Behördliches Trauerspiel um eine Mutter
Verzweifelt kämpft eine 31-jährige Frau um ihre fünf Kinder. Sie wurden von Amts wegen an verschiedenen Orten untergebracht – eine schwer nachvollziehbare Entscheidung.
Veröffentlicht am 19. Juli 2004 - 09:57 Uhr
Rund um das Haus mit dem Blumenladen bauen sich Polizisten auf. Ein Ambulanzfahrzeug lässt befürchten, dass mit Verletzten zu rechnen ist. Die Stimmung über der 2700-Seelen-Gemeinde Buttisholz im Luzerner Mittelland ist geladen. Haben sich im Haus Geiselnehmer oder gar Terroristen verschanzt?
Hinter den Fensterscheiben machen handgeschriebene Hilferufe betroffen. «Es ist eine Schande, dass die Behörden mir meine Kinder mit der Polizei weggenommen haben», ist zu lesen. Oder: «Meine neugeborenen Zwillinge sind im Kanton Uri, zwei Stunden weg von mir, ich will sie zurück.» Daneben hängen Plakate mit Fotos von fünf Kindern.
Der handstreichartige Polizeieinsatz gilt Margot Kurmann – der verzweifelten Mutter, die nach ihren fünf Kindern schreit. Vier wurden ihr am 4. März nach einem Obhutsentzug von Amts wegen weggenommen. Der älteste Sohn lebt in einer Pflegefamilie.
Dass die Beobachter-Journalistin ausgerechnet heute mit Margot Kurmann eine Verabredung hat, scheint den Umstehenden nicht ins Konzept zu passen. Vor Ort diskutieren auch die Buttisholzer Gemeinderätin und Sozialvorsteherin Klara Ineichen sowie die leitende Ärztin des Psychiatriezentrums Luzerner Landschaft, Esther Frey. Frau Kurmann widersetze sich einer notfallmässigen Einweisung in die Psychiatrische Klinik St. Urban, heisst es knapp, sie lasse niemanden ins Haus.
Wie in einem Krimi, nur tragischer
Für die Reporterin öffnet die Belagerte die Eingangstür nur kurz, um sie gleich wieder abzuschliessen. In der Wohnung herrscht höchste Alarmstufe. Margot Kurmann weigert sich lautstark, sich von der Polizei in die «Psychi» abführen zu lassen: «Ich habe Menschenrechte.» Ihr Mann Philipp Grüter, der Vater der fünf Monate alten Zwillinge, spielt für den Fall eines Angriffs verschiedene Szenarien durch. Und bei Tina Ineichen, einer Bekannten Margot Kurmanns, kommt das eigene Trauma hoch, als im letzten Herbst Polizisten bei ihr zu Hause ihr acht Monate altes Enkelkind abholten und es ins Heim brachten.
Die Aktion, die sich in Buttisholz abspielt, nennt sich fürsorgerischer Freiheitsentzug. Margot Kurmann habe Drohungen gegen Behörden ausgestossen und sei selbstmordgefährdet, erfährt der Beobachter während seiner Vermittlungsversuche über eineinhalb Stunden hinweg. Die Vollzugsermächtigten empfehlen, sich bei einem allfälligen Handgemenge nicht einzumischen.
Genaue Gründe für die Notfallmassnahme hat Margot Kurmann trotz wiederholter Nachfrage nicht erfahren. Die Lage im Haus spitzt sich zu. Die Eingeschlossenen überlegen, ob sie sich hinter dem Küchenbuffet verbarrikadieren sollen. Dann wieder greifen sie zum Handy. Plötzlich gibts Entwarnung. «Einsatz abgebrochen!», teilt der Polizeiverantwortliche durchs Katzentürchen im Küchenfenster mit. Im ersten Moment will niemand an den Abzug der Polizeiequipe glauben.
Am nächsten Tag fährt Margot Kurmann nach Sursee, um auf dem dortigen Polizeiposten die Hintergründe des Einsatzes zu klären. Diesmal schnappt die Falle zu: Ein Polizeiauto bringt sie zur Ärztin Esther Frey. Sie hat bereits ein psychiatrisches Gutachten über Margot Kurmann in Arbeit. Nach einem kurzen Gespräch wird die Mutter von der Polizei auf der Stelle in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik St. Urban verfrachtet. Mit schriftlicher Begründung: Selbstgefährdung, Fremdgefährdung, Persönlichkeitsstörung.
Zehn Tage später wird der Freiheitsentzug vom Amtsgericht Willisau aufgehoben: Die Einweisung sei zu Unrecht erfolgt. Margot Kurmann kehrt nach Buttisholz zurück. In ihrem Geschäft sind die Blumen und Gestecke längst verwelkt, die Kunden für Ostern bestellt hatten. Das Seilziehen mit den Behörden geht weiter. «Ich will endlich meine fünf Kinder zurück», schreit es aus der 31-jährigen Mutter. Das Leben ohne die Zwillinge und die drei anderen Kinder im Alter von drei bis neun Jahren ist für sie unerträglich und bringt sie jeden Tag der Verzweiflung einen Schritt näher. «Nur als Mutter bin ich glücklich», sagt Margot Kurmann. Doch ihr Muttersein bleibt eine Odyssee.
