Bundesgericht stärkt den Kindesschutz
Das Bundesgericht hält fest: Massnahmen zum Schutz von Kindern müssen sofort durchgeführt werden – auch wenn noch offen ist, wer bezahlt.
Veröffentlicht am 20. August 2018 - 16:44 Uhr,
aktualisiert am 20. August 2018 - 16:00 Uhr
Es ging um einen Fall in Dübendorf im Kanton Zürich: Die Kindes- und Erwachsenschutzbehörde (Kesb) hatte im Jahr 2014 angeordnet, dass zwei Kinder einen Hort besuchen sollten. Weiter sollte sich ein Beistand um die beiden kümmern. Die Eltern waren einverstanden, sagten aber, dass sie kein Geld hätten, um die Massnahmen zu bezahlen. Die Dübendorfer Sozialbehörde jedoch weigerte sich einzuspringen. Sie war der Ansicht, die Eltern seien in der Lage, Hort und Beistand zu finanzieren.
So kam es, dass der Vater die Kinder wieder aus dem Hort abmeldete und niemand den Beistand zahlte. Dieser arbeitete eine Weile gratis, musste sein Engagement dann aber abbrechen. Statt dass die Kinder Hilfe erhielten, entwickelte sich ein Rechtsstreit um die Finanzierung der Hilfe. Dabei standen sich die Anwältin der Kinder und die Stadt Dübendorf gegenüber. Der Rechtsstreit gelangte bis ans Bundesgericht.
«Das Urteil schafft Klarheit.»
Diana Wider, Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz
Diesen Juli hat das Bundesgericht nun entschieden – zu Gunsten der Kinder. Es sagt: Die Stadt Dübendorf hätte die angeordnete Massnahme zahlen müssen, und zwar sofort und in vollem Umfang. Später hätte die Stadt immer noch versuchen können, das Geld von den Eltern oder allfälligen Dritten einzutreiben. Dabei stützt sich das Bundesgericht auf die Verfassung. Dort sei das Kindeswohl als Maxime des Kindesrechts festgeschrieben. Der Gesetzgeber müsse auf die Interessen von Kindern und Jugendlichen deshalb besondere Rücksicht nehmen. Kindesschutzmassnahmen seien rasch umzusetzen und dürften nicht verzögert werden durch Konflikte über die Zuständigkeit der Kostenübernahme.
Personen, die im Kindesschutz tätig sind, begrüssen das Urteil. «Es schafft Klarheit», sagt Diana Wider, Geschäftsleiterin der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES). Das Bundesgericht betone, dass der Staat die Massnahmen zum Kindesschutz bezahlen müsse – erst danach könne er Eltern oder Dritte zur Kostenübernahmen oder Kostenbeteiligung verpflichten. Wider betont die Bedeutung des Urteils: «Das Bundesgericht bekräftigt ganz allgemein: Dem Kindeswohl muss Präferenz eingeräumt werden - vor allen anderen Überlegungen.»
Erfreut zeigt sich auch Patrick Fassbind. Der Anwalt ist Leiter der Kesb Basel-Stadt und ein schweizweit anerkannter Kindesschutzexperte. Für ihn hat das Bundesgericht jedoch vor allem Recht gesprochen in einem Fall, der gar nicht hätte passieren dürfen. Die Vorleistungspflicht der öffentlichen Hand sei verfassungs- und bundesrechtlich zwingend. «Nur so wird garantiert, dass die Massnahme zum Wohl des Kindes rechtzeitig durchgeführt wird.»
Dennoch kam es zum Fall Dübendorf. Aber nicht nur dort. Gemäss Kindesschutz-Fachleuten werden auch in anderen Gemeinden immer wieder Massnahmen verzögert, erschwert oder verhindert, weil niemand die Kosten übernimmt. Wider und Fassbind sehen den Grund im Finanzierungsmodell. Dass Kindesschutzmassnahmen nicht durchgeführt werden, weil es Streit über die Finanzierung gibt, komme nur dort vor, wo die Gemeinden für die Finanzierung der Massnahmen zuständig sind. Etwa in Zürich, aber auch in Schaffhausen, Graubünden, Baselland, St. Gallen und Luzern. «Dort herrscht bei den Gemeindebehörden manchmal das Gefühl vor, die Kesb beschliesse über ihre Köpfe hinweg und sie hätten dann zu bezahlen», sagt Diana Wider.
