Am Ende zahlt der Patient
Heimbewohner zahlen viel zu viel für ihre Pflege. Das ist illegal. 2011 soll es ändern – doch Heime, Kantone und Krankenkassen schieben die Kosten weiterhin ab.
Veröffentlicht am 1. März 2010 - 10:39 Uhr
Fünfeinhalb Jahre lang pflegte René Lütold seine Frau, die einen Hirnschlag erlitten hatte, zu Hause. Dann konnte er nicht mehr: «Ich war am Ende meiner Kräfte, hatte 25 Kilo abgenommen, viele Freunde verloren.» Im April 2007 kam die Patientin daher ins Bülacher Alterszentrum im Grampen – und Lütold musste ab sofort rund 7000 Franken pro Monat zahlen.
Eigentlich sollten die Krankenkassen schon seit 1996 die medizinische Grundpflege in Heimen vollumfänglich übernehmen. Weil aber Bund, Kantone und Krankenkassen eine Kostenlawine befürchteten, wurden damals – vor allem für schwere Pflegefälle – viel zu tiefe Rahmentarife fixiert. Für diese vom Bund definierten Beträge gilt offiziell der sogenannte Tarifschutz, die Heime dürfen also den Patienten für diese Leistungen keine darüber hinausgehenden Kosten verrechnen. Weil die festgelegten Tarife aber oft nicht einmal die Hälfte der tatsächlichen Pflegekosten decken, wird die Differenz dennoch bei den Heimbewohnern kassiert – via überrissene Pensionspreise und frisierte Betreuungstaxen. Das verstösst zwar gegen das Gesetz, aber Politik, Krankenkassen und Heime mogeln sich da in unheiliger Allianz durch.
Um Einnahmen zu erzeugen, haben die Heime allerlei Kniffe etabliert. Das musste auch René Lütold erfahren. Als er den Heimvertrag unterschreiben sollte, störte ihn ein Passus: Zusätzlich zur höchsten Pflegetaxe beanspruchte das Heim die Hilflosenentschädigung der AHV für sich – sozusagen als separaten Pflegekostenzuschlag. Dabei steht die Hilflosenentschädigung von aktuell 912 Franken pro Monat laut Gesetz nicht dem Heim, sondern dem Pflegebedürftigen zu. Der Beitrag wird unabhängig von Einkommen und Vermögen an stark pflegebedürftige Personen ausgerichtet. Damit können sie Hilfsleistungen finanzieren, die sie im Alltag benötigen, etwa beim An- und Auskleiden oder für Hilfe beim Essen.
Nicht nur das Bülacher Alterszentrum im Grampen kassiert die Hilflosenentschädigung. Zum Beispiel auch das Alters- und Pflegeheim Furttal, das Pflegeheim am See in Küsnacht ZH oder das Pflegeheim Sunnhalde in Untersiggenthal AG tun es gemäss hauseigener Taxordnung generell oder in Einzelfällen. Es ist kaum möglich, sich dagegen zu wehren. René Lütold: «Ich wollte den Vertrag zuerst nicht unterschreiben. Da haben sie mir gesagt, ich könne meine Frau gleich wieder mitnehmen.» Zähneknirschend willigte er ein. Als man Ende 2007 die Preise für Pflege und Unterkunft erhöhte, wurde es für ihn gar noch teurer.
Das wollte der heute 76-jährige Lütold nicht auf sich sitzen lassen. Er verlangte eine detaillierte Begründung für die monatlichen Rechnungen über gut 10'000 Franken für sogenannte Hotelkosten sowie für Pflege und Betreuung – die Krankenkasse übernahm total nur 2400 Franken. Die Heimleitung antwortete offen: Als gemeinnützige Stiftung trage man hohe Hypothekarbelastungen, und ein Subventionsgesuch hätten die Stiftergemeinden abgelehnt. Daher müsse man so viel verlangen – unter anderem pro Tag und Patient 20 Franken für Zinsen und Amortisation sowie weitere 20 Franken für Administration
In der höchsten Pflegestufe wurden 192 Franken pro Tag für Pflege und Betreuung verrechnet plus die monatliche Hilflosenentschädigung einkassiert, also weitere 30 Franken pro Tag. «Da wir die Pflege für Ihre Frau übernehmen, steht uns diese Entschädigung zu», heisst es im Brief der Heimverwaltung. Die Pflegetaxe sei nämlich «nicht kostendeckend» – was nichts daran ändert, dass mit diesem Vorgehen für die Pflegeleistung zweifach kassiert wird. Zugleich wurde die einverlangte Hilflosenentschädigung in eine zusätzliche tägliche «Taxe für aufwendige Pflege» umbenannt – ein Etikettenschwindel. Immerhin gestand das Heim zu, die entsprechende Regelung sei schweizweit nicht einheitlich.
Verstösst diese Praxis nicht gegen den gesetzlichen Tarifschutz? René Lütold schrieb an das Bundesamt für Sozialversicherungen und das Bundesamt für Gesundheit, wandte sich an die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter, konsultierte den Preisüberwacher. Resultat: Die Einforderung der Hilflosenentschädigung sei rechtlich fragwürdig und eine zusätzliche Verrechnung von Pflegeleistungen über die vom Bund fixierten Tarife hinaus klar rechtswidrig.