Pro und kontra: Wer hat Recht?
«Der Obhutsentzug war kein leichter Entscheid und der erste in unserer Gemeinde», gibt Klara Ineichen zu bedenken, die noch bis Ende August als Sozialvorsteherin von Buttisholz amtiert. «Dafür müssen gesicherte Fakten auf dem Tisch liegen.» Der Gemeinderat, er ist auch verantwortliche Vormundschaftsbehörde, listet in seinem Entscheid vom 4. März 2004 verschiedene Fakten auf, darunter «eine massive Summierung von aussergewöhnlichen Ereignissen wie Polizeieinsätzen, Tätlichkeiten, Drogenkonsum, Mord- und anderen Drohungen». Der Rechtsbeistand von Margot Kurmann hat den Entscheid angefochten.
Dass die Mutter in Stresssituationen gelegentlich Joints geraucht hat, bestreitet sie nicht. Die «aussergewöhnlichen Ereignisse» erklärt sie sich mit zwei Einbrüchen im Haus, während sie sich im Spital von der Geburt erholte. Zwei damalige Mitarbeiterinnen des Blumenladens wurden einvernommen und gaben dabei zu Protokoll, die Mutter vernachlässige und schlage ihre Kinder. Später widerriefen sie die Aussagen. Die Kinder wurden dennoch von der Polizei abgeholt und ins Kinderheim Titlisblick in Luzern gebracht.
Der Leidensweg begann für Margot Kurmann vor mehr als einem Jahr nach der Trennung von ihrem früheren Freund, dem Vater zweier Kinder. Damals sah sie sich gezwungen, aus dem gemeinsamen Haus in Schenkon auszuziehen, und willigte unter Druck der Wohngemeinde in eine Beistandschaft für alle drei Kinder ein. Mit den zwei jüngeren musste sie in ein Heim für Mutter und Kind in Allschwil ziehen, während der älteste Sohn in der ihm vertrauten Pflegefamilie blieb. Als Beiständin für die drei Kinder wurde – entgegen dem Wunsch der Mutter – die 36-jährige Treuhänderin Irene Hodel ernannt, die für die Amtsvormundschaft der Ämter Sursee und Hochdorf mit einem Arbeitspensum von zehn Prozent tätig ist.
Im Wochenbett auf Drogen getestet
Im letzten November bezog Margot Kurmann in Buttisholz eine Wohnung, in der Hoffnung, mit ihrem Blumengeschäft wieder Fuss fassen und nach der Geburt der Zwillinge mit ihrem Mann und allen Kindern zusammenleben zu können. Stattdessen begann für sie ein Kampf gegen Windmühlen.
Nach der Geburt der Zwillinge konnte sie im Wochenbettbericht des Kantonalen Spitals Sursee-Wohlhusen lesen, dass bei ihr «im Auftrag des Sozialvorstands Buttisholz (Fr. Ineichen)» ein Drogenscreening durchgeführt worden ist, mit dem schriftlichen Vermerk: «ohne Wissen der Patientin». Die Vormundschaftsbehörde Buttisholz teilte der Spitalleitung ebenfalls schriftlich mit, der Beistand habe für die neugeborenen Zwillinge und die zwei mittleren Kinder bereits «verschiedene Platzierungen abgeklärt» und «Lösungsvorschläge» ausgearbeitet. Auch hier hat Sozialvorsteherin Klara Ineichen darum gebeten, «Frau Kurmann über unsere eingeleiteten Schritte nicht zu informieren».
Margot Kurmann erfuhr trotzdem davon. Das spätere Anhörungsverfahren bezeichnet ihr Anwalt Thomas Wüthrich als «Farce». So kamen die Zwillinge nach der Geburt gar nicht erst nach Hause, sondern gleich ins «Haus Magdalena» in Schattdorf im Kanton Uri. Auch für sie übernahm Irene Hodel die Beistandschaft.
Dass die Kinder getrennt wurden, ist schwer nachvollziehbar. Und noch unverständlicher ist, dass die Zwillinge von Amts wegen ausgerechnet ins «Haus Magdalena» kamen: Recherchen des Beobachters bei der Fachstelle für Sektenfragen Infosekta in Zürich haben ergeben, dass in diesem Mutter-Kind-Heim ein «christlich-fundamentalistischer» Geist herrsche.
Das stellvertretende Leiterehepaar Margrit und Fridolin Schuler sowie Stiftungsratspräsident Stephan Schürpf sind bekennende und praktizierende Mitglieder der Freikirche Chrischona: Schuler hat sich vier Jahre zum Prediger ausbilden lassen. Gemäss Wochenplan leitet er wochentags von 8 bis 8.45 Uhr für die Mütter eine Andacht. «Die Teilnahme ist freiwillig», stellt Schuler klar.
