«Gehts, Frau Hadorn?»
Sieben Monate nach der Geburt der Tochter nimmt sich der Ehemann der 31-Jährigen das Leben. Auf den wahr gewordenen Alptraum folgt zunächst die grosse Leere - dann das Schuldgefühl.
Veröffentlicht am 7. Mai 2007 - 12:03 Uhr
Während der Nacht bevor die Polizisten kamen, träumte ich, wie sich mein Mann von mir verabschiedete. Er bat mich um Vergebung dafür, dass er jetzt nicht mehr zurückkommen könne. Am nächsten Tag läuteten die Polizisten Sturm an meiner Haustür. Sie legten mir einen Zettel hin. «Obduktion ergab Suizid durch Ersticken, keine Fremdeinwirkung. Leichnam befindet sich im Leichenschauhaus 10557 Berlin-Tiergarten.» Zwei Wochen nach seinem Verschwinden wusste ich, dass sich Marc in einem Berliner Hotel das Leben genommen hatte.
«Gehts, Frau Hadorn?», fragte mich einer der Polizisten. «Natürlich, es muss» - die ersten Monate funktionierte ich für meine sieben Monate alte Tochter, nur für sie. Ich ass kaum mehr. Wenn ich nach draussen ging, kam es mir vor, als spazierte ich auf einem anderen Planeten.
Zum letzten Mal sah ich meinen Mann am frühen Nachmittag im Treppenhaus. Er müsse Überstunden abbauen, erklärte er mir. Ich ahnte nicht, dass dies ein Abschied für immer war. Als er nicht mehr nach Hause kam, nahm mich bei der Polizei zuerst niemand ernst. «Er ist sicher bei einer anderen Frau», beschwichtigte mich einer, «oder sitzt in einer Beiz und lässt sich volllaufen.» Doch Marc liebte mich und trank nie, weil er stets die Kontrolle über sich behalten wollte.
Ein kleiner Teufel im Nacken
Ein halbes Jahr bevor er sich selbst tötete, sagte er mir, er sei noch nie so glücklich gewesen. Er war hyperintelligent, wusste, was er wollte, und steckte voller Lebensfreude. Es war wie im Märchen: Wir konnten uns unsere Träume erfüllen, und er hatte fast zwei Jahre Ruhe von seinen dunklen Ichs. Natürlich war er manchmal sehr eigen, aber das liebte ich an ihm.
So alberten wir einmal auf einem Spaziergang herum, bliesen uns gegenseitig Pusteblumen ins Gesicht. Plötzlich flog ein Blatt in sein Haar. Er wurde furchtbar wütend und fuhr mich harsch an. Oder er verlangte aus dem Nichts heraus im neunten Monat meiner Schwangerschaft einen Vaterschaftstest, obwohl er ganz genau wusste, dass er der Vater war. Er sprach dann von einem eiskalten Händchen, das ihn wie ein kleiner Teufel ritt. Damals erkannte ich darin kein Krankheitsbild.
Heute denke ich, dass es eine psychische Krankheit war, die schliesslich dazu führte, dass er sich selbst für seine dunklen Seiten richtete. Es war eins seiner dunklen Ichs, das gewann. Dazu passt, dass er seine Abschiedsnotiz mit dem Pseudonym Thomas Richter unterschrieb. «Bitte verzeiht ihm, er kann nichts dafür», schrieb er über sich selbst in der dritten Person. Da war mir klar, das war nicht jener Marc, der mich und meine Tochter liebte. Er glaubte wohl, dass wir ohne ihn besser lebten.
Vieles, was in den letzten drei Tagen seines Lebens passierte, bleibt ungeklärt. Wozu brauchte er sein Erspartes von 80'000 Franken? Wieso ist sein Ehering verschwunden? Was unternahm er, bevor er sich in einem Berliner Hotelzimmer mit einem Plastiksack über dem Kopf erstickte? Als die Polizei feststellte, dass er Suizid begangen hatte, war für sie die Sache erledigt. Für mich jedoch ist es heute noch schlimm, nicht zu wissen, was genau passiert ist. Ich suchte so verzweifelt nach Antworten, dass ich sogar einem Scharlatan 1000 Franken bezahlte, der behauptete, er könne mit Toten reden.
Ich machte mir lange Zeit Vorwürfe. Ich hätte doch etwas merken müssen. Ich fühlte mich schuldig, glaubte, ohne mich wäre das nie passiert. Vielen Hinterbliebenen geht es so: Sie schämen sich, deshalb reden sie nicht darüber. Suizid ist immer noch ein Tabu. Auch ich musste mich rechtfertigen. Doch statt mich in eine Ecke zurückzuziehen und zu schweigen, schrieb ich alles nieder und stellte es ins Internet. Damit möchte ich das Tabu Selbstmord brechen.
Im Zimmer meiner dreieinhalbjährigen Tochter Leonie hängen Bilder von ihrem Vater. Wenn wir spazieren gehen, erzähle ich manchmal, wie gern er in der Aare geschwommen ist. Sie beginnt jetzt zu fragen, warum ihr Papi gestorben ist. Ich erkläre ihr dann, dass er krank war, krank im Kopf und jetzt als Engel bei uns ist. Man darf ihn weder verdrängen noch auf einen goldenen Sockel stellen. Am schlimmsten fände ich es, wenn wir ihn totschweigen würden. Er wird immer zu uns gehören.
Das Herz schlägt wieder schneller
Wenn ich höre, dass jemand von einer Brücke gesprungen ist, bin ich wütend auf den Selbstmörder. Denn viele Hinterbliebene kommen damit nicht klar. Sie fragen sich ihr Leben lang: «Was hätte ich anders machen können?»
Jeder Suizid ist anders, und doch glaube ich, dass Prävention möglich wäre. Wie bei der Aidsprävention müssten Jugendliche und deren Eltern über psychische Krankheiten aufgeklärt werden. Ich habe viele Ideen, wie diese Prävention funktionieren könnte. Doch mit meinen Vorschlägen stosse ich auf taube Ohren: Überall fehlt es an Geld.
Wenn ich das Leben zurückspulen könnte, würde ich nichts anders machen. Trotzdem fühle ich mich manchmal von Marc im Stich gelassen. Vor einem Jahr verliebte ich mich wieder. Ich fragte mich: Darf ich das ohne schlechtes Gewissen? Ich entschied mich für die Liebe und liess zu, dass mein Herz wieder schneller zu schlagen begann.