Das winzige Wesen zuckt, windet sich, verzieht den Mund. Der Puls sinkt ab auf 113, der kleine Körper bekommt nicht genug Sauerstoff – Lena hat vergessen zu atmen. Der Alarm geht los. Sofort ist Doreen Stahlbaum zur Stelle und öffnet eines der fünf Türchen des Inkubators.

«Du musst schon atmen, ganz ohne wird es nicht gehen», sagt die Pflegefachfrau mit leiser Stimme und streichelt der Kleinen dabei liebevoll über den Rücken. Das winzige Kind beruhigt sich wieder, seine Herzfrequenz steigt an auf gesunde 181 Schläge pro Minute.

Lena liegt auf der Intensivstation der Neonatologie in der Frauenklinik des Zürcher Universitätsspitals und kämpft um ihr Leben. Ihr Körper ist über Elektroden mit einem Monitor verbunden, der ihre Herzfrequenz, die Körpertemperatur und die Atmung überwacht und – wie eben – Alarm gibt, sobald bestimmte Werte unterschritten werden.

Das Mädchen und Zwillingsbruder Jonas wogen 760 und 850 Gramm, als sie bereits in der 26. Schwangerschaftswoche auf die Welt drängten. Jetzt liegen die beiden in zwei nebeneinander stehenden Brutkästen, werden über Magensonden ernährt und mit einer Sauerstoffmaske beim Atmen unterstützt. «Als ich Lena und Jonas das erste Mal sah, traute ich mich kaum, sie anzufassen», erzählt Mutter Silvia Bösch. «Sie kamen mir vor wie kleine Vögelchen. So zart, so zerbrechlich.»

Die Gänge der Neonatologie sind mit Betten und Inkubatoren voll gestellt. Technisches Gerät türmt sich in den in gedämpftes Licht getauchten Zimmern. Leises, manchmal lauteres Piepsen erfüllt die vollen Räume. Es ist ein Kommen und Gehen: Geschäftige Pflegende in königsblauen Hosen und Kitteln bevölkern die Station. Eine von der Geburt erschöpfte Frau liegt in einem Spitalbett auf dem Korridor – ihr Neugeborenes in einem der Bettchen. Ein Vater mit Mundschutz beugt sich über sein schlafendes Kind. Leise schliesst eine Mutter die Tür zum Stillraum.

Von der Glasscheibe zum Korridor winkt die Biene Maja. Mowgli tanzt, und Winnie the Pooh gähnt. Eine gute Seele hat sich hier künstlerisch betätigt – im Versuch, der nüchternen, technologisierten Umgebung ein wenig Kinderfreundlichkeit abzutrotzen. Und nur wer näher tritt, entdeckt die Patienten, um die es hier geht: winzig kleine Menschen, die das Licht der Welt um Wochen oder gar Monate zu früh erblickt haben.

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Hochbetrieb im Korridor
Gegenwärtig sind alle 25 Bettchen belegt, auch die acht in der Intensivstation. Das kleinste Frühchen, Anastasia, wiegt gerade einmal 640 Gramm, Titus, der nur sechs Wochen zu früh kam, gehört zu den Kräftigeren. An den Wänden hängen Fotos von Kindern, die einst hier lagen und heute gross und gesund sind: Annika (26. Schwangerschaftswoche) am Strand oder Salvatore (28. Schwangerschaftswoche) mit seinem glänzenden Zeugnis. Die Bilder sollen den Eltern Hoffnung geben.

Wie fleissige Arbeiterbienen verrichten die vielen Pflegefachpersonen – auf zwei Kinder kommt eine Pflegerin – die Routinearbeiten: wickeln, verrutschte Sonden fixieren, zum x-ten Mal Hände desinfizieren, Säuglinge umdrehen, Säuglinge waschen, Blut nehmen, mit der Lupe Katheter legen. Und natürlich mit den Winzlingen sprechen, sie hätscheln und streicheln. «Man pflegt und engagiert sich mit Herz und Seele, baut dadurch eine enge Beziehung zu den Kindern auf, die man betreut», sagt Kinderpflegefachfrau Edith Gratza. «Wenn dann ein Kind stirbt, berührt einen das sehr.»

Während hier unten emsiges Treiben herrscht, ist fünf Etagen höher, auf dem J-Stock, grösstmögliche Ruhe angesagt. Dort warten jene Frauen auf ihre Entbindung, bei denen die Gefahr einer Frühgeburt besteht. Es geht um Wochen und Monate; im frühen Stadium kann gar jeder gewonnene Tag über Leben und Tod, Gesundheit oder Behinderung entscheiden.

