Das geräumige Einfamilienhaus von Margrith und Peter Aeberli im schaffhausischen Rüdlingen ist seit drei Monaten auf den Kopf gestellt. Eine Spielzeugeisenbahn durchquert das Wohnzimmer, die Blumen im Garten sind zerzaust, an der Garderobe hängen lauter Kinderkleider. Die drei Enkelkinder im Alter von sieben, vier und eineinhalb Jahren powern durch die Räume. Hier sollen sie ein stabiles Zuhause finden und mit Unterstützung von psychologischer und sozialpädagogischer Betreuung endlich zur Ruhe kommen. Die bisherige häusliche und psychosoziale Situation bei der Mutter war in den Augen von Fachleuten «prekär».

Ob sie die Geschwister nach dem 15. November noch betreuen dürfen, ist nicht klar. Fest steht, dass dann für die Kindseltern die dreimonatige Kontaktsperre abläuft. Über das weitere Schicksal der Kinder bleiben die Pflegeeltern im Ungewissen, derweil die Behörden hinter verschlossenen Türen ihres Amtes walten. Darunter die Beiständin der drei Kinder, Jolanda Keller vom Jugendsekretariat Winterthur-Land.

Schon vor drei Jahren machte sich Margrith Aeberli Sorgen über das auffällige Verhalten ihres ältesten Enkels Daniel (Name geändert). Sie vermutete, ihre Tochter sei mit der Erziehung überfordert, und informierte die Behörden. Zwischen ihr und der Tochter kam es vermehrt zu Streit, dann wieder zur Versöhnung. Heute sind die Fronten verhärtet.

Kind in Polizeibegleitung abgeholt
Im September letzten Jahres trennten sich Daniels Eltern und gaben den Knaben zu den Grosseltern in Pflege. Diese setzten durch, dass er den Kindergarten besuchen konnte. Doch die Kindsmutter sorgte weiterhin für Unruhe. Oft nahm sie Daniel unangemeldet zu sich. Zwischendurch war er in einem Heim für Kinder mit Entwicklungsstörungen untergebracht. Dort nahm ihn die Mutter wieder heraus, um ihn erneut bei der Grossmutter abzugeben. Ein kinderpsychiatrisches Gutachten stellte bei Daniel «schwere Bindungs- und Beziehungsstörungen» aufgrund von «Vernachlässigung und Verwahrlosung» fest.

Wo war in dieser Zeit der amtliche Beistand? «Von einer vernünftigen Zusammenarbeit kann keine Rede sein», meint der Rechtsvertreter der Grosseltern Aeberli. Die wiederum machen aus ihren Zweifeln an der Kompetenz der Beiständin Keller keinen Hehl. Was war passiert?

Der Konflikt mit Daniels amtlicher Beiständin Jolanda Keller zeichnete sich beim ersten Hausbesuch Ende letzten Jahres ab, als sie den Pflegeplatz inspizieren kam. «Die Atmosphäre war eisig», besinnt sich Margrith Aeberli. Im Mai kam es endgültig zum Zerwürfnis: In Begleitung von Polizisten holte Jolanda Keller Daniel im Auftrag der Behörden von Zell, dem gerichtlichen Wohnort der Mutter, im Kindergarten ab. Ohne das Wissen der Grosseltern lieferte sie ihn wieder in das psychiatrische Kinderheim ein. «Der Bub ist traumatisiert», sagt Grossmutter Aeberli.

Der Rechtsbeistand der Pflegeeltern reichte daraufhin gegen Beiständin Keller Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs und Kindsentführung ein und forderte ihren Rücktritt. Bei dieser Aktion sei es ihr nur darum gegangen, «ihren eigenen Willen durchzusetzen». Diese Missstimmung hielt Sozialarbeiterin Keller nicht davon ab, Mitte Jahr bei der Sozialbehörde Zell den Antrag zu stellen, den Eltern das Sorgerecht für alle drei Kinder zu entziehen und sie selber, Jolanda Keller, zur Vormundin zu ernennen. Zum Schutz der Kinder seien verschärfte Massnahmen angezeigt (siehe Nebenartikel zum Thema «Rechtslage: Wann dürfen die Behörden eingreifen?»). Dieses Vorgehen empört den Anwalt der Pflegeeltern: «Es geht längst nicht mehr ums Kindswohl, sondern um Macht.»

