«Er wollte nicht vergiftet werden»
Die Ärzte halten einen Senior für sterbenskrank, setzen alle Medikamente ab und spritzen ihm nur noch das Schmerzmittel Morphin. Das habe ihn umgebracht, glauben Angehörige.
Veröffentlicht am 20. Juli 2015 - 15:01 Uhr
«Nachdem unser Vater während 20 Minuten den Blick zum Himmel gerichtet hat, schliesst er zuerst die Augen, dann den Mund, und dann tritt der Atemstillstand ein.» Ernst Weber* stirbt mit 96 Jahren in einem Pflegeheim. Seinen traurigen, vorwurfsvollen Blick werde sie nie vergessen, sagt seine Tochter Sarah Dürer*. Er starb an einer Überdosis Morphin – davon ist sie felsenfest überzeugt.
Sarah Dürer hat ihre Erinnerungen an die letzten Tage ihres geliebten Vaters aufgeschrieben: «Wieder kommt die Pflegende (es ist 6.30 Uhr) mit der Bitte, E. W. eine kleine Dosis Morphin (2 Milligramm) geben zu können, damit er einfacher atmen könne. Ich willige ein, ohne zu wissen, dass er bereits um 16.00 Uhr, 21.40, 1.15 und 5.45 Morphinspritzen mit Dosen von je 5 Milligramm bekommen hatte. So werde ich als Sterbehelferin missbraucht.»
«Unter Morphin sind Patienten pflegeleicht. Sie äussern keine Wünsche, haben keine Emotionen.»
Sarah Dürer*, Tochter des Verstorbenen
Die 65-Jährige wischt sich die Tränen aus den blauen Augen. Es sei doch bekannt, dass zu hohe Dosen Morphin zu Atemstillstand führen können. Sie habe nur eingewilligt, weil sie dachte, eine kleine Dosis schade ihm nicht. Sie habe gewusst, dass ihr Vater Morphin immer abgelehnt habe. Deshalb sein vorwurfsvoller Blick. Die Schmerzmittelabgaben sind in den Patientenakten dokumentiert.
Ernst Webers Hausarzt schreibt der Tochter: «Morphin wirkt auch gegen Unruhe, Atemnot, Angst et cetera, wird also nicht nur bei Schmerzen gegeben. Das ‹Risiko› eines etwas früheren Atemstillstands als OHNE Morphium wird in der palliativen Medizin bewusst in Kauf genommen; das Leiden soll gelindert werden, nicht primär das Leben verlängert. Ich habe die Situation bei Ihrem Vater nach Rücksprache mit den Spitalärzten als palliativ eingestuft.»
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften definiert Palliative Care als «eine umfassende Behandlung und Betreuung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen oder chronisch fortschreitenden Krankheiten». Ziel sei es, den Patienten eine möglichst gute Lebensqualität zu ermöglichen. Das schliesse die Begleitung der Angehörigen mit ein.
Wann darf ein Mensch palliativ behandelt werden und wann nicht? Diese Frage treibt Sarah Dürer um. Die pensionierte Primarlehrerin sagt, ihr Vater, ein «Gelehrter alter Schule», sei geistig fit gewesen und habe einen starken Lebenswillen gehabt, trotz seinen Gebrechen. Weber war halbseitig gelähmt. «Vati war ein wandelndes Lexikon und sagte immer, er wolle mindestens 100 werden.» Er sagte auch, er habe keine Angst vor dem natürlichen Tod, aber mit Morphin wolle er nicht vergiftet werden.
Weber hat sechs Kinder, 18 Enkel und 19 Urenkel – er liebt seine grosse Familie über alles. Er leitet bis ins hohe Alter Jugend+Sport-Lager und interessiert sich für aktuelle Politik, nimmt stets an Abstimmungen teil und begründet seine Meinungen engagiert.
