich bei der sozioökonomischen Bedrohung und der physischen Unversehrtheit für dieses Jahr mit einem deutlichen Anstieg des Indikators.»
Mittelwerte ausgewählter Bedrohungen; der Index reicht von 1 (= keine Bedrohung) bis 10 (= grosse Bedrohung)
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In Deutschland ist dies bereits Realität. Der Verlust der Arbeitsstelle war gemäss einer im März durchgeführten Forsa-Umfrage im Auftrag des «Sterns» die grösste Furcht der Bundesbürger. 67 Prozent gaben an, grosse oder sehr grosse Angst davor zu haben, dass die Arbeitslosigkeit steige.
Wirtschaftskrise, Ökokatastrophen und Krankheiten: Sind wir eine Gesellschaft in Angst? Fürchten wir uns vor immer mehr Dingen? Ja, sagen Experten. So zeigt der gesamte Bedrohungsindex des gfs-Angstbarometers für den Zeitraum der letzten 30 Jahre einen eindeutigen Trend nach oben. «Wir leben in einem Zeitalter der Angst», sagt Psychologe und Hirnforscher Jürgen Margraf. Er spricht, gestützt auf ein psychometrisches Angstinventar, von einem «belegten dramatischen Anstieg der Angsterkrankungen seit 1950». Das durchschnittliche gesunde Kind habe heute deutlich mehr Angst als vor 50 Jahren.
«Fürchtet euch immer», verballhornt Dietrich Schwanitz im Titel seines humorigen Essays zum Thema Angst eine Bibelstelle aus der Genesis («Fürchtet euch nimmer»). «Die Bedingungen moderner Existenz sind von sich aus angstfreundlich. Man lebt in ständiger Angstbereitschaft. Angst wird zum Normalzustand», schliesst darin der inzwischen verstorbene Professor für englische Literatur und Autor des Bestsellers «Bildung. Alles, was man wissen muss».
Man braucht Schwanitz’ Einschätzung nicht vollumfänglich zu teilen. So viel aber scheint klar: Die Welt des Bauern im Mittelalter war weniger komplex. Er konnte zwar nicht im Internet praktisch jede in der Welt verfügbare Information abrufen, aber er wusste: Damit die Kuh wieder Milch gab, musste er vor der Statue dieses oder jenes Heiligen eine Kerze stiften. Ganz anders unsere Situation: Wir können über die Zahl der BSE-infizierten Rinder informiert sein und jeden Bissen Fleisch bis zum jeweiligen Tier zurückverfolgen. Doch wir wissen nicht, ob wir das Steak auf dem Teller vor uns gefahrlos verzehren können.
Zu Beginn der neunziger Jahre prägt sich ein unheilverkündendes Kürzel schlagartig ins öffentliche Bewusstsein ein: BSE (Bovine spongiforme Enzephalopathie). Unter dem Begriff Rinderwahnsinn bleibt das Thema jahrelang auf der öffentlichen Agenda, es gibt Diskussionen über die Schädlichkeit der Tiermehlverfütterung, die mögliche Übertragung auf den Menschen. Der Rindfleischkonsum bricht dramatisch ein und bringt eine ganze Branche an den Rand des Ruins. Heute heisst es auf der eigens eingerichteten Website des Bundes lapidar: «Obwohl BSE-Fälle beim Rind seit 1990 festgestellt werden, ist in der Schweiz noch kein Mensch an der durch BSE ausgelösten Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit erkrankt.»
Die BSE-Diskussion ist nur eine in einer langen Reihe von Angstwellen, die über das Land schwappten. In den letzten Jahren ängstigten uns die Infektionskrankheit SARS (Schweres akutes respiratorisches Syndrom), Jahrhundert-Überschwemmungen, die Vogelgrippe und zuletzt die für den allergrössten Teil der Bevölkerung völlig harmlose Schweinegrippe. Noch ist es nicht lange her, dass in Briefen verschicktes Waschpulver sofort hektische Betriebsamkeit bei Polizei, Feuerwehr und Spezialdiensten auszulösen vermochte: Anthrax-Alarm! Kein einziger Verdachtsfall erwies sich als reale Bedrohung. Zur Bekämpfung des «Millennium-Bugs» wurde vor der Jahrtausendwende mit Ulrich Grete ein «Jahr-2000-Delegierter» ernannt. Ein hoher Bundesbeamter war felsenfest davon überzeugt, dass der öffentliche Verkehr zusammenbrechen werde. Er forderte an einer internen Lagebesprechung, dass man für besagte Silversternacht in Bern das Hauptstadt-Infanterieregiment aufbiete. Zum Glockenschlag um Mitternacht hielten viele den Atem an. Passiert ist – nichts.