Und um die Frage, wie weit ein Beistand gehen darf. Denn über seine grundsätzliche Funktion scheiden und streiten sich die Geister. Zwar haben die Betroffenen bei der Wahl ein Mitspracherecht. Über die Ernennung entscheidet aber die Vormundschaftsbehörde. Die gesetzlichen Anforderungen sind vage: Die Person soll für dieses Amt als «geeignet erscheinen». 2002 waren in der Schweiz 17262 Beistandschaften registriert. 1996 waren es noch 11008.

Anforderungsprofil noch ungeklärt
«Schon der Begriff Beistand ist diffus und umreisst eine unermessliche Universalfunktion», meint Heinrich Nufer, Leiter des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind. Die Umschreibung «angeordnete Erziehungsberatung» beispielsweise scheint ihm treffender. Damit liessen sich auch ein Anforderungsprofil und ein Leistungsauftrag definieren: «Eine Beistandschaft ist für die Betroffenen oft eine Lotterie.»

Die Vereinigung Schweizerischer Amtsvormundinnen und Amtsvormunde, die rund 600 professionelle Mandatsträger vertritt, stellt für Frühling 2005 ein Anforderungsprofil in Aussicht. Ihr Sekretär Urs Vogel, Jurist und Unternehmensberater im Sozial- und Gesundheitswesen, sieht die neuralgischen Punkte bei der Amtsausübung in der Zuständigkeit beispielsweise bei einem Wohnortswechsel, im Besuchsrecht und bei Fremdplatzierungen.

Dschungel von Ämtern und Behörden
Ob die Vormundschaftsbehörde Zell, die das Dossier führt, für die Enkelkinder von Aeberlis zuständig ist oder Rüdlingen, wo die Kinder amtlich gemeldet sind, bleibt im Dschungel von Ämtern und Behörden unklar. Die Aufsicht über die Pflegeplätze liegt laut Verträgen bei der Gemeinde Rüdlingen. Diese sind aber bis heute nicht gegengezeichnet.

Auch die festgesetzten Pflegegelder sind ausstehend, ganz zu schweigen von den Auslagen für Winterkleider, Spielsachen, Möbel oder Kindertransporte. «Die Gemeinde Rüdlingen sieht sich ausserstande, uns Identitätskarten für die Kinder auszustellen, weil wir nicht unterschriftsberechtigt sind», sagt Margrith Aeberli. Eine der Konsequenzen: Sie kann nicht auf direktem Weg bei Rafz über die Grenze, wenn sie die Kinder zum Arzt nach Schaffhausen fahren muss.

Auch über die dringend notwendige therapeutische und heilpädagogische Betreuung der Kinder ist noch nicht entschieden – oder die Pflegeeltern wurden nicht informiert. Und was erwartet die Betroffenen am 15. November? Die Sozialvorsteherin von Rüdlingen, Gemeindepräsidentin Käty Leutenegger, will sich aus Gründen des Datenschutzes nicht zum Fall äussern. Die Beiständin Jolanda Keller sieht das Kindswohl gefährdet und verweist im Weiteren aufs Amtsgeheimnis.

«Ich habe nichts mehr zu verlieren», sagt Michael Handel. Die Worte des zweifachen Vaters klingen resigniert und kämpferisch zugleich. Tatsächlich fühlt er sich im Streit um die Obhut über seinen siebenjährigen Sohn und seine bald vierjährige Tochter als Verlierer. Doch die Frage nach Parteilichkeit und Behördenwillkür mobilisiert bei ihm auch neue Kräfte. Auf einer eigenen Homepage gibt er seiner Ohnmacht ein Gesicht und engagiert sich in der Selbsthilfegruppe «Zivilcourage» für Väter und Mütter, die sich den Behörden ausgeliefert fühlen.

Gewaltsam vom Sandkasten entführt
Oft hatte Michael Handels Frau die Kinder in bedrohlichen Situationen unbeaufsichtigt gelassen. Als sie vor bald drei Jahren einmal mehr mit der damals einjährigen Tochter Rita (Name geändert) über Nacht aus der gemeinsamen Wohnung im Thurgau verschwunden war, zeigte sich der Vater beunruhigt. Diesmal wollte sie die Trennung und schlug ihm vor, dass sie die Tochter behalte und ihm den Sohn Urs (Name geändert) überlasse. Falls er nicht spure, bekomme er keines der Kinder.

Nach der Trennung wurde dem Vater die Obhut über Urs zugesprochen. Bei der Regelung des Besuchsrechts stellte er seiner Frau klare Bedingungen. Augenzeugen hatten ihm schriftlich bestätigt, dass sie beim Wickeln des Kleinen an dessen Glied manipuliert habe. Die Vormundschaftsbehörde teilte dem Vater mit, gelegentlich «raste» seine Frau aus und verteile auch mal eine Ohrfeige. Deshalb bestand er auf einer Begleitperson für die Besuche. Sein Antrag wurde abgelehnt.

