Eine Schule fürs Leben
Für Lehrpersonen, die im Kinderspital in Zürich unterrichten, ist kein Tag wie der andere. Und für die Langzeitpatienten ist jede Schulstunde ein Geschenk des Lebens.
Veröffentlicht am 2. November 2007 - 09:16 Uhr
Schwänzen ist erlaubt, Hausaufgaben sind freiwillig, Prüfungen kein Thema. Von einer Schule ohne Diktate können Kinder und Jugendliche in der Regel nur träumen. All diese Privilegien stehen den Langzeitpatientinnen und -patienten im Zürcher Kinderspital offen. Stattdessen mobilisieren sie alle Kräfte, damit keine Unterrichtsstunde ausfallen muss. Denn jede Lektion ist für sie ein Geschenk des Lebens, ein Zeitfenster zur Aussenwelt, das ihnen einen Blick freigibt auf den vertrauten Alltag draussen vor der Tür. Tag für Tag.
«Also wie immer bis morgen», ruft der achtjährige Orhan seiner Privatlehrerin Barbara Trechslin freudig beim Abschied zu. Seit der Einweisung ins Kinderspital im Mai lebt er isoliert in einer der vier sterilen Kabinen auf einer Spezialabteilung des Zürcher Kinderspitals. Er litt an einer lebensbedrohlichen Pilzinfektion und musste eine Chemotherapie und eine Blutstammzelltransplantation über sich ergehen lassen. Bis sich sein Immunsystem regeneriert hat, darf er mit der Aussenwelt nicht in Berührung kommen. Für das Pflegepersonal wie für die Angehörigen gelten strenge Hygienevorschriften.
«Abgemacht, Orhan, wie immer bis morgen», verspricht Barbara Trechslin. Die 44-jährige Schulleiterin besucht den aufgeweckten Patienten jeden Morgen in seiner Kabine, wenn es sein Gesundheitszustand zulässt. Seit ihrem Stellenantritt am Kinderspital vor einem Jahr ist Trechslin neben der Schule auch für den spitalinternen Kindergarten und den Werkunterricht verantwortlich. Zugleich engagiert sie sich als Lehrerin an vorderster Front, vorwiegend in der allgemeinen chirurgischen Abteilung und der Abteilung für Knochenmarktransplantation.
Keimfrei zum Unterricht
«Hallo, Orhan, gleich gehts los», begrüsst Barbara Trechslin am nächsten Morgen den Patienten. Die Freude ist gegenseitig. Der kleine Charmeur weiss, dass er sich noch zu gedulden hat. Erst muss sich die Einzellehrerin den obligaten Mundschutz aufsetzen, gründlich Hände und Arme desinfizieren und eine Spezialschürze überziehen. Für den Unterricht ist keimfrei gehaltenes Material vorgeschrieben: Papierblätter werden in eine Plastikhülle geschweisst, Bücher kommen bis zum Gebrauch in ein Kuvert, alle Spielsachen und auch die Farbstifte sind aus Kunststoff und werden vor jedem Gebrauch zuerst in Desinfektionsmittel eingelegt und einzeln abgerieben.
Wie bei jedem Kind geht Trechslin auf die Wünsche und Bedürfnisse des Zweitklässlers ein und nimmt auf seine körperliche und seelische Verfassung Rücksicht. Orhan ist für sie ein Lichtblick. «Er hat den Unterricht als Chance genutzt», sagt sie. Der türkische Bub habe im Umgang mit Ärzten und Pflegenden verblüffend schnell und gut Hochdeutsch gelernt.
Eine Stunde des Glücks
Mit einem Bein steht der Knirps bereits wieder draussen vor der Tür: Sein Körper reagierte auf die Blutstammzelltransplantation positiv, die Infektionskrankheit kam zum Stillstand. Sobald den Eltern eine neue Wohnung zur Verfügung steht, die sich für die anspruchsvolle Nachbetreuung eignet, kann er das Spital verlassen.
Ob in der Schule, beim Werken, im Einzelunterricht oder im Kindergarten: Im Spital ist kein Tag wie der andere. «Aber jeder Tag macht Sinn», sagt Silvia Kaiser, Leiterin des fünfköpfigen Kindergartenteams und stellvertretende Schulleiterin. Seit 19 Jahren betreut und begleitet sie krebskranke Kinder - auf einem Teil ihres Lebenswegs oder an die Schwelle zum Tod.
