Die Welt im Glashaus
Botanische Gärten sind im Winter besonders reizvoll: Man entflieht der Kälte und taucht in eine üppige grüne Welt voller Geheimnisse ein.
Veröffentlicht am 29. Oktober 2010 - 10:17 Uhr
Die feuchte, warme Luft riecht nach Humus und üppiger Vegetation. Im dichten Blätterwald zwitschern, gurren und flöten bunte Vögel um die Wette. Violette, knallrote und gelbe Blüten hängen vor den Nasen der Besucher, auf dem schmalen Pfad wähnt man sich im Dschungel. Oder im Paradies. Für die Biologin Florianne Koechlin ist das Tropenhaus des Botanischen Gartens in Basel eine Oase. Ein Ort, wo sie, wenn es draussen karg und kalt ist, stundenlang verweilen kann, einen Zeichenblock auf den Knien. «Für mich ist das wie Meditation», sagt sie, «danach bist du ein neuer Mensch.»
Die tropischen Gewächse reichen bis zum Glasdach. Die grossen Blätter einer Coccoloba die Gattung gehört zur selben Familie wie der Rhabarber erinnern an Elefantenohren. Essbananen und Palmen wachsen neben Brasilianischen Rasierpinselbäumen, Gummibäume neben Asiatischen Kapokbäumen und duftenden Currysträuchern. «Man weiss ob dieser Vielfalt und Opulenz gar nicht, wohin schauen», sagt Koechlin mit vor Begeisterung vibrierender Stimme.
Im Tropenhaus ist die Wildnis gezähmt und neu zusammengestellt. Für die Vögel stehen Schalen mit kleingeschnittenen Früchten und Maden bereit. Ein Elfenblauvogel lässt sich blicken, dann ein Sonnenvogel, der seinen Namen der leuchtend gelben Brust verdankt. Im Teich schwimmen Gelbwangenschildkröten und Schlangenkopffische, Raubfische aus dem tropischen Afrika. Von den Fröschen ist nichts zu sehen und zu hören – weder vom Korallenfingerfrosch noch vom winzigen Pfeiffrosch aus der Karibik, der in Orchideengebinden aus Guadeloupe versteckt nach Basel gelangte. Auch der Leguan verharrt verborgen im Gebüsch. Der Stirnlappenbasilisk ähnelt, welch Zufall, dem Fabelwesen, das in Basel seit dem 15. Jahrhundert als Wappenschildhalter populär ist.
Der Botanische Garten der Universität Basel ist einer der ältesten der Welt. Caspar Bauhin, einer der führenden Botaniker seiner Zeit, hat ihn 1589 gegründet. An den heutigen Standort beim mittelalterlichen Spalentor wurde er erst im Jahr 1898 verlegt. Nach wie vor wird er für die wissenschaftliche Arbeit genutzt. «Der Garten dient dem Botanischen Institut als Basissammlung für Lehre und Forschung», erläutert Heinz Schneider, Dozent und Kurator der Pflanzensammlungen, der seine Studenten häufig aus dem Hörsaal in den Garten führt.
Studenten kommen auch hierher, um in Ruhe Stoff zu pauken. «Hier können wir ungestört arbeiten», sagt Elia Bentivoglio. Bastiaan Frich, wie Elia im ersten Semester, schätzt den Garten als Fundgrube für seltene Samen: «Die liegen hier einfach so herum, das ist cool», sagt der junge Mann. Die beiden Botanikfans beginnen mit Florianne Koechlin zu fachsimpeln. Sie kennen ihre Bücher, finden ihre gesammelten Erkenntnisse «spannend». Die sportliche Frau mit der burschikosen Frisur grüsst auf dem Rundgang immer wieder nach links und nach rechts. Man kennt sich in Basel, wo Koechlin in den achtziger Jahren als AKW-Gegnerin und Gentechnikkritikerin lokale Prominenz erlangte.
Die Malerei hat der Biologin geholfen, Pflanzen ganzheitlich betrachten zu lernen. «Wir wissen so vieles noch nicht über ihr ‹geheimes› Leben. Was wir aber mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass Pflanzen keine Bio-Automaten sind.» Pflanzen können tatsächlich mehr, als einfache Signale übermitteln. Sie «schwatzen» miteinander, sagt Koechlin.