Als Konsequenz verweigerte Michael Handel während eineinhalb Monaten der Mutter das Besuchsrecht. Kurze Zeit später entführte sie Urs gewaltsam vom Sandkasten weg. «Nachbarn hörten das Kind laut schreien», erzählt Handel. Tags darauf wurde dem Vater per Gericht die Obhut entzogen. Der Kinderschutzbund sieht darin «eine durch den Staat sanktionierte Kindsmisshandlung».

Nach der Entführung durfte der Vater seinen Sohn drei Monate lang nicht besuchen. Der letzte persönliche Kontakt zu Tochter Rita lag zehn Monate zurück. Mittlerweile informierte er die Vormundschaftsbehörde über die sexuellen Übergriffe auf seinen Sohn und wies auf die ärztlich attestierte Suizidgefährdung seiner Frau hin. Die Behörden entschärften seine Bedenken: Solange die Mutter bei den Handlungen keine «Triebbefriedigung» empfinde, seien diese «tolerierbar».

«Situation nicht mehr verantwortbar»
Ein Hoffnungsschimmer tauchte bei der Ernennung des Beistands Alois Schmidlin auf. Der Sozialarbeiter begleitete den Vater bei den Besuchen und hielt zuhanden der Amtsvormundschaft fest: «Es bestehen für mich keine Zweifel, dass Herr Handel zu den Kindern eine positive Beziehung pflegt und die nötige Aufsicht und Betreuung für Urs und Rita gewährleistet.» Eine ständige Begleitung und Beaufsichtigung über die volle Besuchszeit erachte er weder als nötig noch als verhältnismässig.

Ein Jahr nach der Trennung wurde bei Rita während eines Spitalaufenthalts eine «Gedeihungsstörung» festgestellt. Die Ursache der chronischen und «sehr wahrscheinlich irreparablen» Wachstumsstörung sei nicht bekannt, heisst es im Arztbericht. Urs leide zudem an einem Trauma. Der Beistand teilte die Sorgen des Vaters und hinterfragte wie dieser auch die Erziehungsfähigkeit der Mutter. Als die Vormundschaftsbehörde Alois Schmidlins Gefährdungsmeldungen nicht ernst nahm, schrieb er: «Aus Sicht des Kindswohls kann ich die jetzige Situation fast nicht mehr verantworten.»

Das musste er auch nicht, denn er gab das Amt ab und wurde von Corrie Henger vom Jugendsekretariat Effretikon abgelöst. Für Schmidlins Nachfolgerin waren Ritas Gedeihstörungen und die in Auftrag gegebenen Gutachten zulasten der Mutter kein Thema mehr. Den Vorschlag des Vaters, die Mutter nach fachärztlichen Empfehlungen mit einer sozialpädagogischen Familienbegleitung zu unterstützen, wies sie schriftlich zurück und ermahnte ihn, im Interesse der Kinder aufzuhören, «die Mutter als unfähig darzustellen», und wünschte ihm «schöne Besuchstage mit den herzigen Kindern».

Handel versuchte vergeblich, die Beistandschaft aufzulösen. Corrie Henger wurde im Amt bestätigt. Dem Beobachter gegenüber berief sie sich auf das Amtsgeheimnis. Der Vater geht seit Monaten nicht mehr auf ihre Besuchstermine ein, sondern trifft die Kinder in Absprache mit der Mutter. «Ihre Funktion hat sich erübrigt», sagt er. Nun wartet er auf das Scheidungsurteil und hofft, dass ihm die Obhut über seine Kinder zugesprochen wird.

Verleumdungen und sexuelle Übergriffe
Der Gugelhopf zu Tinas (Name geändert) elftem Geburtstag will Mutter Sandra Rissi dieses Jahr zum ersten Mal nicht so recht gelingen. Nach dem Backen bleibt beim Stürzen ein Teil der Masse an der Kuchenform kleben. Später erwischt sie eines der Kätzchen, wie es hinter ihrem Rücken den Puderzucker vom Geburtstagskuchen wegschleckt. «Noch nie ging beim Backen alles so drunter und drüber», sagt die Alleinerziehende, die wegen einer Knochenmarkentzündung arbeitsunfähig und auf die IV-Rente angewiesen ist.