Wie Bienenköniginnen werden die Schwangeren deshalb umsorgt und gehätschelt. Es geht nicht nur darum, für das leibliche Wohlergehen der Frauen zu sorgen. Es gilt auch, jegliche Aufregung, alles, was Angst machen könnte, von dieser Abteilung fern zu halten. Eine Hochschwangere geht konzentriert im ansonsten menschenleeren Gang auf und ab, die Hände ins Kreuz gestützt und einen «Tannenbaum», wie Infusionsständer salopp genannt werden, im Schlepptau. Liegen kann mit der Zeit schrecklich anstrengend sein.

Marion Engeler wurde in der 26. Woche mit vorzeitigen Kontraktionen eingeliefert und erlitt zudem eine Thrombose. Die zierliche 27-Jährige ist mit Zwillingen schwanger und liegt schon seit dreieinhalb Wochen hier. Langweilig sei es ihr nicht, winkt die junge Frau ab. Die Tage sind erfüllt mit Mahlzeiten, verschiedenen Untersuchungen, der Arztvisite. Jede Frau hat einen eigenen Fernseher, die meisten bekommen mehr oder weniger häufig Besuch. Gedanken darüber, was alles sein oder passieren könnte, mache sie sich nicht, sagt Engeler. «Man hangelt sich von Woche zu Woche durch, verdrängt die Gedanken an den Tod, an Behinderung.»

Andere wiederum gehen offen und aktiv mit ihren Ängsten um. Wie etwa Augustina Schlumpf, deren Kind trotz der 39. Woche erst 1600 Gramm wiegt. «Ich bin seit sieben Wochen hier und kämpfe um das Leben meines Kindes und gegen meine Angst», sagt die 36-Jährige. «Aber ich habe ein Ziel. Darum halte ich es gut aus.» Die gebürtige Indonesierin hat bereits ein Kind in einer Eileiterschwangerschaft verloren. Nun schreibt sie im Spitalbett auf dem Laptop ein Tagebuch an ihre ungeborene Tochter und hofft, dass diese das Geschriebene eines Tages dann auch wird lesen können.

Die grosse UngewissheitSoeben stösst eine neue Patientin dazu. Die Angst um ihr Ungeborenes ist ihr ins Gesicht geschrieben, Tränen kullern ihr über die Wangen. Eine Tasche hat sie nicht dabei, die Einweisung muss sie gänzlich überraschend getroffen haben. Jetzt sitzt sie verloren auf dem Bett, das möglicherweise für längere Zeit ihr hauptsächlicher Aufenthaltsort sein wird. Das Tablett mit dem Mittagessen scheint sie nicht wahrzunehmen. «Essen Sie erst mal was», rät ihr die Hebamme im Bemühen um Normalität.

Die Ängste, das Hoffen und Warten auf dem J-Stock blieben Silvia Bösch erspart. Dafür müssen sie und ihr Mann um das Leben ihrer Kinder bangen. Immerhin darf die frisch gebackene Mutter ihre Zwillinge einmal am Tag «känguruhen». Dabei werden die Frühchen aus dem Brutkasten genommen und der Mutter oder auch dem Vater für mindestens eine Stunde auf die nackte Brust gelegt. Um die Kleinen vor Zugluft und Kälte zu schützen, werden sie mit Stoffwindeln, Fellen und Decken eingemummelt, bis fast nichts mehr von ihnen zu sehen ist. Damit Silvia Bösch ihr Kind aber nicht nur spüren, sondern auch sehen kann, reicht ihr eine Pflegerin einen Spiegel, mit dem sie beobachten kann, wie ihr Sprössling den Körperkontakt geniesst.

Es ist 13.30 Uhr. Das 20-köpfige Stationspersonal trifft sich vor dem Schichtwechsel zum Rapport. Hauptthema: Gewicht und Nahrungsaufnahme der kleinen Patienten. Silvia Bösch stellt eine Flasche mit Muttermilch in den Kühlschrank. Nach vier Stunden auf der Neonatologie geht sie nun nach Hause. Noch einmal desinfiziert sie ihre Hände, streichelt erst Lena, desinfiziert nochmals, streichelt dann Jonas. Morgen wird sie wiederkommen.