Die Pflanzen kommunizieren mittels Duftstoffen. Die Limabohne zum Beispiel kennt über 100 Duftstoffgemische, wie Wilhelm Boland vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena zeigen konnte. Die Pflanze, so der Forscher, erkenne den Schädling, der sich gerade über sie hermache, an seinem Speichel und «warne» die anderen Pflanzen vor ihm. Dann produziere sie einen Duftstoff, um den passenden Nützling anzuziehen, der dem Schädling den Garaus mache. «Dass eine Pflanze weiss: ‹Hier frisst eine Raupe, ich rufe jetzt also die Schlupfwespe zu Hilfe›, das ist doch erstaunlich», meint Koechlin. Bei Tabak- und Maispflanzen sind solche Strategien ebenfalls belegt. «Diese Pflanzen hier» – Florianne Koechlin deutet auf den Dschungel des Tropenhauses – «sind dazu sicherlich auch imstande, wir wissen es einfach noch nicht.»
Im Reich der Pflanzen herrsche ein ständiges Gemurmel, schreibt Florianne Koechlin in ihrem Buch «Pflanzenpalaver. Belauschte Geheimnisse der botanischen Welt». Auch Wissenschaftler klingen manchmal geradezu esoterisch. Koechlin präzisiert: «Wir Menschen verstehen das Gemurmel nicht, weil wir die Tausenden von Duftstoffverbindungen, die in der Luft herumschwirren, nicht riechen können.» Pflanzen hingegen könnten die Moleküle registrieren und interpretieren. Und sie hätten ein Erinnerungsvermögen, sagt Koechlin und nennt ein Beispiel aus der Gruppe der insektenfressenden Pflanzen: Die Venusfliegenfalle klappt erst bei der zweiten Berührung ihrer Sinneshärchen innerhalb von 40 Sekunden zu. Sie muss also gespeichert haben, dass bereits eine Berührung erfolgt ist. In der Fachwelt sind solche Interpretationen allerdings umstritten.
Florianne Koechlin plädiert dafür, neben dem naturwissenschaftlichen Zugang auch andere Erkenntniswege zuzulassen. Das Wesen der Pflanzen lasse sich auch durch Intuition erfassen. «Den ganzheitlichen Zugang zu verdammen ist heute nicht mehr haltbar.»
Pflanzen seien Kreaturen und besässen analog zu Mensch und Tier eine Würde. «Natürlich schreit der Kopfsalat nicht, wenn wir ihn ernten», räumt sie ein. Aber es gebe durchaus Grenzen im Umgang mit Pflanzen, und die gelte es festzulegen. «Ich bin der Meinung, dass man nicht jede gentechnische Manipulation zulassen soll, nur schon aus Respekt der Pflanze gegenüber», sagt die Gentechnikgegnerin, die sich in einer Ethikkommission des Bundes jahrelang mit solchen Fragen auseinandergesetzt hat.
Ob Pflanzen wohl auch intelligent sind? Koechlin zögert einen Augenblick. Sie ist schon oft angeeckt mit ihrem Verständnis der Pflanzenwelt. «Es kommt darauf an, was man unter Intelligenz versteht», sagt sie dann. Wenn man sich darunter adaptives Verhalten vorstelle, seien Pflanzen zweifellos intelligent; fähig, sich der Umwelt anzupassen, auf Veränderungen zu reagieren. Wie der Löwenzahn in ihrem Garten: Auf dem Kiesweg sei er kleinwüchsig, gleich daneben im Gras kräftig und hochgewachsen. «Das zeugt doch von einer ungeheuren Flexibilität im Bereich Wachstum und Entwicklung.»
Zwischen Mensch, Tier und Pflanze bestünden auf Zellebene unendlich viele Ähnlichkeiten – ein Zeugnis unseres gemeinsamen Ursprungs als Einzeller in der Ursuppe. «Ich wüsste nicht, warum Pflanzen weniger hoch entwickelt sein sollten als wir; sie sind einfach anders», sagt Koechlin. Die Frage, ob Pflanzen ein Bewusstsein haben, nach heutigem Erkenntnisstand die grundlegende Voraussetzung für Intelligenz, klammert Koechlin jedoch aus und lässt sie unbeantwortet.
