Homosexualität: Wenn Ehemänner andere Männer lieben
Zehntausende von Ehemännern in der Schweiz sind homosexuell – ohne dass ihre Frauen etwas davon wissen. Nach dem Coming-out gilt es, das Leben neu zu ordnen: keine einfache Sache, aber auch eine Chance.
Veröffentlicht am 16. Juli 2001 - 00:00 Uhr
«Die Welt begann sich zu drehen, mir wurde der Boden unter den Füssen weggezogen. Ich hatte das Gefühl, sechs Stockwerke runterzufallen», erinnert sich Mirjam Beutler*. Es war Silvester. Am Spitalbett legte ihr Ehemann Philipp unerwartet ein folgenschweres Geständnis ab: «Ich gehe seit Jahren auch mit Männern ins Bett.» Eine Blutprobe hatte ergeben, dass Philipp an Syphilis erkrankt war.
«Zuerst war ich geschockt und konnte nichts sagen, dann wollte ich schreien, stampfen, fluchen, weinen», sagt Mirjam Beutler. «Doch unten warteten mein neunmonatiger Sohn und meine Mutter.» Sie nahm sich zusammen und sagte nichts.
Zwölf Jahre sprach Mirjam Beutler mit niemandem darüber. Nur gerade ihre beste Freundin war eingeweiht. Eine Paartherapie brachte wenig. Immerhin versprach Philipp, ihr treu zu bleiben. Trotzdem war Mirjam eifersüchtig, wenn ihr Gatte geschäftlich ins Ausland reiste. «Hat er dort eine Affäre?», fragte sie sich dann immer.
Selbsthilfegruppe gibt neue Kraft
Einige Jahre vergingen ruhig, ein zweites Kind kam zur Welt. Philipp unterdrückte sein Verlangen, wurde krank und hegte Suizidgedanken. «So kann es nicht mehr weitergehen», sagte Mirjam Beutler und erlaubte ihrem Mann fremdzugehen. Waren die Kinder im Bett, ging Philipp in den Ausgang. Mirjam Beutler: «Ich wurde immer wieder aufs Neue verlassen und konnte mit niemandem darüber reden.»
Ihre Isolation löste sich erst, als sie auf das Inserat einer Selbsthilfegruppe stiess. Endlich hatte Mirjam Beutler Leute mit dem gleichen Problem gefunden – mit den gleichen Ängsten und denselben Fragen. «Und endlich war ich sicher, nicht die einzige Verzweifelte zu sein.»
Fünf bis zehn Prozent der Männer sind homosexuell. Doch längst nicht alle stehen offen dazu. Fachleute schätzen, dass in der Schweiz mehrere zehntausend verheiratete Schwule leben.
Mirjam hatte nicht gemerkt, dass ihr Mann schwul ist. Als sie ihn einmal fragte, ob er sie betrüge, antwortete er: «Mit einer Frau würde ich dich nie betrügen.» Mirjam atmete auf. Der tiefere Sinn seiner Aussage wurde ihr erst viel später bewusst.
Auch Dorothee Gasser wurde einiges erst im Nachhinein klar. Ihr Mann war Mechaniker und kam nachts oft spät nach Hause. Sie ahnte nicht, dass er abends nicht in der Werkstatt nach Motorschäden suchte – sondern im Park nach Männern. Erst nach vielen Jahren, als sie ihm einen Seitensprung gestand, rückte auch er mit der Sprache heraus. «Ich hatte das Gefühl, dass er nur auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte», sagt Dorothee Gasser.
Das Paar lebte noch sechs Jahre zusammen. Schliesslich wurde die Achterbahn der Gefühle zu turbulent. «Manchmal schien es zu gelingen, dass jeder von uns ein eigenes Intimleben führte und wir die Familie dennoch zusammenhalten konnten», sagt Dorothee Gasser. «Doch mein Mann hatte wenig Verständnis für meine Grenzen. Ich bestand darauf, dass er keine Männer in unsere Wohnung mitbrachte.»
