«Es sind Tausende von Cybermobbing betroffen»
Ihre Tochter verübte vor drei Jahren Suizid. Seither kämpfen Nadya und Candid Pfister gegen Cybermobbing. Dafür hat das Ehepaar nun den Prix Courage 2020 erhalten. Was Pfisters diese Auszeichnung bedeutet.
Veröffentlicht am 30. Oktober 2020 - 21:13 Uhr
Beobachter: Herzlichen Glückwunsch zum Prix Courage! Was bedeutet Ihnen der Preis?
Nadya Pfister: Die Auszeichnung zeigt für uns, dass wir gehört worden sind mit unserem Engagement gegen Cybermobbing. Dass es gut ist, was wir tun. Und mutig.
Candid Pfister: Viele Menschen, ganze Familien, stehen hinter uns. Wir spüren grossen Rückhalt. Junge schreiben mir noch immer auf Instagram und Facebook unter dem Stichwort #célinesvoice. Wir danken allen Unterstützern sehr.
Sie exponieren sich mit dem grössten Leid, das Sie erleben mussten: Dem Suizid ihrer einzigen Tochter Céline nach wochenlangem Cybermobbing. Woher nehmen Sie diese Kraft?
Nadya Pfister: Von Céline. Sie fehlt mir so sehr, ihre Haut, ihre Haare, ihr Geschmack. Alles an ihr. Sie ist physisch nicht mehr hier, aber seelisch war sie nie weg. Wir haben sie von Anfang an ganz fest gespürt. Mein Glauben hilft mir auch. Und die Freundinnen und Freunde von Céline, die uns nie alleine gelassen haben. Ohne sie hätten wir die Kraft für unser Engagement gegen Cybermobbing nicht. Den Preis verdanken wir auch ihnen und allen Stimmen von #célinesvoice.
Candid Pfister: Nichtstun können wir gar nicht. Es ist ja nicht nur Céline, die unter Cybermobbing gelitten hat. Es sind Tausende Junge betroffen. Sie wollen wir besser schützen vor diesem brutalen Instrument.
Was wollen Sie mit Ihrem Engagement erreichen?
Nadya Pfister: Im Oktober trafen wir vier Jugendliche, die ihre Abschlussarbeit über Cybermobbing schreiben. Wir sprachen fünf Stunden mit ihnen. Ein Mädchen sagte, dass sie selbst eine Cybermobberin war. Dass sie mitgemacht habe und jetzt zuhören wolle. Uns hat das unglaublich berührt. Das ist sehr gross. Genau das ist unser Ziel: Wir können Cybermobbing nicht aus der Welt schaffen. Aber wir können sensibilisieren, damit das grosse Rudel begreift, was es anstellt. Damit die Jungen dem Mobbing im Chat nicht tatenlos zusehen. Damit sie einen Elternteil oder die Schule informieren, wenn es schlimm wird.
Die schweigende Mehrheit soll bei Cybermobbing mehr Zivilcourage zeigen?
Nadya Pfister: Unser Fall soll zeigen, was passieren kann, wenn alle nur zusehen. Céline war eine starke Persönlichkeit. Sie war präsent, hatte eine laute Stimme. Sie war nicht leise und verschupft. Darum meinten alle, sie halte die monatelange Hetze auf Snapchat aus.
Candid Pfister: Ihr Leid sah man ihr nicht an. Deshalb war ihr Suizid für alle so unvorstellbar.
Unterschätzen Erwachsene das Problem?
Candid Pfister: Bis jetzt schon. Das Ausmass von Cybermobbing ist vielen Erwachsenen nicht so bewusst wie den Jungen. Jeder vierte Jugendliche ist mindesten schon einmal online drangekommen. Viele Erwachsene können sich nicht vorstellen, was das bedeutet, da sie die Funktionsweise der Apps nicht begreifen.
Nadya Pfister: Gewisse Erwachsene verharmlosen das Problem. Wir zeigen der Öffentlichkeit die dunkelsten und hässlichsten Whatsapp-Nachrichten, die man sich überhaupt vorstellen kann. Wir zeigen allen, was im Handy eines Kindes passieren kann. Das berührt und schockiert.
Hat Célines Suizid aufgerüttelt?
Candid Pfister: Céline ist der erste öffentlich bekannte Cybermobbing-Fall der Schweiz, der mit Suizid geendet hat. Viele sind nun aufgewacht. Es ist leider so, dass immer erst etwas Schlimmes passieren muss, damit sich etwas bewegt.
Nadya Pfister: Viele haben begriffen, dass auf dem Handy ihrer Kinder oder Enkel sehr Gefährliches abgehen kann. Mit dem Handy kann man viel mehr kaputt machen als früher bei Mobbing auf dem Pausenplatz. Die Blossstellung eines Kindes hat online eine riesige Reichweite. Es braucht nur zwei Klicks dazu. #célinesvoice soll erreichen, dass die Politik etwas gegen Cybermobbing unternimmt.
Sie fordern einen Straftatbestand Cybermobbing. Weshalb?
Candid Pfister: Cybermobbing ist eine regelmässige und kontinuierliche Folter. Eine psychische Misshandlung einer Kinderseele. Deshalb ist Cybermobbing nicht einfach eine Einzelhandlung wie Nötigung.
Nadya Pfister: Zudem muss ich als betroffene Mutter vorsichtig sein. Nötigung ist zwar ein Offizialdelikt. Wenn ich aber eine Strafanzeige mache wegen Beschimpfung, erhalten die Täter die Daten. Mein Kind ist dann geoutet und erledigt. Cybermobbing muss ein Offizialdelikt werden, damit die Staatsanwaltschaft das von Amtes wegen verfolgen muss. Wir sind sehr froh, dass die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter einen Straftatbestand Cybermobbing fordert mit einer parlamentarischen Initiative.
In Lehrerausbildungen ist Célines Suizid ein Thema. Was können Schulen machen?
Candid Pfister: Einige Schulen haben den Kindern den Fernsehbeitrag der SRF-Sendung Rundschau über Célines Fall gezeigt und anschliessend diskutiert. Diese Sensibilisierung ist wichtig. Cybermobbing soll unter Jugendlichen verpönt sein.
Nadya Pfister: Viele Schulen reden das Problem schön. Die Lehrer schauen nicht hin, wohl auch weil sie zu wenig Zeit haben. Sie sollten bei Cybermobbing-Fällen aber immer wieder nachfragen – nicht beim Opfer, sondern bei den vermeintlich Unbeteiligten. Schön wäre, wen Cybermobbing zum Schulstoff wird. Wir wünschen uns, dass wir in Schulklassen eingeladen werden. Bisher haben Schüler immer extrem betroffen auf uns reagiert.
Was machen Sie mit dem Preisgeld von 15'000 Franken?
Candid Pfister: Ich bin seit März arbeitslos und Nadya arbeitet 50 Prozent. Das Preisgeld hilft uns dabei, unseren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Und hoffentlich reicht’s für einen leistungsstärkeren Laptop, um die Arbeit mit #célinesvoice zu vertiefen.
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