Ohne Erinnerungen Erinnerungen Dabei war alles ganz anders sind wir nichts. Sie sind unser wertvollster Besitz. Wenn man jemanden fragt, was er aus einem brennenden Haus retten würde, lautet die Antwort fast immer: Fotoalben und Tagebücher.

Marie Pantas* Schatz lagerte in einer Kiste neben dem Bett. Ordner mit vergilbten Schwarzweissaufnahmen, die sie als Kleinkind in Belgien zeigen, mit Klassenfotos aus Rüschlikon ZH. Und mit Schnappschüssen von jenem Sommer in Rimini, als Marie Panta, das Handelsdiplom frisch in der Tasche, an der Réception des Albergo Brasilia arbeitete. «In der Viale Regina Elena», das weiss sie noch ganz genau.

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Über 50 Jahre später

Marie Panta sitzt in der Cafeteria des Pflegezentrums Bauma ZH. Sie trägt ein blaues Kleid mit weissem Kragen und am Handgelenk ein vornehmes Armband. Hinter der Brille, die von silbernen Locken umspielt wird, schimmern müde Augen hervor. Wenn die 79-Jährige über ihren Schatz spricht, verkrampfen sich ihre Finger auf der Tischplatte. «Alles wurde entsorgt. Mein ganzes Leben!»

Für immer verschwunden sind auch ihre Tagebücher. Jahrzehntelang hielt sie darin ihre Gedanken fest. Wenn eins voll war, band sie eine Schnur drum und versorgte es in der Kiste neben dem Bett. Über den Inhalt schweigt sie, der gehe niemanden etwas an. Auf Französisch sage man «journal intime», das dünke sie ein passender Ausdruck. Jetzt aber sind die Bücher weg, fortgeschmissen wie die Fotoalben. Ein Verlust, der in Franken nicht zu messen sei. «Ich bin verzweifelt, fühle mich im Stich gelassen.»

Vor rund einem Jahr zügelte Marie Panta vom Altersheim in Adliswil nach Bauma. Es sei nicht mehr gegangen am alten Ort, sagt sie. Depressionen, die Einsamkeit. Verheiratet war sie nie, der Freund ist vor 20 Jahren verstorben. Nur einen Bruder gibt es noch in ihrem Leben; der wohnt weit weg in Deutschland. Den Umzug nach Bauma hatte ihre damalige Beiständin Beistandschaft Ein Beistand nach Mass organisiert. Sie beauftragte die Firma Alltrans aus Horgen, die Möbel, Kleider und restlichen persönlichen Gegenstände nach Bauma zu bringen. Ihre Heimat, das war 30 Jahre lang Rüschlikon. Jetzt hatte man sie über den See gezügelt, ins Zürcher Oberland. An einen Ort, den sie nicht kennt.

«Ich habe mich noch gewundert, weshalb weder Frau Panta noch die Heimleitung anwesend waren.»

Renato Büchi, Transporteur

Renato Büchi, der Chef der Umzugsfirma Umzugskosten So finden Sie die richtige Zügelfirma , erinnert sich gut an den Tag. «Es war schönes Wetter, wir hatten uns für die Mittagszeit angemeldet.» Er und sein Mitarbeiter parkierten den Lieferwagen an der Rampe des Pflegezentrums und begannen mit dem Entladen. «Ich habe mich noch gewundert, weshalb weder Frau Panta noch die Heimleitung anwesend waren», sagt Büchi. «Sie wussten ja, dass wir kommen.»

Dann hätten zwei Angestellte des Hausdienstes übernommen, ihn und seinen Mitarbeiter habe man in die Cafeteria geschickt. «Alles gut» habe es geheissen, als man nach einer Dreiviertelstunde zurück bei der Rampe stand. «Den Rest können Sie wieder mitnehmen.» Also packten die Männer die übrig gebliebenen Sachen ins Auto und fuhren zu ihrem Lager im Thurgau. Dass auch die Kiste mit Fotoalben und Tagebüchern dabei war, wusste Büchi nicht. «Als Transporteur darf ich nicht in den Sachen wühlen.»

