«Es braucht eine Enttabuisierung»
In der Schweiz ist Selbsttötung eine der häufigsten Todesursachen von Jugendlichen. Oftmals werden die Alarmsignale nicht erkannt.
Veröffentlicht am 25. November 2002 - 00:00 Uhr
«Wenn ich wirklich hätte sterben wollen, wäre es anders abgelaufen. Ich hätte mich vermutlich viel bewusster damit befasst», beschreibt Elisabeth* die dunkelste Zeit
in ihrem Leben. «Wenn ich ehrlich bin, dann würde ich es überhaupt nicht gut finden, wenn ich jetzt tot wäre, und kein Mensch wüsste warum. Deshalb denke ich, dass meine Handlung damals eher in Richtung Hilferuf oder Aufmerksamkeit erregen gegangen ist.» So wie Elisabeth denken die meisten jungen Menschen mit Suizidabsichten:
Sie wollen eigentlich nicht sterben, sehen aber in ihrer Situation keinen anderen Ausweg. «Zuerst die Probleme in der Familie, dann die Probleme in der Schule und dann noch das Problem mit dem Freund», schildert Elisabeth ihre Verzweiflung vor dem Selbsttötungsversuch. Sie habe sich gefühlt, als sei ihr der Boden unter den Füssen weggezogen worden: «Ich ging nach Hause und fiel in ein tiefes Loch.»
Laut Todesursachenstatistik nahmen sich 1999 in der Schweiz 1296 Menschen das Leben – 106 waren zwischen 15 und 24 Jahre alt. In einer repräsentativen Umfrage gaben vier Prozent der 15- bis 19-Jährigen an, einen Suizidversuch unternommen zu haben, 20 Prozent der Mädchen und über zehn Prozent der Jungen hatten konkrete Pläne, und jeder Vierte hatte schon Suizidgedanken.
Die Gründe für suizidales Verhalten sind vielschichtig. Der Zürcher Kinder- und Jugendpsychiater Matthias Wartmann zählt mehrere Faktoren auf: Streit mit den Eltern, Verlust eines Elternteils, körperliche und sexuelle Misshandlung, Streit mit Freunden, Liebeskummer, Mobbing, Depressionen, psychotische Störungen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch. Selbsttötungen in der Familie, ungenügende Bewältigungsstrategien und Isolation können ebenfalls den Wunsch aufkommen lassen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Manchmal werden auch Suizide anderer Personen nachgeahmt.
Für eine Gefährdung müssen in der Regel mehrere dieser Risikofaktoren zusammenfallen. Auch haben Suizidversuche und Selbsttötungen meist eine längere Vorgeschichte. «Gefährdete Jugendliche erleben eher wenig Unterstützung und Anerkennung durch die Eltern, sie fühlen sich zurückgewiesen», sagt Hans-Christoph Steinhausen, ärztlicher Direktor beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich. «Zudem sind sie nur bedingt befähigt, mit Kränkungen und Zurückweisungen umzugehen.»
Suizidgefährdeten Jugendlichen fällt es oft schwer, über ihre Probleme zu reden. «Mein Umfeld hat von meiner ganzen Krise nichts mitbekommen», sagt Elisabeth. «Ich habe es wohl meiner Freundin gesagt, und sie hat mir ihre eigenen suizidalen Gedanken mitgeteilt, aber das Ganze ist unter uns beiden geblieben.»
Entscheidend ist oft die familiäre Situation: Wenn die Eltern nicht offen über Sorgen und Probleme sprechen, tun es auch die Kinder nicht – erst recht nicht in einer Krisensituation.
In Elisabeths Familie hatten auch die Grossmutter und eine Tante Suizidversuche unternommen. Doch darüber wurde nie gesprochen. «Die meisten Familien sind schockiert. Sie verschliessen sich und gehen über den Suizidversuch hinweg», sagt Hans-Christoph Steinhausen. Das Verdrängen sei jedoch der falsche Weg. «Wir müssen lernen, über Suizid zu sprechen. Es braucht eine Enttabuisierung.» Die Vorbeugung von Jugendsuiziden setzt in erster Linie bei den Erwachsenen an: Sie müssen die Anzeichen einer Krise frühzeitig erkennen und ernst nehmen. Dabei ist besonders auch auf nichtsprachliche Signale zu achten:
- Konzentrations- und Lernschwierigkeiten sowie Zerstreutheit
- häufiges Schuleschwänzen und Davonlaufen von zu Hause
- Schlaflosigkeit oder auch übermässig viel Schlaf
- abrupte Stimmungsschwankungen
- Minderwertigkeitsgefühle und Selbstanklagen
- Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten
- Rückzug von der Familie und vom Freundeskreis
- selbstzerstörerisches Verhalten
- Verschenken von Gegenständen, die dem Jugendlichen etwas bedeuten.
«Es ist wichtig, auf den Jugendlichen einzugehen, seine Äusserungen auf keinen Fall zu bagatellisieren, sondern ernst zu nehmen und wiederholt das Gespräch zu suchen», rät Hans-Christoph Steinhausen. Man solle auch nicht zögern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. «Es ist kein Versagen, das zu tun, sondern ein Zeichen von Stärke und Verantwortungsgefühl.»
Nach ihrem Selbsttötungsversuch erfuhr Elisabeth erstmals die positive Wirkung eines offenen Gesprächs. «Meine Tante kam zu mir ins Spital und sagte, dass auch sie damals keinen Ausweg gesehen habe. Sie bereue ihren Suizidversuch nicht, aber eine solche Handlung wäre für sie heute keine Lösung mehr. Dieses Gespräch hat mir sehr gut getan.»
* Die Lebensgeschichte von Elisabeth ist der Diplomarbeit «Jugendsuizidalität» von Markus Signer entnommen (Edition Soziothek, Bern).
Hier gibts Hilfe
- Jugendberatungsstellen, schulpsychologische Dienste, regionale und kantonale kinder- und jugendpsychiatrische Dienste. Der Hausarzt oder ein Seelsorger ist (nebst Angehörigen und Freunden) eine weitere gute Ansprechperson in einer Krise.
- Telefon 147 bietet Kindern und Jugendlichen Beratung bei verschiedensten Fragen: www.147.ch
- Die Dargebotene Hand nimmt über Telefon und Internet die Rolle eines einfühlsamen und unvoreingenommenen Gesprächspartners ein: Telefon 143; www.143.ch
- Tschau.ch ist eine Internetplattform für Jugendliche und bietet eine grosse Palette an Informationen zu vielen wichtigen Themen: www.tschau.ch
- Feelok.ch vermittelt sachliche Informationen, zeigt konkrete Hilfs- und Handlungsmöglichkeiten bei Suizidalität auf und trägt zur Enttabuisierung der Thematik bei: www.feelok.ch
- Telefonische Beratung bietet der Elternnotruf: www.elternnotruf.ch
- Internetseelsorge bietet persönliche Hilfe von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen (zum Beispiel Theologie, Psychologie): www.seelsorge.net
- Zahlen, Fakten, Literatur, Prävention und Studien: www.ipsilon.ch