Immer wieder Fehlplatzierungen
In der Schweiz leben 15'000 Pflegekinder. Dennoch behandeln die Behörden sie immer noch stiefmütterlich – es mangelt an Unterstützung und Betreuung.
Veröffentlicht am 14. Februar 2001 - 00:00 Uhr
Allein im Kanton Zürich müssen jedes Jahr knapp 200 Kinder fremdplatziert werden. Doris war eines davon. Die heute 42-jährige Frau empfindet ihre Kindheit rückblickend als Abschieberei. «In meiner Erinnerung war ich nicht Kind, sondern ein"Fall", und zwar offensichtlich ein so schwieriger, dass ich mehrmals umplatziert werden musste.»
Mit drei Jahren kam Doris in ein Heim – unterversorgt nicht nur an Nahrung, sondern auch an Zuwendung. Ihre allein erziehende Mutter hatte psychische und finanzielle Probleme und griff in ihrer totalen Überforderung häufig zur Flasche. Nach einem Jahr wurde Doris in einer Pflegefamilie platziert. Ihre Erinnerung daran sind vage: «Ich weiss nur noch, dass ich dauernd ausgeschimpft wurde, weil ich das Bett nässte und mich weigerte, in den Kindergarten zu gehen.»
Als sie sechs war, teilte ihr der Sozialarbeiter mit, dass sie wieder zu ihrer Mutter zurückkehren könne. Doch die Rückplatzierung war ein Fehlentscheid: Nach knapp einem Jahr musste Doris' Mutter nach einem Selbstmordversuch in die Klinik eingeliefert werden. Für das Mädchen bedeutete dies: eine neue Pflegefamilie und neuerliches Scheitern. «Ich stellte mich quer, wo ich nur konnte. Ich galt als undankbar und böse. Und dabei war ich einfach nur verängstigt.»
Erst bei ihren letzten Pflegeeltern, wo Doris bis zu ihrer Volljährigkeit lebte, konnte sie wirklich Boden fassen. «Sie haben mich geliebt, obwohl ich selber niemanden lieben konnte. Aber was noch viel wichtiger war: Sie haben mir unendlich viel Geduld und immer wieder Verständnis entgegengebracht.»
Das allerdings weiss sie erst wirklich zu schätzen, seit sie begonnen hat, ihre Lebensgeschichte aufzuarbeiten. Noch immer bereitet es ihr Mühe, Menschen zu vertrauen und nähere Beziehungen einzugehen. «Ich fand mich selbst nie liebenswert. Noch heute unterstelle ich jedem Mitleid, der mich mag.»
Mangel an Professionalität
Ein trauriger Einzelfall? Wahrscheinlich nicht. Sicher ist, dass das Pflegekinderwesen der Schweiz heute besser ist als sein Ruf. Noch immer geistert in vielen Köpfen die diffuse Vorstellung von asozialen und schwer erziehbaren Kindern herum oder aber von der düsteren Zeit der «Verdingkinder», die als billige Arbeitskräfte verhökert und von ihren Zieheltern oft ausgebeutet und misshandelt wurden.
Zu Fehlentscheiden und Umplatzierungen kommt es aber auch heute noch. Wo die Behörden Schicksal spielen müssen, steht ein Happy End nicht von vornherein fest. Warum und wie oft Pflegeverhältnisse scheitern, ist statistisch und wissenschaftlich nicht erhoben.
«Dem Schweizer Pflegekinderwesen mangelt es an Professionalität sowie an einheitlicher und überregionaler Koordination», stellt Peter Grossniklaus, Leiter der Fachstelle Pflegekinder-Aktion Schweiz, immer wieder fest. Gegenüber dem Heimwesen, das gut subventioniert und mit lauter Fachpersonen besetzt sei, werde das Pflegekinderwesen nach wie vor stiefmütterlich behandelt. «Es fehlt an Unterstützung und verbindlichen Strukturen», bemängelt Grossniklaus. Angebot und Nachfrage spielen nicht zusammen: Es mangelt an freien Pflegefamilien, und es existieren keine gesamtschweizerischen Listen über tatsächlich noch freie Pflegeplätze.