«Man hat sich wohlwollend bemüht, dass Frau Panta zu gewünschten Kleidern, Hygieneartikeln und Gegenständen kommt.»

Simone Richard, Heimleiterin

Damit begann Pantas verzweifelte Suche

Sie fragte bei der Pflege nach: «Wann kommen meine Sachen?» Sie warf ein Schreiben in den Briefkasten, den das Zentrum für solche Zwecke bereitstellt: «Ich brauche Hilfe!» Nur eine Antwort, die habe sie nie bekommen. Marie Panta schüttelt den Kopf, ballt die Faust: «Das gehört sich nicht!» Sonst mache man den Briefkasten nicht da hin. Und mit zittriger Stimme fügt sie an: «Ich bin jemand, der gern Klarheit hat. Dass man mit mir redet.»

Simone Richard, die Leiterin des Pflegezentrums in Bauma, bestreitet vehement, dass an besagtem Umzugstag Fehler gemacht worden sind. Sie schreibt: «Aus dem ‹Auszug Eintrittssituation› geht eindeutig hervor, dass man sich wohlwollend darum bemüht hat, dass Frau Panta zu gewünschten persönlichen Kleidern, Hygieneartikeln und Gegenständen kommt.» Man verstehe die Trauer über den Verlust der Fotoalben und Tagebücher. «Aber wenn diese Dinge verschwunden sind, dann liegt das nicht an uns.» Von Seiten des Zentrums habe es nie einen Auftrag zur Entsorgung gegeben.

Marie Panta versuchte per Mail und Telefon Kontakt mit Transporteur Büchi aufzunehmen – ohne Erfolg. Als Verbeiständete hätte sie ihm sowieso keinen Auftrag zur Lieferung der fehlenden Sachen nach Bauma erteilen dürfen.

Frau schält Kartoffeln

Eines ihrer Lieblingsfotos zeigte Marie Panta auf einem Hausboot. «Ich schäle Kartoffeln und lächle in die Kamera.»

Quelle: Andreas Gefe

Also suchte Marie Panta Unterstützung bei der Rechtsauskunftsstelle Zürcher Oberland. Diese bat die Beiständin schriftlich, den Sachverhalt aufzuklären. Dem Antwortschreiben gelingt das nicht. Die Beiständin schreibt darin: «Frau Panta ging es nicht gut. Sie war aber sehr wohl in der Lage, Herrn Büchi Anweisungen zu geben, was sie von der Alterswohnung mitnehmen möchte und was nicht.» Und etwas weiter unten: «Frau Panta wollte einmal dies, einmal das.» Sie erlebe Frau Pantas Verhalten als «Gedrängele». Und da Herr Büchi inzwischen die ganze Umzugsangelegenheit geregelt habe, solle man sich doch bitte für weitere Abklärungen an ihn wenden.

Doch da war es schon zu spät. Renato Büchi hatte die Sachen entsorgt, nachdem er sie monatelang auf eigene Kosten im Lager behalten hatte. Dass es Marie Panta deswegen jetzt schlecht geht, tut ihm leid. «Sie trifft keine Schuld, da ist im Heim vieles schiefgelaufen.» Er habe dort mehrmals angerufen, Frau Panta aber nie sprechen können. «Sie hören von uns», habe man ihn stets vertröstet.

Ganz anders klingt es im Pflegezentrum. Gemäss Leiterin Simone Richard habe man sich im Juni 2017 bei Büchi telefonisch gemeldet, um einen Termin zur Abholung der Sachen zu vereinbaren. Büchi habe damals gesagt, dass er bis auf einen Tisch und eine Kiste mit Fotos alles entsorgt habe. Man habe dann vereinbart, dass Büchi diese Gegenstände in ein paar Wochen nach Bauma bringen würde, schreibt Richard weiter. «Leider kam es in der Folge nie zu einer entsprechenden Lieferung.»

Davon will Büchi nichts wissen

So eine Abmachung habe es nie gegeben. «Wer hätte das denn bezahlt?» Einen Auftrag dazu hätte zudem allein Marie Pantas Beiständin erteilen können.