Seit Jahrmillionen erfolgreich ist die Wollemia nobilis, die Dinosaurierpflanze. Erst 1994 wurde der urzeitliche Nadelbaum aus der Familie der Araucariaceae in einer unzugänglichen Schlucht in Australien entdeckt. Er zählt zu den wichtigsten botanischen Funden des 20. Jahrhunderts. Eine der seltenen Jungpflanzen – der Bestand im Hinterland Sydneys zählt nur rund 100 Exemplare – wächst seit 2007 in Basel.
Eine weitere Attraktion ist die Titanwurz (Amorphophallus titanum) aus Sumatra, deren mannshohe Blüte intensiven Verwesungsgeruch verströmt – «wie Fisch oder Erbrochenes», so Kurator Heinz Schneider. Damit lockt sie im Urwald Aasfliegen zur Bestäubung an. Diesen Winter soll die Titanwurz endlich blühen, nach 17 Jahren des Wartens. Es wäre das erste Mal in der Schweiz. Schneider erwartet für die eine Nacht der Blüte Tausende von Schaulustigen. Der Botanische Garten wird auf seiner Website mitteilen, wann es so weit ist.
Auch die Königin der Nacht (Selenicereus grandiflorus) zieht zur Blütezeit Scharen von Besuchern an. Der mittelamerikanische Kaktus produziert einmal pro Jahr eine der prächtigsten Blüten des Pflanzenreichs; sie stinkt nicht, sie duftet – nach Schokolade. Doch die Pracht ist vergänglich: Wenige Stunden nach Mitternacht beginnt die Blüte zu welken. Weshalb dieser Aufwand für eine Nacht? Bis heute gibt es keine gesicherte wissenschaftliche Beobachtung eines Blütenbesuchs. Die Forscher gehen aufgrund der Stilmerkmale der Blüte aber davon aus, dass sie von Fledermäusen bestäubt wird.
Spektakuläre Pflanzen wachsen auch im Viktoriahaus. Der Kuppelbau aus Glas wurde 1898 eigens für die Amazonas-Seerose (Victoria regia, Victoria amazonica) gebaut. Sie bildet Blätter mit bis zu zwei Metern Durchmesser, schiebt alles andere Grün zur Seite und beherrscht von Mai bis September das Mittelbecken im Gewächshaus. «Riesenseerosen sind so eng verstrebt, dass man darauf stehen könnte», weiss Koechlin. In den Nebenbecken gibt es weitere tropische Sumpf- und Wasserpflanzen zu bewundern: Mangroven, Reis, Schwimmfarne, Aronstabgewächse und Wasserhyazinthen. «Das Faszinierende an diesen Pflanzen ist, dass jede eine eigene Strategie entwickelt hat, um mit Fluten umzugehen», so Koechlin. Mangroven verankern sich mit Stelzfüssen, andere Pflanzen setzen auf Luftkissen, Reis wächst in die Höhe. Die Begeisterung der Pflanzenflüsterin ist ansteckend. So ansteckend, dass man sich vornimmt, den vernachlässigten Topfpflanzen zu Hause wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es muss ja nicht gerade ein Zwiegespräch sein.
Gewächshäuser: Warm durch den Winter
Botanischer Garten der Uni Basel
Schönbeinstrasse 6, 4056 Basel
Öffnungszeiten Gewächshäuser:
täglich 9–17 Uhr; Eintritt gratis
https://botgarten.unibas.ch/
Botanischer Garten der Uni Bern
Altenbergrain 21, 3013 Bern
Öffnungszeiten Schauhäuser:
täglich 8–17 Uhr; Eintritt gratis
www.botanischergarten.ch
Botanischer Garten St. Gallen
Stephanshornstrasse 4
9016 St. Gallen
Öffnungszeiten Tropenhaus:
täglich 9.30–12 Uhr und 14–17 Uhr
botanischergarten.stadt.sg.ch
Botanischer Garten der Uni Zürich
Zollikerstrasse 107, 8008 Zürich
Öffnungszeiten Schauhäuser:
Oktober bis Februar: täglich 9.30–16 Uhr
März bis September: Mo bis Fr 9.30–16 Uhr, Sa/So und allg. Feiertage 9–17 Uhr; Eintritt gratis
www.bguz.uzh.ch