Die Hektik kommt nicht von ungefähr. Die Fünftklässlerin muss ihren Geburtstag von Amts wegen volle zwei Zugstunden entfernt bei einer fremden Bauernfamilie im Bündner Rheintal verbringen. Ihr Zimmer zu Hause im Zürcher Tösstal steht seit sechs Wochen leer. Der Labrador Lucki sucht vergeblich nach seiner vertrauten Spielgefährtin – und wird auch noch eine Weile auf sie warten müssen: Zum Schulbeginn wurde Tina in ein Heim für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Bündnerland eingewiesen. Diese Massnahmen ordnete Tinas neue Beiständin Chantal Fasciati nach dem Obhutsentzug durch die Vormundschaftsbehörde Bauma an.

Aus den Erziehungsschwierigkeiten mit ihrer Tochter und deren Aggressionsschüben hatte Sandra Rissi nie ein Geheimnis gemacht. Sie fragte bei Tinas früherer Beiständin Rita Schmid um Rat und Tat. Die heilpädagogische Familienbegleiterin brachte eine gewisse Entspannung. Dann stellte die Mutter fest, dass eine ihrer Bekannten Tina gegen sie aufhetzte und ihr gegenüber sogar drohte, die Mutter allenfalls umzubringen. Als die Bekannte sie hinter ihrem Rücken auch noch bei den Behörden wegen Vernachlässigung und Misshandlung von Tina verleumdet hatte, schaltete sie die Polizei ein. «Deswegen war Tina so verstört», ist die Mutter überzeugt. Einen weiteren Grund sah sie in den sexuellen Übergriffen durch einen Bekannten, die das Kind einer Nachbarin anvertraut hatte und die zur Anzeige kamen. Doch diese Argumente fielen bei den Behörden nicht mehr ins Gewicht.

Einzelschicksale, aber keine Einzelfälle
Die Erinnerung an die Szene auf dem Polizeiposten in Zürich wird Mutter Rissi nicht mehr los. Zusammen mit Tina wurde sie nochmals vorgeladen, um die frühere Anzeige wegen sexueller Übergriffe zu präzisieren. Dann sahen sich die beiden vor vollendete Tatsachen gestellt: Tina kommt weg – und zwar auf der Stelle. Als Bestätigung bekam die Mutter eine Faxkopie über den beschlossenen fürsorgerischen Freiheitsentzug ausgehändigt. «Wir waren völlig aufgelöst», sagt sie.

Ohne Ersatzkleider wurde das Mädchen abgeführt – wohin, blieb zunächst geheim. Erst zwei Tage später erfuhr die Mutter, ihre Tochter sei vorübergehend im Zürcher Durchgangsheim Florhof einquartiert, bis ein Pflegeplatz im Bündnerland gefunden sei. «Die abrupte Trennung bleibt für uns beide ein Schock», sagt die Mutter. Tina habe sich nicht einmal von der Schule und den Nachbarskindern verabschieden können.

An Tinas Geburtstag gab sich Rissi wie immer kämpferisch. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, bis sie ihre Tochter trotz der von der Beiständin verhängten zweiwöchigen Kontaktsperre bei der Pflegefamilie besuchen durfte. Sie liess sich nicht verbieten, eine Nachbarin und den Hund Lucki mitzunehmen. Auf die Beiständin ist sie nicht gut zu sprechen: «Sie fällt Entscheide hinter meinem Rücken.» Ihre Rechtsvertreterin hält fest, «die Fronten würden sich unweigerlich noch mehr verhärten», wenn die Beiständin der Mutter nur «ein Minimum an Informationen» zukommen lasse. Chantal Fasciati wollte als Beiständin keine Stellungnahme abgeben.

Grosseltern Peter und Margrith Aeberli, Vater Michael Handel, Mutter Sandra Rissi: drei Einzelschicksale, aber keine Einzelfälle. Bei der Selbsthilfegruppe «Zivilcourage» melden sich fast täglich neue Betroffene, wie Mitbegründerin Margot Scherz erklärt. Für die Sozialarbeiterin und ebenfalls betroffene Mutter steht das Wort «Zivilcourage» für Aufbruch. «Beistände, die ihre Macht missbrauchen, gehören abgeschafft», sagt sie. Gerade unter amtlichen Helfern, die sich als «Retter» verstehen, habe die Gesellschaft zu leiden. Sie plädiert für Beistände, die bereit sind, ihre Rolle kritisch zu hinterfragen und allen Betroffenen Rechenschaft abzulegen: «Der Krieg muss ein Ende nehmen.»

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