«Ich freue mich auf jedes Kind», strahlt sie. Eine Stunde pro Tag schenkt sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit und Zuneigung. Als Erstes versucht sie zu erspüren, wie sich der kleine Patient momentan fühlt und was er sich für diese Stunde wünscht. Ihr Hauptanliegen: «Es soll den teils lebensbedrohlich kranken Kindern in dieser kurzen Zeit rundum gut gehen.»
Todesfälle kosten Kraft
Im Spannungsfeld zwischen Leben und Tod mit jeder Faser auf die einzelnen Persönlichkeiten einzugehen zehrt an der Substanz. Zu Beginn arbeitete die Kindergärtnerin Vollzeit. Als im zweiten Jahr im Spital acht Kinder starben, spürte sie die Grenzen der Belastbarkeit und reduzierte ihr Pensum auf 70 Prozent. Rückhalt findet sie wie alle anderen Lehrpersonen auch bei den wöchentlichen Rapporten. Alle Involvierten sprechen am runden Tisch jeden einzelnen Krankheitsfall durch und suchen gemeinsam nach optimalen Lösungen für Kind und Familie. «Jedes Kind wird auf eine andere Art krank und gesund», sagt sie. Und jedes Kind stelle sie vor eine neue Herausforderung.
Zum Beispiel der dreieinhalbjährige Willi auf der Abteilung für Krebskranke. Trotz den vielen Eingriffen ist er ein wahres Energiebündel. Unermüdlich zielt der Kleine mit dem Federballschläger auf den blauen Ballon, den ihm die Kindergärtnerin zuwirft, und wirbelt ihn freudekreischend durch die Luft. Den Infusionsschlauch, der über seiner Pyjamahose baumelt, scheint er vergessen zu haben. Die Betreuerin zeigt auf die beiden Glasperlenketten am Infusionsständer: Jede Perle stehe für einen medizinischen oder pflegerischen Eingriff im Leben des kleinen Willi.
«Jeder Tag macht Sinn»: Kindergärtnerin Silvia Kaiser im Spiel mit Krebspatient Willi
Immer setzt die Kindergärtnerin alles daran, in der Klinik ein Stück Wirklichkeit aufleben zu lassen. Im Winter beispielsweise holt sie in einem Becken Schnee auf die Krankenstation, damit die Kleinen eigenhändig einen Schneemann bauen können. «Ein isoliertes Leben in totaler Abhängigkeit ist schwer nachvollziehbar», gibt Silvia Kaiser zu bedenken.
Unterschiedliche Buben und Mädchen im morgendlichen Gruppenunterricht möglichst harmonisch in die Runde einzubinden stellt an die Kindergärtnerin Käthi Frick hohe Ansprüche. Während sie mit sanfter Stimme zur Gitarre singt, nimmt sie mit jedem Kind Augenkontakt auf. Lara und Salomé sind körperlich nicht in der Verfassung, den Unterricht aktiv mitzugestalten. So kommt Nico voll auf seine Rechnung. Der Fünfjährige leidet an einer seltenen Darmfunktionsstörung. Im Spitalkindergarten ist er ein bekanntes Gesicht: Seit zwei Jahren - und wohl bis zur rettenden Transplantation - überbrückt er hier morgens eine Stunde, bis ihn sein Mami abholt. Stolz setzt er sich auf den Stuhl mit seinem Namensschild und strahlt: «Nur für mich.» Zum Schluss dreht er mit seinem Bobbycar eine Runde und flitzt davon.
«Ich habe hier Deutsch gelernt»
Krankenschwester oder Lehrerin? Bea Ramsauer schwankte bei der Berufswahl hin und her und absolvierte erst einmal das Seminar. Dann bot sich am Kinderspital mit der Spitalschule «die ideale Kombination». Seit vier Jahren arbeitet sie als Heilpädagogin im «Zentrum für brandverletzte Kinder, plastische und rekonstruktive Chirurgie» und in anderen Abteilungen.
Für die beiden Patientinnen Cinzia und Lara hat sie auf dem Spitalgang eine «Schule auf Rollen» installiert. Die Romanisch sprechende achtjährige Cinzia sitzt mit einbandagierten Beinen im Rollstuhl. Sie erlitt bei einem Gasunfall Verbrennungen. Lara, siebenjährig, räkelt sich auf dem Umbettwagen vor einem Aquarium. Bis ihr verletztes Bein geheilt ist, nimmt sie jede Schullektion als Abwechslung. Beide Mädchen hoffen, den Anschluss an die herkömmliche Schule zu schaffen. Cinzia zeigt auf ihr Aufgabenheft: «Ich habe hier im Spital Deutsch gelernt und erst noch die Schnürlischrift.»