Qualitätssicherung ist so kaum möglich. Jugend- und Sozialämter sind immer wieder gezwungen, Notplatzierungen vorzunehmen, ohne genügend Vorabklärungen getroffen zu haben: Stimmen Interessen und Anforderungen von Pflegekind und Pflegefamilie in den meisten Punkten überein? Müssen Geschwister mitplatziert werden? Braucht das Kind eine zusätzliche therapeutische Begleitung? Wie sieht die kurz-, wie die langfristige Perspektive aus? Kann auf eine Rückplatzierung in die Herkunftsfamilie hingearbeitet werden? Sind sowohl die Pflege- als auch die leiblichen Eltern für eine Zusammenarbeit zum Wohl des Kindes bereit?
Alles wichtige Fragen, die für das Gelingen eines Pflegeverhältnisses eine tragende Rolle spielen. Doch Fremdplatzierungen lassen sich selten von langer Hand planen, sondern verlangen Sofortmassnahmen, um Kinder aus akuten und belastenden Krisensituationen zu befreien.
Die Pflegekinder-Aktion Schweiz lebt von Spenden und will dort einspringen, wo das Netz der öffentlichen Dienste Löcher aufweist. Gegründet wurde das Hilfswerk vor 50 Jahren – aufgrund einer Beobachter-Kampagne, die die missliche Lage von Pflegekindern am Beispiel eines verhungerten Knaben an den Pranger stellte. «Wir nehmen Partei für das Pflegekind», sagt Peter Grossniklaus, «aber auch für die Pflegeeltern, die häufig eine enorme Leistung erbringen, ohne genug beraten und unterstützt zu werden.»
Pflegeeltern haben einen anspruchsvollen temporären Job: Sie übernehmen eine riesige Verantwortung mit vielen Pflichten, aber ohne Rechte. Sie sind Teil des schwierigen Konfliktfelds mit den Eckpunkten Kind, Herkunftsfamilie, Pflegefamilie und Jugendamt. Und: Sie müssen eine Eltern-Kind-Beziehung aufbauen, gleichzeitig jedoch auf Abruf trennungsbereit sein. Ein emotionales Kunststück.
Peter Grossniklaus kritisiert denn auch nicht die Pflegeeltern, sondern die amtlichen Beistände und Aufsichtspersonen. «Noch werden Pflegefamilien vor allem kontrolliert statt betreut und unterstützt.»
Unterschiede beim Pflegegeld
Auch beim Pflegegeld gibt es keine einheitliche Regelung: Es variiert je nach Kanton zwischen 600 und 1600 Franken – und Grosseltern oder andere nähere Verwandte haben gar keinen Anspruch auf Entschädigung. «Um die Kostenwahrheit ist es im Pflegekinderwesen arg bestellt», so Grossniklaus. Oft seien zudem Kostengründe ausschlaggebend dafür, dass ein Kind in einem Heim statt in einer heilpädagogischen oder «normalen» Pflegefamilie platziert wird. Eine Heimplatzierung ist aber nur für die zuständige Gemeinde die billigere Lösung. Effektiv kostet ein Heimtag zwischen 200 und 300 Franken und ist somit um einiges teurer als die Pflegevariante.
Grossniklaus befürchtet, dass auch bei Rückplatzierungen in die Herkunftsfamilie nicht immer im Sinne des Kindes entschieden wird. «Längst ist bekannt: Bindung entsteht nicht durch biologische Verwandtschaft, sondern durch gemeinsames Leben und Erleben sowie durch gegenseitigen Aufbau von Vertrauen.»
Informationen, Kurse und Weiterbildung:
Pflegekinder-Aktion Schweiz
Telefon 044 205 50 40
info@pflegekinder.ch