Sie haben einen schweren Weg gewählt, aber ich finde Ihre Absicht prima. Offenbar haben Sie erkannt, dass man im Leben keinen Frieden finden kann, wenn Spannungen zu den Eltern bestehen – selbst wenn man als Erwachsener glaubt, sich von ihnen gelöst zu haben.

Verzeihen ist angesagt; nur kann man das nicht willentlich tun, sondern es ist immer ein Geschenk, wenn es gelingt. Aber man kann darauf hinarbeiten. Der erste Schritt besteht darin, die Augen nicht vor den erlittenen Schmerzen oder Ängsten zu verschliessen. Die Qual oder der Schrecken war da und beeinträchtigte das Leben als Kind.

Darüber – und das ist der zweite Schritt – muss man trauern und darf auch nachträglich wütend werden. Wenn man durch diese Phase gegangen ist, stellt sich die Frage, was noch gesagt oder getan werden muss, um das «unfertige Geschäft» zu beenden – Gestaltpsychologen sprechen hierbei nämlich von einem «unfinished business».

Bei Ihnen könnte das Geschäft abgeschlossen werden, indem Sie Ihrem Vater persönlich und ernsthaft sagen, wie Sie als Kind unter seinen alkoholbedingten Wut- und Gewaltausbrüchen gelitten haben. Dabei gehts nicht um Vorwürfe oder um eine Verurteilung, sondern um die schlichte Mitteilung des damaligen Leids.

Im Idealfall wird Ihr Vater berührt sein und sich entschuldigen. Meist können Eltern solche Mitteilungen allerdings nicht akzeptieren, weil sie es nicht ertragen, Fehler zuzugeben. Sie werden sich trotzdem erleichtert fühlen, weil Sie einmal deutlich aussprechen konnten, was Sie erlebt haben. Es wird Ihnen helfen, sich aus der hasserfüllten Verstrickung mit dem Vater zu befreien. Möglicherweise können Sie jetzt eine neue, positive Sohn-Vater-Beziehung aufbauen – möglicherweise werden Sie einfach Ihren Weg allein, aber weniger belastet weitergehen.

Die Eltern zu akzeptieren gehört zur Identitätsbildung
Es ist für Männer und Frauen wichtig, ihre Eltern zu würdigen – unabhängig davon, ob diese «gut» oder «schlecht» waren –, denn sie verdanken ihnen ihr Leben. Darüber hinaus spielt die Beziehung zu den Eltern auch in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Rolle. Wer den gleichgeschlechtlichen Elternteil akzeptieren und mit ihm in Frieden leben kann, hat eine gestärkte und sichere Identität als Mann oder als Frau.

Die frühkindliche Beziehung des Mädchens zum Vater und des Knaben zur Mutter ist die erste Begegnung mit dem anderen Geschlecht und deshalb prägend. War diese Beziehung konfliktbeladen, können auch die Partnerschaften bei Erwachsenen von chronischen Konflikten überlagert sein. Es lohnt sich also auf jeden Fall, mit den Eltern ins Reine zu kommen.

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Quelle: Archiv