Bei Werk- und Zeichenlehrer Willi Maier, dem einzigen Mann im Schulteam, lassen die Kinder und Jugendlichen den Spitalalltag gern eine Stunde hinter sich zurück. Neben der Schule können sie hier spielerisch ihre kreativen Seiten zum Ausdruck bringen. «Jeden Morgen komme ich freiwillig», sagt Omar. Seit Geburt war er leicht gehbehindert, jetzt sind beide Beine operiert und eingegipst. Beflissen bastelt der 13-jährige Gymnasiast nach einer Anleitung an einem grünen Seemonster, dessen Kopf ein Solarmotor in Schwung bringen soll. «Selber wäre ich nie auf eine solche Idee gekommen», sagt er begeistert. Das Nessie soll Omar später an die positiven Seiten seines Spitalaufenthalts erinnern.
Aufbauende Eindrücke und Erlebnisse sind auch wichtig für die nierenkranken Kinder und Jugendlichen auf der Dialysestation, dem grössten Kinder-Nierenzentrum der Schweiz. Dreimal pro Woche müssen sie sich während drei bis vier Stunden einer Blutwäsche unterziehen. Ein Arm ist mit Schläuchen an das meterhohe Hämodialysegerät angeschlossen, das gespenstische Surr- und Gurrtöne von sich gibt. Hier durchläuft das Blut ausserhalb des Körpers einen Entgiftungsprozess. Alle Patienten, bei denen keine Lebendspende möglich ist, stehen auf der Warteliste für ein Spenderorgan eines Verstorbenen.
Eine Bereicherung - auch für Pensionäre
Auch der 17-jährige Umut Isik, dessen Nieren seit Geburt krank sind, wartet auf ein geeignetes Spenderorgan. Die Heilpädagogin Christine Walser ist immer wieder von seiner Energie und Lebensfreude beeindruckt, wenn sie sich mit ihrem Lernmobil dreimal pro Woche neben seinem Bett einrichtet. Der Jugendliche wollte in den Einzellektionen unbedingt Englisch lernen, «und zwar perfekt», wie er betont. Das komme ihm später im Berufsleben bestimmt zugute. Bis zum Schluss der Stunde hält Umut Isik voller Konzentration durch und parliert locker mit seiner Lehrerin. «Er ist total motiviert», sagt sie anerkennend.
Englisch lernen am Dialysegerät: Umut, 17, mit Heilpädagogin Christine Walser
Auch wenn kein Englischunterricht angesagt ist, kann sich Umut Isik während der Dialyse auf Besuch freuen. Während der drei bis vier Stunden wird er zweimal pro Woche von Rita Seitz umsorgt und unterhalten. Die 75-jährige Witwe engagiert sich seit 13 Jahren beim spitalinternen Freiwilligendienst IDEM (Im Dienste eines Mitmenschen). «Ich habe Umut ins Herz geschlossen», sagt sie. Rita Seitz schätzt den Einsatz auf der Dialysestation, weil sie hier einen Patienten über Jahre hinweg bis zur Nierentransplantation betreuen und mit ihm eine Beziehung aufbauen kann. «Die Besuche sind für mich eine Bereicherung», erklärt sie.
«Ein erfolgreicher Spitalunterricht basiert auf intensiver Beziehungsarbeit.» Schon nach einem Jahr sieht sich die Schulleiterin Barbara Trechslin in dieser Annahme bestätigt. Die individuelle Betreuung löst häufig einen Reife- und Entwicklungsprozess aus. «Wir kommen den Kindern sehr nahe», schildert sie ihren täglichen Einsatz. Oft brechen aufgrund der Krankheit schwierige Familienkonflikte auf, die bisher unterdrückt wurden. Sie bekomme oft Verzweiflung und Hilflosigkeit zu spüren.
«Kinder sind stark»
«Im Gegensatz zur Volksschule werden im Spital die Familien und ihr Umfeld schnell und fachmännisch auf allen Ebenen betreut», ergänzt sie. Sozialdienst, Psychologen, Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle sind unter einem Dach vernetzt. Bei ihrer letzten Tätigkeit als Mittelstufenlehrerin und Mitglied des Schulleitungsteams in Oetwil am See habe sie wenig Möglichkeiten gehabt, schwelende Missstände so schnell anzugehen. Mit der Krankheit der jungen Menschen sei sie von Anfang an zurechtgekommen. Wenn Patienten in der Schulstunde über einen bevorstehenden medizinischen Eingriff reden wollen, nimmt sie diese Bedürfnisse ernst. In den vielen Gesprächen wurde ihr bewusst: «Kinder sind stark, sie wissen am besten, wie es um sie steht.»