Im Bannkreis der Schuld
Angehörige von Gewaltverbrechern sind doppelt belastet: Zum Schock kommt die Ablehnung durch die Öffentlichkeit. Hilfe erhalten sie kaum.
Veröffentlicht am 20. Juli 2004 - 11:30 Uhr
Lenk, 14. Juli. Ein Vater tötet seine Familie und danach sich selbst. Zürich, 5. Juli: Ein Berater der Zürcher Kantonalbank erschiesst zwei Vorgesetzte; hinterher richtet er sich selbst. Die Anteilnahme der Bevölkerung ist gross. Die Medien schildern das Entsetzen der Hinterbliebenen. Wie konnte das passieren? Wie gehen die Familien der Opfer mit der Katastrophe um? Werden sie betreut? Presse und Fernsehen zeigen Bilder von Kranzschlaufen und Blumen. Vom Leid der Angehörigen des Täters spricht kaum jemand.
«Der Kreis der Angehörigen wird von der Öffentlichkeit schnell in die Schuld miteinbezogen», sagt Lutz-Peter Hiersemenzel, Gerichtspsychiater in Zürich. «Insgeheim schwingt auch die Frage mit, ob die Tat durch ein aufmerksames Umfeld nicht hätte verhindert werden können.»
Die Bank, in der der Zürcher Amoklauf stattfand, verhielt sich vorbildlich. Die Familie des ZKB-Schützen bedankte sich in ihrer Todesanzeige ausdrücklich für die Betreuung, die die Bank organisiert hatte.
Eine solche fehlte der Mutter von Frank (Name geändert). Der Jugendliche war in der Nordostschweiz an einem Gewaltverbrechen beteiligt. «Manchmal kam es mir vor, als herrsche bei uns noch Sippenhaftung», sagt die Mutter. «Wie es uns Angehörigen geht, interessiert niemanden.» Der Gesprächsversuch mit den Eltern des Opfers scheiterte. Zwei Jahre später erklärte die Mutter des Täters in einem Brief, dass sie sich noch immer grosse Vorwürfe mache. Eine Antwort erhielt sie nie. Dem Dorfpfarrer schrieb sie, dass sie ein Zeichen der Kirche sehr geschätzt hätte. Der Geistliche beteuerte telefonisch: «Wären Sie mir in der Migros begegnet, hätte ich Sie bestimmt angesprochen.»
«Demütigendes Verhalten» ertragen
Franks Familie erhielt anonyme Anrufe. Die Mutter erlitt mehrere Zusammenbrüche; dass ihre Ehe trotz allem hielt, bezeichnet sie als «Wunder». Die Einkäufe besorgt sie noch heute im Nachbardorf.
Der Psychologe Peter Fässler widmet sich vorwiegend traumatisierten Menschen – ob sie nun Opfer oder Angehörige von Tätern sind. «Angehörige sind auf solche Taten nie vorbereitet. Sie leiden unter einer Doppelbelastung: Hier ist das Unverständnis angesichts der Tat – und dort das oft demütigende Verhalten der Umgebung.»
Zwar kümmert sich der Bewährungsdienst einer Strafanstalt bei Gewalttätern auch um die Angehörigen eines Täters. «In der Regel beginnt dies aber erst Monate nach der Tat. Die qualifizierte Intervention kurz nach dem traumatisierenden Ereignis kann entscheidende Weichen stellen», sagt Fässler. «Es geht nicht ums Trösten – sondern um eine offene Auseinandersetzung mit der vorerst unfassbaren Wirklichkeit. Es gibt nichts anderes, als das Unfassbare verstehen zu lernen – und die letzten Wochen vor der Tat peinlich genau zu rekonstruieren. Das braucht viel Zeit und vor allem Mut.»
Das Opferhilfegesetz, das durch eine Beobachter-Initiative zustande kam, konzentriert sich auf schwer betroffene Opfer von Straftaten und deren Angehörige. Diese haben unter anderem Anspruch auf unentgeltliche psychologische Hilfe. Angehörige des Täters fallen nicht darunter.
Elsbeth Aeschlimann, Opferhilfe-Beratungsstelle Zürich: «Wir wissen sehr wohl um die tragische Situation eines Täterumfelds. Unser Auftrag besteht jedoch ausschliesslich gegenüber der Opferseite.»
Das Opferhilfegesetz befindet sich zurzeit in Revision: Selbst hier sind sparbedingte Abstriche zu erwarten. Darüber hinaus können Täterangehörige auch in Zukunft nicht damit rechnen, möglichst schnell eine Betreuung zu erhalten.