Angst ist eine politische Waffe erster Güte. Mit ihr lässt sich die Stimmung anheizen. Das haben längst alle öffentlichen Akteure und Parteien gemerkt. Waldsterben? Ozonloch? Klimawandel? «Gerade auch die Kritiker der ‹Politik der Angst› beteiligen sich an alarmistischen Kampagnen», sagt Frank Furedi, Soziologieprofessor und Buchautor von «Politics of Fear» (Politik der Angst). Linke Politiker und Grün-Alternative hätten vergleichsweise alltägliche Themen wie Nahrung, Luftqualität und Erziehung zum Hort für Horrorgeschichten gemacht. Essayist Schwanitz bescheinigt den Umweltschützern gar «eine Art Katastrophenvirtuosentum». Doch auch bürgerliche Politiker machen hemmungslos Angst. Jüngst etwa Pascal Couchepin in der «Arena» zur IV-Abstimmung: «Wenn die Vorlage nicht angenommen wird, steht die AHV vor dem Ruin», drohte der abtretende Magistrat.
Dürfen Politiker Angst machen? «Angst ist ein zentrales, tiefes und starkes Gefühl. Es ist absolut legitim, dieses Gefühl anzusprechen, sonst geht die politische Botschaft, links wie rechts, an den Leuten vorbei», sagt Alexander Segert. Der Name dürfte einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt sein. Segerts Produkte aber kennt die halbe Schweiz. Er ist Geschäftsführer der Werbeagentur Goal, die für die SVP die Wahl- und Abstimmungspropaganda besorgt. Das Messerstecherinserat, der Soldatenfriedhof gegen das Militärgesetz, das gerupfte Huhn, die roten Ratten, die Schäfchen, die Raben: alles Segerts Kreationen. Der Werber beobachtet in der öffentlichen Kommunikation einen «Aufmerksamkeitsstreit» um das Gefühl Angst: «Es herrscht eine Inflation des Angstgefühls.» Nicht immer aber ist der Appell an die Angst die richtige Wahl. In Zeiten, wo es der Gesellschaft gut gehe, könne er die Angst in der politischen Werbung nicht ansprechen.
Ein Alptraum wird wahr, als die frisch von ihrem Mann getrennte Meg Altman mit ihrer elfjährigen Tochter Sarah in ihr neues Heim zieht. Noch am ersten Abend werden die beiden von einer Einbrecherbande überfallen. Altman und Sarah kommen schliesslich heil davon, weil ihr Haus über einen geheimen Bunker mit mehreren Zentimeter dicken Stahlwänden, Überwachungsmonitoren, separater Belüftung und eigenem Telefonanschluss verfügt: einen «Panic Room». So lautet auch der Titel des Films, aus dem die obige Handlung stammt.
Alles Fiktion? Nein. Vor allem an der Zürcher Goldküste lassen sich immer mehr Hausbesitzer solche Räume einbauen, bestätigt Heinz Gründler, Geschäftsführer der Firma Alarm AG in Meilen. In der Nähe von Luzern hat Gründler einen Raum gebaut, der demjenigen in «Panic Room» schon sehr nahekommt: Überwachungsmonitore, separate Belüftung, Notstromversorgung und ein eigener Mobilfunkanschluss gehören dazu. Sind Panic Rooms die Antwort auf eine reale Gefahr? «Wir haben hier keine amerikanischen Verhältnisse», beruhigt Martin Sorg, Mediensprecher der Kantonspolizei Zürich. Wer sich unsicher fühle, solle besser die Fenster vergittern und eine gute Alarmanlage installieren.
Mit der Angst lässt sich auch gut Geld verdienen. Ein ganzer Volkswirtschaftszweig, die Versicherungsbranche, lebt davon. Knapp 121 Milliarden Franken betrugen 2007 die gesamten Prämieneinnahmen der privaten schweizerischen Versicherungen. Kein Risiko ist zu klein, als dass es nicht versichert werden könnte. Für 250 Franken Jahresprämie bietet etwa die Assura-Tochter Animalia SA eine Versicherung an, falls die Katze mal zum Tierarzt muss. Die Augsburger Firma Energy Life bot über ein Amateur-Vertreter-Netz «Haus-Harmonizer» gegen Elektrosmog an, ein steckerähnliches Kunststoffgehäuse mit einem Chip drauf. Die Bauernfängerei funktionierte, obschon eine unabhängige Prüfung ergab: Der «Haus-Harmonizer» nützt nichts, sondern er produziert selber Elektrosmog.
Der Freiburger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Guy Kirsch analysiert den Markt der Angst nach ökonomischen Prinzipien. Wir sind, so Kirsch, ständig daran, unsere allgemeine Lebensangst umzuwandeln in etwas, was man fürchten kann: «Es gibt in der Gesellschaft eine grosse Nachfrage nach Furchtobjekten.» Angst ist ein diffuses Gefühl der Bedrohung, die Furcht ist konkret. Erst diese Umwandlung ermöglicht zielgerichtetes Handeln. Diesen Umstand machen sich Privatindustrie und Politik zunutze: Sie bieten Produkte an, mit denen wir unsere Angst in Furcht umwandeln und dann bekämpfen können. Idealerweise lässt sich der Nutzen sogar mit dem Namen des Produkts kombinieren.