Bei der Kesb Horgen kümmert sich seit ein paar Wochen ein anderer Mitarbeiter um die Belange von Frau Panta. Der neue Beistand Peter Dolder sagt: «Ich nehme diese Sache sehr ernst. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als all seine Fotos zu verlieren.» Seine Vorgängerin habe Transporteur Büchi weder einen Auftrag zur Lagerung noch zur Entsorgung der restlichen Gegenstände Pantas erteilt. Doch nun, da diese Dinge unwiederbringlich fort seien, gehe es darum, nach vorn zu blicken und die bestmögliche Lösung zu finden. Er will sich in den nächsten Tagen mit Panta treffen, um herauszufinden, ob vielleicht der Bruder noch alte Fotos habe, die man kopieren könnte.

Das empfiehlt auch ein Mitarbeiter der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA), den die Leitung des Pflegezentrums Bauma kontaktierte, nachdem sie vom Beobachter mit der Geschichte konfrontiert worden war. «Damit könnte versucht werden, wenigstens Fragmente zu Pantas Lebenserinnerungen zu sammeln», steht in seinem Bericht. Gestützt auf das Pflegejournal, macht er Transporteur Büchi als Hauptverantwortlichen aus: «Offenbar hat sich Herr Büchi nicht an Zusagen und Vereinbarungen bezüglich der für Frau P. wichtigen Effekten gehalten und auch die definitive Entsorgung nicht fristgerecht bei der Beiständin angemeldet.»

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Letzten Herbst schickte Marie Panta dem Transportunternehmer Büchi eine Rechnung über 3900 Franken. Für einen Fauteuil von Zingg-Lamprecht, einen Schreibtisch von Hugo Peters, eine Stehleuchte und einen kleinen Glastisch. Ihre Fotoalben und Tagebücher waren für immer fort, nun forderte sie wenigstens in materieller Hinsicht Gerechtigkeit. Als Büchi nicht bezahlte, leitete Panta die Betreibung ein. Vor ein paar Wochen scheiterte die Schlichtungsverhandlung vor der Friedensrichterin. Marie Panta sagt, sie habe weder das Geld noch genügend Kraft für eine Klage. Ausserdem habe man ihr erklärt, dass ihre Chancen vor Gericht gering seien. «Mir bleibt nichts übrig, als aufzugeben.»

Marie Panta, die sich ein Leben lang immer gern nützlich machte, mag nicht mehr. Im Pflegezentrum hilft sie ab und zu beim Bügeln, auch wenn sie dafür vorher ein Temesta nehmen muss. Wenn es ihr gar nicht gut gehe, sagt sie, schicke man sie auf ihr Zimmer. Dort steht ihr Bett, 120 Zentimeter breit, von Pfister, erlaubt wären nur 90 Zentimeter.

Ein Tagebuch führt Marie Panta nicht mehr

Seit diese Sache passiert ist, hat sie damit aufgehört. Das Schreiben falle ihr auch zunehmend schwer, sagt sie, weil sie so viele Beruhigungsmittel schlucken müsse. «Die ruinieren meine Gesundheit.» Für eine Geburtstagskarte an den Bruder hat sie sich doch die Mühe genommen. Die will Marie Panta jetzt auf die Post bringen. Das Pflegezentrum befindet sich im Schatten, unten plätschert die Töss. Vor der Cafeteria sitzen drei Bewohner, die still an ihren Zigaretten saugen.

Auf einem der Lieblingsfotos von Marie Panta war ein Hausboot zu sehen. Mit den Naturfreunden Zürich ist sie vor rund 20 Jahren mit dem Zug nach Amsterdam gefahren. Von dort aus führte die Reise zu den Inseln im Norden, wo man ausgedehnte Velotouren unternommen hat. Auf dem Bild, erinnert sich Marie Panta, sitze sie an einem Tisch an Deck. «Ich schäle Kartoffeln und lächle in die Kamera.»

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Peter Aeschlimann, Redaktor
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