Als ich mit dem Leben abschloss...
Monika Leuthold, 57, aus Willisau hat unter Schneemassen verschüttet überlebt.
Veröffentlicht am 31. Oktober 2011 - 08:26 Uhr
«Es rauschte hinter mir, und zwar viel zu stark. Ich wollte weg. Fast kam es mir vor, als würde ich getragen. Wie beim Schwimmen. Nur Davonschwimmen, das ging nicht. Meine Arme und Beine bewegten sich nicht im Weiss, das auf mich zudonnerte, gewaltig und hart, als ich auf einem verschneiten Weg war Richtung Tschamut, am Ende einer Skitour.
Erst jetzt realisiere ich, wo ich bin. Dieses Prasseln, das war der Schnee, unter dem ich nun begraben liege. Ich muss raus aus ihm. Mir Raum und Atem verschaffen. Aber meine Beine, wo sind sie? Ich spüre sie nicht. So wenig wie die Arme. Unbeweglich. Gefangen. Nur das rechte Augenlid lässt sich heben. Dann geht es nicht mehr zu. Da ist kein Platz mehr. Nur harter Schnee. Seine Schwärze drückt sich an mich. Kein Hoffnungsschimmer dringt durch die Finsternis.
Hilfe – !
Der Schnee erstickt meinen Schrei. Er quetscht mich. Presst die Luft aus meiner Lunge, und neue bringe ich keine mehr hinein.
Nach einer Viertelstunde in einer Lawine sind die meisten Menschen tot. Nach einer halben Stunde fast alle.
19. März 2006, Oberalppass.
Werde ich ersticken?
Allein.
Mein Mann und meine beiden Töchter, sie werden mich nicht finden. Oder nicht rechtzeitig. Jetzt ist die Lawine totenstill.
Ich verspüre keinerlei Schmerz. In der Enge der kalten Dunkelheit hat er sich aufgelöst. Alles um mich herum scheint sich aufzulösen. Aber noch sind da Bilder. Davon habe ich einmal etwas gelesen. Jetzt also sterbe ich.
Ruedi, mein Mann. Er spricht mit mir. Und ich mit ihm. Nächstes Bild. Angelika, Cornelia, Samuel: Lebt wohl. Nächstes Bild. Mutter. Nächstes Bild. Mein Vater: Geh noch nicht, bleibe. Nächstes Bild. Du? Dich wollte ich nie mehr sehen. Ich verzeihe dir. Bitte verzeihe auch du mir. Nächstes Bild. Manchmal fällt das schwer, aber am Ende ist alles gut. Bei allen. Nächstes Bild, das letzte.
470.
Die Zahl wird später in den Notizen stehen, die ich im Krankenhaus festzuhalten beginne. Wie alles, was ich noch weiss oder von dem ich weiss, dass ich es vergessen habe. Ich werde vom Film schreiben, der vor mir abgelaufen ist, von der Kindheit bis zur Lawine, den ich verlangsamen, beschleunigen und sogar verändern konnte. Ich werde von dem Wesen schreiben, dessen Präsenz ich förmlich spürte und das mich fragte, ob ich noch etwas wissen wolle.
Wer ist Gott? Wie funktioniert Blutgerinnung? Und wie geht das schon wieder mit diesen verflixten mathematischen Funktionen? Viele Fragen. Jeder Funken Wissen macht nun Sinn. Mein gesamtes Leben, lückenlos und bis zur Lawine, macht Sinn. Hat Sinn gemacht, weil ich lebte. Ich, die Skeptikerin. Mit einem Mal fühle ich ihn, diesen unbeschreiblichen Frieden.
Nie war ich glücklicher.
Jetzt ist alles gut, bald bin ich da.
Mir ist «sturm».
Ich höre einen Helikopter. Und mit ihm ist alles wieder da, die Schmerzen, die Schwere.
«Sie lebt!», höre ich sie rufen, und das Erste, was ich sehe, sind glückliche Gesichter.
Eine halbe Stunde lang – ich müsste dankbar sein. Aber ich bin traurig. So traurig. Warum?
Dass ich kopfüber und senkrecht im Schnee steckte, die Füsse in den Skischuhen gegen oben, lächerliche 30 Zentimeter unter der Oberfläche: Das kann ich fast nicht glauben.
Diese unsäglichen Schmerzen. Trümmerbruch im linken Arm, der andere gelähmt, vier Rippen gebrochen, ein Loch in der Lunge, das rechte Auge verletzt, das linke Bein gebrochen, sagen die Ärzte. Intensivstation. Wochenlange Reha. Bleibende Schäden.
Heute, bald fünf Jahre später, fühle ich mich manchmal noch immer wie in der Mitte einer Brücke: Ich schaue ins Leben, aber auch zurück in den Tod.
Ich mag nicht sterben. Ich versuche jeden Tag zu geniessen. Aber doch spüre ich sie, tief in mir drin, die Sehnsucht nach dem Frieden.»
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