Motzen, Wutausbrüche, Türenknallen, beleidigter Rückzug. Und das tagtäglich. «Unsere einst gemütliche Stube wurde zur reinen Kampfarena. Manchmal glaubte ich, vor Wut verrückt zu werden, manchmal war ich einfach nur noch traurig und enttäuscht», erinnert sich die allein erziehende Mutter von Laura. Natürlich habe sie sich darauf vorbereitet, dass die Pubertät schwierige Jahre bringen würde. Aber derart nervenaufreibend hatte sie es sich nicht vorgestellt. «Es ging mir einfach zu schnell. Innerhalb von wenigen Wochen wandelte sich meine Tochter vom süssen und umgänglichen Mädchen in eine unflätige und regelbrechende Primadonna.» Die Mutter suchte nach Erklärungen und bekam keine. Also meldeten sich Versagensgefühle, der zermürbende Verdacht, in den vergangenen 15 Jahren erzieherisch alles falsch gemacht zu haben. «Ich gab mir redlich Mühe, sie zu verstehen, und räumte ihr grosse Freiheiten ein.»

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Laura sieht es ganz anders: «Ich fühlte mich total unverstanden, bevormundet und eingesperrt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mich meine Mutter daran hindern wollte, Spass zu haben und eigenständig zu werden.» In den letzten Sommerferien eskalierte der Generationenkonflikt: Als Laura sich trotz Hausarrest – verhängt wegen mehrmaligen verspäteten Nachhausekommens – an eine Party schlich, empfing sie ihre Mutter mit einer Ohrfeige. Laura haute ab – mit 60 Franken im Portemonnaie, Schminkutensilien und ihrem kleinen Plüschhund im Rucksack.

Im Freien übernachtet
Drei Tage fand sie Unterschlupf bei einer Schulkollegin, die sturmfreie Bude hatte. Als deren Eltern zurückkehrten, versuchte Laura im Freien zu übernachten. «Ich habe kein Auge zugetan, fürchtete mich schrecklich und habe stundenlang geweint.» Schliesslich fuhr sie mit dem Taxi zur jüngeren Schwester ihrer Mutter. Doch sie weigerte sich standhaft, nach Hause zu gehen.

«Als mir meine Schwester telefonisch mitteilte, dass Laura bei ihr sei, habe ich vor Erleichterung nur noch weinen können», erinnert sich die Mutter. Denn drei Tage zuvor, als sie in panischer Angst bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, sei ihr klar geworden, dass ihr die eigene Tochter zwar fremd geworden war, dass sie sie aber noch genauso liebte wie am Tag ihrer Geburt.

Nach vierzehn Tagen kehrte Laura zurück. Als Erstes möblierten die beiden Lauras Zimmer neu, das definitiv kein «Kinderzimmer» mehr war. Dann setzten sie sich an den Tisch, handelten eine Art Vertrag für das Zusammenleben aus und setzten ihre Unterschrift dazu. «Alle Probleme löst er natürlich nicht», sagt die Mutter, «aber erstens mahnt er uns an jene schlimme Zeit, und zweitens zwingt er uns zum Dialog, wenn Änderungen anstehen.» Und diese stehen bald an: Im August beginnt Laura eine Lehre – ausserdem ist sie zum ersten Mal «ernsthaft verliebt».

Verlässliche Statistiken, wie viele Kinder und Jugendliche «auf Kurve» gehen, gibt es nicht. Viele Eltern verzichten auf eine Vermisstenanzeige – teils weil sie ahnen oder wissen, wo ihr Kind untergetaucht ist, teils weil Schuld- und Schamgefühle sie daran hindern. «Noch immer ist das Abhauen mit Tabus und Klischees belegt», sagt der Zürcher Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. «Mütter und Väter empfinden es als Schande, wenn die Schule, Verwandte, Nachbarn und Behörden erfahren, dass in dieser Familie etwas nicht stimmt.» Und dabei, so Guggenbühl, seien elterliche Ohnmachtsgefühle völlig normal. Gemäss Studien empfinden mehr als die Hälfte aller Eltern die Erziehung als «schwierig» bis «sehr schwierig».