Lütold rechnete nach und kam auf rund 46'000 Franken, die er zu viel gezahlt hatte, ehe seine Frau im April 2008 verstarb. Um eine Rückzahlung durchzusetzen, müsste er allerdings den Rechtsweg beschreiten, der voller Fallstricke ist. Nur in Einzelfällen zahlten Heime bisher Beträge zurück oder verzichteten auf ihre Forderungen. Teilweise wurde zahlungsunwilligen Heimbewohnern gekündigt. Ein allgemeinverbindliches Grundsatzurteil existiert nicht.
Im Seilziehen um die Pflegefinanzierung sind auch die Heime in einer ungemütlichen Lage. Ihnen bleibt oft keine andere Wahl, als sich an den Bewohnern schadlos zu halten. Im Kanton Zürich etwa werden sie dazu gar explizit aufgefordert. In einem Kreisschreiben der Gesundheitsdirektion heisst es: «Allfällige von den Pflegeheimen ausgewiesene, nach Abzug von Krankenkassenleistungen und Subventionen verbleibende ungedeckte Pflegekosten können nach unserer Auffassung weiterhin den Patienten fakturiert werden.» In der Regel werden diese dann als zusätzliche «Betreuungsleistungen» ausgewiesen. Wie im Fall Lütold wird so auch das Einkassieren der Hilflosenentschädigung, unter welchem Titel auch immer, abgesegnet und der Tarifschutz mit kantonalem Segen ausgehebelt.
Mit der gesetzlichen Neuordnung der Pflegefinanzierung soll das Trauerspiel auf Kosten der Pflegebedürftigen ab 2011 beendet werden – falls die bremsenden Kantone ihre Gesetze bis dann tatsächlich angepasst haben. Auf dem Papier präsentiert sich die Lösung wie folgt: Die Krankenkassen zahlen neu schweizweit einheitliche Beiträge je nach Pflegebedarfsstufe, wobei der kassenpflichtige Höchstbeitrag aktuell auf 108 Franken beschränkt wird (siehe Grafik). Total decken die Kassen damit rund 55 Prozent der Pflegekosten. Der Beitrag der Pflegebedürftigen wird ebenfalls begrenzt: auf höchstens Fr. 21.60 pro Tag. Ein Einkassieren der Hilflosenentschädigung durch das Heim ist nicht mehr möglich: Reichen Kassen- und Bewohnerbeiträge nicht aus, regelt der Kanton die Restfinanzierung.
Dabei geht es um sehr viel Geld. So beziffert der Heimverband Curaviva die Deckungslücke allein für den Kanton Zürich mit 234 Millionen Franken (Kostenbasis 2008). Hochgerechnet auf die ganze Schweiz, wären das 1,3 Milliarden Franken.
Zurzeit läuft in den Kantonen die Vernehmlassung zur neuen Pflegefinanzierung. Das Gefeilsche geht bereits bei der Kostenbasis los, wie das Beispiel Zürich zeigt. Dort kalkuliert der Kanton mit 170 Millionen Franken weniger Pflegekosten als die Heime. Curaviva lehnt denn auch den vorliegenden Gesetzesentwurf rundweg als nicht umsetzbar ab: «Die vorgeschlagene Lösung wird zu jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen führen» – mit den Pflegebedürftigen als Hauptleidtragenden.
Der Entwurf sieht vor, dass jede der 171 Zürcher Gemeinden mit den Pflegeheimen separat Leistungsaufträge aushandelt. Das schränkt aber auch die freie Heimwahl für viele Pflegebedürftige ein. Die Restfinanzierung sollen grösstenteils die Gemeinden tragen. Der Kanton will sich nur an den dadurch entstehenden Defiziten und je nach Finanzkraft der jeweiligen Gemeinde beteiligen. Die Heime befürchten dadurch Uneinheitlichkeit und ein Tarifchaos.
Sogar Preisüberwacher Stefan Meierhans klopft den Kantonen auf die Finger: Bei der Neuordnung der Pflegefinanzierung «trifft ein soziales Anliegen auf finanzpolitisches Kalkül», meint er in einem Rundschreiben an die zuständigen kantonalen Stellen.
Hinzu kommt: Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren hält einen Höchstwert für Pflegetaxen für zulässig. Für Meierhans ist das ein Verstoss gegen den gesetzgeberischen Willen: Wenn die Kantone maximale Beiträge festlegen, bekommen Heime mit Pflegekosten über der Norm ein Problem. Übernimmt etwa ein Kanton die Restfinanzierung nur bis maximal 160 Franken pro Tag, weist das Heim aber belegbare Pflegekosten von 200 Franken aus, sind 40 Franken ungedeckt. Die Gefahr ist gross, dass die Heime diesen Betrag wieder über die Hintertür bei den Heimbewohnern hereinholen müssen.
In der neuen Pflegefinanzierung zahlen die Krankenkassen für alle Heime in der Schweiz einheitliche Beiträge je nach Pflegebedarfsstufe. Die maximale Belastung für Heimbewohner liegt bei Fr. 21.60 pro Tag – und darf in keinem Fall überschritten werden.