Etwa bei Anti-Falten-Cremen. «Viele Frauen verspüren eine diffuse Angst. Die Kosmetikindustrie sagt ihnen: Sie fürchten sich vor kleinen Falten, und bietet zugleich die Lösung in Form von Anti-Falten-Cremen», sagt Kirsch. Ein weiteres Beispiel: Weil Geldanlegen immer mit Unsicherheit verbunden ist, boten Banken sogenannte Absolute-Return-Produkte an. Wie viel diese Sicherheit wirklich wert war, hat die Finanzkrise an den Tag gebracht.
Doch nicht nur gewöhnliche Menschen treffen Entscheidungen aus Angst. Der führende Angstforscher Borwin Bandelow nennt eine lange Liste von Geistesgrössen, die unter Angstattacken litten, darunter Goethe, Brecht, Beckett oder Kafka. Die Liste liesse sich beliebig verlängern – bis heute zeigt sich, dass Bühnenangst massive gesundheitliche Folgen haben kann. Die Sängerin Barbra Streisand litt unter einer solch schweren sozialen Phobie, dass sie 20 Jahre lang nicht öffentlich auftrat, nachdem sie einmal bei einem Konzert in New York ein paar Worte eines Songs vergessen hatte. Der Autor John Steinbeck war derart von starken sozialen Ängsten befallen, dass er zum Alkoholiker wurde und sich einmal zwei Jahre lang in eine einsame Berghütte zurückzog.
Doch woher kommt eigentlich die Angst? Anatomisch gesprochen: von der Amygdala, dem Mandelkern. So heisst das Kerngebiet im unteren Teil des Gehirns, das wesentlich an der Entstehung von Angst beteiligt ist. Wird dieses Areal zerstört, empfindet man keine Furcht mehr und keine Aggressionen.
Ein wünschenswerter Zustand? Keineswegs. Vor allem Menschen, die sich regelmässig mit Risikosituationen auseinandersetzen müssen, kennen den Wert der Angst. «In meinem Beruf werden mir täglich Menschenleben anvertraut. Vielleicht wäre es mir gar nicht möglich, starke Leistungen zu erbringen, wenn ich dabei nicht eine gewisse Angst zu überwinden hätte», sagt der Herzchirurg Thierry Carrel. Vor einer Operation spiele er in Gedanken alle möglichen Schwierigkeiten durch, danach sei der Plan glasklar. «Im Operationssaal gibt es keinen Platz für Angst und Gefühle. Die Arbeit wird so präzise wie nur möglich durchgeführt.»
Planung als Rezept gegen die Angst diese Methode wählt auch André Huber, EDA-Mitarbeiter und Ex-Chef des Schweizer Engagements in Afghanistan. «In Kabul ereigneten sich viele Bombenanschläge am Morgen. Meist waren militärische Einrichtungen das Ziel. Deshalb habe ich versucht, in diesen Zeiten solche Gebiete zu meiden.» Am meisten Angst habe er jeweils ganz zu Beginn einer Mission, sagt Huber, der oft in Krisengebieten unterwegs ist.
Wer keine Angst hat, der leistet weniger. Das zeigten schon 1908 die US-Forscher Robert Yerkes und John D. Dodson. Sie fanden heraus, dass die Lernleistung bei mittlerer Erregung am besten, bei zu geringer und zu hoher Erregung am schlechtesten ist. Wenn man etwa ein Examen ablegen oder einen Vortrag halten muss, kann ein mittleres Angstlevel nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz zum besten Ergebnis führen.
«Angst ist eine gute Sache, denn sie signalisiert mir, dass ich mich womöglich überschätze», sagt Extrembergsteiger Ueli Steck, der von sich sagt, er sei ein extrem ängstlicher Mensch, nur glaube ihm das keiner. «Ich bekämpfe die Angst, indem ich mich akribisch und konsequent auf meine Touren vorbereite. Alles muss perfekt sein.»
Zwischen dem Drang nach Perfektion und der Angst besteht ein enger Zusammenhang, sagt Angstforscher Bandelow. Wenn Sportler aufs Podest steigen, Politiker Wahlen gewinnen und Musikern herausragende Interpretationen gelingen, hat dieser Erfolg einen gemeinsamen Nenner: Angst. Trost mit wissenschaftlichem Segen also für alle, die sich schon immer für zu ängstlich hielten, es aber nie zu sagen wagten: «Angst ist ein ungeheurer Motor», sagt Bandelow. «Angst gibt uns die unendliche Energie, die für Spitzenleistungen erforderlich ist.»