Besonders zu schaffen gemacht hatte ihr, dass die Kinder nicht von ihm selbst aufgeklärt wurden. «Eines Tages lag eine Zeitung herum, in der mein Mann mit vollem Namen und Bild von seiner Arbeit für eine Schwulentagung erzählte. Unsere damals 12-, 14- und 16-jährigen Kinder wussten nichts von seiner Neigung.»
Auch für Elisabeth Studer kam das Coming-out ihres Mannes aus heiterem Himmel. Sie war damals schwanger. Das bis anhin glückliche Paar war gerade dabei, das Kinderzimmer einzurichten, als der Mann Elisabeth eröffnete, eine «Neigung zur Homosexualität» zu haben. Er sei aber auch nach 13 Jahren Beziehung nur in sie verliebt und freue sich auf das Kind.
Doch Elisabeth Studers Mann wurde immer verschlossener. Eine Woche nach der Geburt der Tochter beichtete er, es sei «etwas Schreckliches passiert», er habe sich in einen Mann verliebt. Trotzdem wollte er mit ihr zusammenbleiben. Für Elisabeth Studer begann eine lange Leidenszeit. «Es tat weh zuzuhören, wenn er mit einem Freund telefonierte – oder wenn er erst um drei Uhr nachts nach Hause kam.»
Seit ihr Mann ausgezogen ist, hat sich das Verhältnis entspannt. «Er übernimmt viel Verantwortung bei der Betreuung unserer zweijährigen Tochter. Ich habe einen neuen Partner. Mein Mann ist glücklich verliebt. Mittlerweile verstehen wir uns alle gut und unternehmen vieles gemeinsam.» Zudem sei es einfacher, wenn der Mann einen wegen eines anderen Mannes verlasse, sagt Elisabeth Studer. «Das ist keine Konkurrenz, an der ich mich messen muss.»
Sprechen hilft aus der Isolation
So unterschiedlich die Geschichten im Einzelfall verlaufen – eines haben sie gemeinsam: «Wir alle haben das Doppelleben unserer schwulen Männer während einer gewissen Zeit gedeckt und gegen aussen den Anschein einer heilen Familie aufrechterhalten», bilanziert Dorothee. «Und wir haben mindestens so sehr darunter gelitten wie unsere Männer.»
Für die verheirateten Männer bedeutet das Coming-out das Ende einer Lebenslüge und der Beginn einer neuen Identität. Auch die Frauen müssen ihr Leben neu in die Hand nehmen. Mirjam, Dorothee und Elisabeth haben die Leere überwunden, die Wut verarbeitet und ihr Leben neu in die Hand genommen.
Wichtig sei es, möglichst schnell andere Betroffene kennen zu lernen, ist Elisabeth Studer überzeugt. «Das Gespräch mit anderen Frauen in der gleichen Situation verhindert, dass man unnötige Schuldgefühle entwickelt.» Darum sei es besser, in einer ersten Phase nur mit Vertrauenspersonen darüber zu reden.
«In der Selbsthilfegruppe bestärkten wir uns gegenseitig, uns nicht alles gefallen zu lassen», sagt Dorothee Gasser. Nach dem Coming-out sei es wichtig, Grenzen zu setzen. Ebenfalls entscheidend ist, sich gründlich über Homosexualität zu informieren, um Vorurteile abzubauen. Nötig ist auch eine Neuorientierung: Soll man weiterhin unter demselben Dach leben – und unter welchen Bedingungen? Soll man sich trennen oder sich gleich scheiden lassen? Wie sagt man es den Kindern? Wie soll das Leben weitergehen? Wer übernimmt die Kinderbetreuung? Und wie steht es mit dem Finanziellen?
Ein Patentrezept für das weitere Eheleben nach dem Coming-out des Gatten gibt es nicht. Dorothee hat – 16 Jahre nach der Trennung – nur noch wenig Kontakt zu ihrem Mann. Elisabeth lebt getrennt von ihrem Partner. Wann es zur Scheidung kommt, ist noch offen. Und Mirjam ist «glücklich geschieden», lebt mit den Kindern sowie einem neuen Partner zusammen und sieht ihren Exmann samt seinem Freund regelmässig: «Wir sind jetzt eine neue Familie.»