In seinem Buch «Pubertät – echt ätzend» spricht Guggenbühl allen Eltern auf dem pubertären Prüfstand Mut zu: Sie müssen nicht alles jederzeit im Griff haben und regeln können. Chaos, Abgrenzung und Entfremdung gehören in der Ablösungszeit zum Familienalltag, bis die Jugendlichen ihre neue Rolle als Erwachsene gefunden haben.

Vor fünf Jahren führte das Pädagogische Institut der Universität Zürich eine Untersuchung durch. Das Resultat war erschreckend: In der Schweiz laufen jedes Jahr rund 4000 Jugendliche davon – etwa gleich viele Mädchen wie Jungen. Drei Viertel sind 14 bis 18 Jahre alt. Die meisten Ausreisser entfliehen im Sommer, kurz vor Ferienende. Mag das Problem «Eltern» vorübergehend «gelöst» sein, so müssen viele Jugendliche schnell einsehen, dass auch die grosse Freiheit draussen nach Regeln funktioniert und nicht nur Rosinen bereithält. Im Durchschnitt kehren die Zugvögel nach etwa zwei Wochen zurück.

Dem Abhauen haftet der Beigeschmack von Verwahrlosung, Liederlichkeit und krimineller Tendenz an. Doch damit werde man vielen wohlüberlegten Abgängen nicht gerecht, meint Reinhard Fatke, Sozialpädagoge und Leiter der Untersuchung. Das Abhauen deute weniger auf einen labilen Charakter hin als auf eine «schon recht starke Persönlichkeit».

Nicht nur «Loser»-Typen Auch Bea Leuppi, Co-Leiterin des Zürcher «Schlupfhuus», erfährt täglich, dass die Ausreisser keinesfalls nur «Loser»-Typen oder Suchtgefährdete am Rand der Illegalität sind: «Um das schützende Nest und eine zerrüttete Situation zu verlassen, braucht es Mut und eine starke Selbstmotivation. Die Jugendlichen wollen ein Zeichen setzen und etwas verändern.»

Pubertäre «auf der Flucht» sind verletzlich und empfänglich für Ausbeutung und dubiose Heilsversprechen. Vor genau 20 Jahren öffnete das Schlupfhuus seine Pforten, um Ausgerissenen eine vorübergehende Bleibe, eine Verschnaufpause und eine Begleit- und Beratungsperson anbieten zu können. Der private Verein basiert auf drei Arten von Krisenintervention und ist einzigartig in der Schweiz: das 24-Stunden-Sorgentelefon, eine ambulante Beratungsstelle und eine Krisenwohngruppe mit acht Plätzen. Aufgenommen werden 13- bis 18-Jährige. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt drei Wochen, die am längsten mögliche drei Monate.

Alte Konflikte verstärken sich
Beim Aufnahmegespräch erhält das Schlupfhuus-Team mitunter Einsicht in tiefe Abgründe: «Die Adoleszenz bricht oft lang schwelende Konflikte auf und potenziert sie.» Die Berichterstattung der Jugendlichen reicht von totaler Zerrüttung, über elterliche Gewaltanwendung bis zur sexuellen Ausbeutung. Natürlich nimmt das Schlupfhuus sofort Kontakt mit den Eltern auf – und falls Massnahmen zum Schutz des Kindes erforderlich sind auch mit der Vormundschaftsbehörde.

Viele Eltern reagieren erleichtert, weil sie wissen, wo ihre Kinder sind. Andere empfinden das Schlupfhuus als Einmischung. «Wir sind nicht Gegenpartei der Eltern, sondern verstehen uns klar als Vermittler», sagt Bea Leuppi. «Im Familiengespräch versuchen wir, das allen Beteiligten klarzumachen.» Gemeinsam wird nach Lösungen gesucht. Für einen Drittel muss eine neue Wohnlösung gefunden werden. Für fast 70 Prozent endet die Odyssee aber dort, wo sie begonnen hat: zu Hause bei den Eltern.

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