Die letzten Jahre verbringt er in einem Heim, da für seine Frau die Pflege zu Hause zu anstrengend geworden ist. Dort bekommt er wegen seiner Arthroseschmerzen erstmals Morphin – ohne sein Wissen. Auch die Angehörigen wissen von nichts.
Weber reagiert stark auf das Schmerzmittel, verliert innert dreier Monate 20 Kilo Gewicht. Er sagt zu seiner Tochter, er habe am Rücken starken Sonnenbrand, sie solle doch bitte nachsehen. Die Tochter entdeckt ein grosses Morphinpflaster. Seit diesem Vorfall verweigert Ernst Weber den Einsatz des Schmerzmittels.
Im Mai 2014, nach einer dreitägigen Abwesenheit, trifft Sarah Dürer ihren Vater im Heim als «ausgetrocknetes Häufchen Elend» an. Er habe weder gegessen noch getrunken, weil er nicht mehr schlucken könne, sagen die Pflegenden. Der Heimarzt sagt, Flüssigkeitsmangel sei in diesem Alter meist problemlos und werde relativ gut toleriert. Ernst Weber bittet seine Tochter mit schwacher Stimme, ihm zu trinken zu geben. Gierig trinkt er Cola, Ovomaltine oder Milchshakes – meist hält er den Becher selber. Er will ins Spital überwiesen werden, weil er starke Bauchschmerzen verspürt.
Im Spital zeigt sich, dass Weber an Flüssigkeitsmangel und Verstopfung leidet. Dennoch setzt man alle Medikamente ab, auch jenes gegen Verstopfung, obwohl das seine Lebensqualität stark mindert und die Verstopfung der Grund für seinen labilen Gesundheitszustand ist. Weder mit ihm noch mit den Angehörigen wird darüber gesprochen. Die Absetzung der Medikamente ist dokumentiert.
«Vati sagte immer, er wolle mindestens 100 werden.»
Sarah Dürer*, 65, pensionierte Lehrerin
Seine Tochter sagt, sie sei von Ärzten und vom Pflegepersonal immer wieder dazu gedrängt worden, dass sie ihrem Vater Morphin abgeben dürften, obwohl sie ihm versprochen hatte, dass man ihn davon verschonen werde. Das teilt sie dem Personal mit, leider nur mündlich. Sie weiss, dass Morphin zu Verstopfung führen kann.
Nach fünf Tagen wird Weber als Palliativpatient ins Heim zurückverlegt. Die Angehörigen versuchen, seinen Durst zu stillen. Am Tag vor seinem Tod besucht ihn seine anderthalbjährige Urenkelin Vera*. Sie sitzt auf seinem Bett, und er streichelt ihre Händchen. Immer wieder versucht er, etwas zu sagen, schafft es aber nicht.
Sarah Dürer ist überzeugt, dass durch die unerwünschte Verabreichung von Morphin der starke Wille ihres Vaters gebrochen und seine Selbstbestimmung zunichtegemacht wurde. Sie sagt: «Patienten sind unter dem Einfluss des Betäubungsmittels pflegeleicht: Sie äussern keine Wünsche, müssen nicht zur Toilette geführt werden, beklagen keine Schmerzen, haben keine Emotionen.»
Sie will, dass andere Angehörige wissen, was unter dem Einfluss von Morphin passieren kann: «Viele wollen doch in vollem Bewusstsein sterben und nicht in einem Dämmerzustand die Welt verlassen.»
In ihren Richtlinien erläutert die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, dass Palliative Care auch Missverständnissen und Gefahren ausgesetzt ist. Zum Beispiel werde sie manchmal auf Sterbehilfe reduziert – und auf das Verschreiben von Opioiden (wie Morphin).
*Name geändert
Interview zum Thema
Der Zürcher Palliativmediziner Roland Kunz beantwortet im Interview «Es gibt viele Morphin-Mythen» Fragen zur Palliativmedizin und zum Einsatz von Morphin. Dabei geht er auch auf den vorliegenden Fall ein.