Die Hausordnung hingegen mahnt zur Andacht: «Grundsätzlich erwarten wir, dass du (die Mutter; Anmerkung der Redaktion) daran teilnimmst.» Die im Haus gebräuchliche Bibelübersetzung mit dem Titel «Hoffnung für alle» kommt aus dem hauseigenen Brunnen-Verlag Basel und Giessen und ist vorwiegend in evangelikalen Kreisen verbreitet. Von Bibelkennern wird sie als «tendenziös», als «Pseudobibel» bezeichnet.
Margot Kurmann weigerte sich von Anfang an, ins «Haus Magdalena» einzuziehen: «Ich bin katholisch und ertrage dieses frömmlerische und manipulative Umfeld nicht», sagt die Mutter.
Der Besuch der Kinder ist für die Eltern umständlich. Die beiden sind auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, die Reise von Buttisholz nach Schattdorf dauert bei mehrmaligem Umsteigen zwei bis drei Stunden. Der Besuch der älteren Kinder im «Titlisblick» in Luzern und die gemeinsamen Wochenenden mit dem ältesten Sohn müssen zusätzlich organisiert werden.
In der Regel würden die Mütter freiwillig ins «Haus Magdalena» einziehen oder ein Probewohnen vereinbaren. «Dass sich eine Mutter wegen des angeblich christlich-fundamentalistisch geprägten Lebens hartnäckig weigert, ihren im Voraus bei uns platzierten Kindern nachzuziehen, ist für uns ein Novum», sagt Prediger Schuler.
Auf die schriftliche Frage an Beiständin Irene Hodel, ob sie von der Nähe des «Hauses Magdalena» zur Chrischona-Freikirche Kenntnis hatte, beruft sich diese auf die Schweigepflicht. Sozialvorsteherin Klara Ineichen gab zu verstehen, von der Verbindung zur Chrischona-Gemeinde nichts gewusst zu haben: «Die Rückmeldungen auf unsere Nachforschungen waren durchwegs positiv.»
Ärztlich verordnete Therapie
Alles andere als positiv klingt der Befund der Kinderärztin aus Sursee, mit der Margot Kurmann in Absprache mit der Beiständin zum zweiten Mal einen Impftermin vereinbart hatte. Das rechte Hinterhaupt des einen Kindes sei «abgeflacht» und «eine manuelle Therapie» bei einem Chiropraktor im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil angezeigt, ist im Überweisungsschreiben festgehalten. Eine «Lagerung auf die linke Seite» sei zu bevorzugen. Für Margot Kurmann war diese Prognose ein Schock: «Jede Mutter weiss, dass man Babys nicht immer in derselben Position hinlegt.»
In ihrer Sorge vereinbarte sie gleich einen Arzttermin in Nottwil, den die Beiständin sistierte, mit der Begründung, dass es «in Schattdorf beziehungsweise in der näheren Umgebung» auch «entsprechende Therapeuten» gebe. Zehn Tage später erfuhr die Mutter im «Haus Magdalena», dass trotz ärztlichem Zeugnis noch keine Massnahmen getroffen wurden. Bestürzt brachte sie das Kind sofort nach Nottwil zum Arzt. Erst jetzt gab Irene Hodel ihre Einwilligung für die Fortsetzung der Therapie im Paraplegiker-Zentrum.
Das Vertrauensverhältnis zwischen Mutter und Beiständin ist seither irreparabel gestört. Rechtsvertreter Wüthrich forderte deshalb den Gemeinderat auf, «in Kürze eine neue Beiständin oder einen Beistand zu ernennen». Irene Hodel sei für seine Mandantin «unzumutbar», erklärt er dem Beobachter. Mittlerweile hat der Gemeinderat von Buttisholz Stillschweigen beschlossen, «infolge hängiger Beschwerden». Seit der Geburt der Zwillinge hat Margot Kurmann 26 Kilo abgenommen und findet kaum mehr Schlaf: «Ich kam mit elf Jahren selber ins Heim und weiss, wie man dort leidet.» Um nicht in Verzweiflung zu versinken und überleben zu können, hat sie den Blumenladen zu einem Secondhandshop erweitert. Nach der Heirat am 21. Mai stellte die Gemeinde Buttisholz die bisherige Sozialhilfe für Margot Kurmann ein, mit der Begründung, ihr Mann könne nun für sie mit aufkommen. Philipp Grüter ist aber aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig. Bis er eine IV-Rente erhält, wird er von seiner Familie monatlich mit 2000 Franken unterstützt.
1000 Franken sollen die Not lindern
Bis Mitte Juli war Margot Kurmann auf den Goodwill der Gemeinde angewiesen. Als sie unlängst mit leeren Händen bei Gemeindeschreiber Isidor Stadelmann um Unterstützung bat, wurde sie abgewiesen. Erst nach Intervention des Beobachters nahm Stadelmann mit Sozialvorsteherin Klara Ineichen Kontakt auf und überreichte Margot Kurmann 1000 Franken. Mittlerweile hat ihr die Gemeinde zwei «Belege über die monatlichen Auszahlungen» anhand der SKOS-Richtlinien zur materiellen Grundsicherung ausgestellt.
Jedes Mal, wenn Margot Kurmann das Gemeindehaus verlässt, stösst sie auf die unübersehbaren Lettern an der Wand: «Gemeinde Buttisholz – leben, wo Leben lebenswert ist.»