«Die Kesb ordnet nur an, trägt kein Risiko.»
Jörg Kündig, Gemeindepräsidentenverband des Kantons Zürich
Tatsächlich sind solche Gefühle etwa im Kanton Zürich verbreitet. Dort sehen Gemeindevertreter das Urteil des Bundesgerichts denn auch vielerorts skeptisch. «Ich halte es für äusserst bedenklich», sagt Jörg Kündig, Präsident des Gemeindepräsidentenverbands des Kantons Zürich. Das finanzielle Risiko werde vollständig den Gemeinden übertragen. Die Kesb ordne nur an, trage kein Risiko, müsse die Eltern weder auf ihre finanziellen Möglichkeiten prüfen noch dazu auffordern, im Bedarfsfall ein Erstattungsgesuch an die Gemeinden zu richten. Damit werde auch das Subsidiaritätsprinzip «praktisch ausgehebelt» – das in Zürich geltende Prinzip, dass für Kindesschutzmassnahmen im Grundsatz die Eltern aufkommen müssen, erst danach Dritte und am Schluss die Gemeinden.
«Grundsätzlich sollte überall das Prinzip gelten: wer befiehlt, soll auch zahlen», sagt Kündig. Im Falle der Kesb-Entscheide gehe es den Gemeinden aber vor allem darum, bei den Massnahmen mitreden und sie mitbeurteilen zu können. «Auch für die Gemeinden ist das Kindeswohl wichtig. Sie haben aber ebenfalls die Aufgabe, die finanziellen Mittel haushälterisch und verantwortungsbewusst einzusetzen.»
Kesb-Leiter Patrick Fassbind hat für diese Haltung teilweise Verständnis. Wenn Gemeinden ohne Informationen bezahlen müssen, könne das zu Konflikten führen. «Und diese schaden auch der Kesb und ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung.» Fassbind empfiehlt deshalb eine Systemänderung. Erforderlich seien einzelfallunabhängige und lastenausgleichende Finanzierungsmodelle. Modelle also, die verhindern, dass eine kleine Gemeinde wegen einer einzelnen teuren Massnahme in finanzielle Schwierigkeiten gerät.
«Zu einem Fall Dübendorf kann es damit nicht mehr kommen.»
Patrick Fassbind, Kindesschutz-Experte
Im Kanton Basel-Stadt, wo Fassbind arbeitet, obliegt die Finanzierung der Kesb-Massnahmen beispielsweise dem Kanton. Ebenso handhabt es der Kanton Glarus und die gesamte Romandie. Aus diesen Gebieten seien ihm keine Konflikte zwischen Behörden und der Kesb bekannt, sagt Fassbind. Die besten Erfahrungen hat der Kesb-Leiter bisher aber in Bern gemacht, wo er früher selber Kesb-Präsident war. Dort spricht das Kantonsparlament der kantonalen Kesb jährlich ein Budget zu – basierend auf Erfahrungswerten. Die Kesb ordnet dann nicht nur Massnahmen an, sondern wickelt auch die Finanzierung ab. «Dem Prinzip ‹wer befiehlt, der zahlt›, wird Rechnung getragen.»
Die Kesb kann das Budget wenn nötig überziehen, muss dann aber beim Kantonsparlament einen Nachtragskredit beantragen und diesen begründen. «So werden Kindsschutz-Massnahmen sofort umgesetzt und die ganze Verantwortlichkeit liegt bei einer Behörde. Diese Behörde ist dann wie jede andere auch gegenüber der Politik Rechenschaft schuldig», sagt Fassbind. Ein solches Modell sei auch für kommunale Kesb möglich. «Zu einem Fall Dübendorf kann es damit nicht mehr kommen.»
Geraten Eltern an ihre psychischen oder physischen Grenzen und leidet das Kind unter Vernachlässigung oder ist in seinem Wohl gefährdet, schalten sich die Behörden mit entsprechenden Kindesschutzmassnahmen ein. Mitglieder des Beobachters erfahren, wie diese Massnahmen konkret aussehen und wie Aussenstehende auf Notsignale achten und reagieren können.