Der Getriebene
Ivar Niederberger leidet am Tourette-Syndrom, kann schlecht lesen und schreiben. Das hat ihn nicht daran gehindert, mehrfacher Millionär zu werden. Was ist sein Geheimnis?
Veröffentlicht am 9. April 2010 - 16:29 Uhr
Jetzt bloss nicht nachdenken. Tun. Den Stift raus, den neuen Skizzenblock und los. Einfach tun, nicht nachdenken. Die Hand zuckt, der Arm, der ganze Körper. Das macht es schwer, gerade Linien zu zeichnen. Doch wenn er sich konzentriert, geht es. Ivar Niederberger sitzt im Flugzeug von Paris nach Basel. Er hat sich etwas in den Kopf gesetzt, eine neue Idee, eine neue Aufgabe. Und er kann nicht warten, bis er zu Hause ist. Das hätte ihn nur blockiert. Er muss es tun. Jetzt. Ivar Niederberger, Legastheniker und seit seiner Kindheit am Tourette-Syndrom erkrankt, entwirft im Flugzeug seine erste Bluse. Er weiss, wie eine Bluse aussieht, hat aber noch nie eine gezeichnet. Sein fertiges Modell gefällt ihm gut, nein, er ist von ihm überzeugt. Das ist wichtig. Überzeugung, Mut, Fleiss. Diese drei bringen ihn seinem Lebensziel näher. Der Entwurf im Flugzeug macht Ivar Niederberger zum Millionär. Schon als kleiner Junge hatte er sich vorgenommen, einmal viel Geld zu verdienen. Trotz Rechtschreib- und Leseschwäche, trotz Tourette-Syndrom. Er wurde belächelt, aber das kümmerte ihn nicht. Er gibt bis heute nicht viel auf die Meinung anderer. Täte er das, wäre er nicht Millionär.
Er hätte sich nicht hochgearbeitet, hätte nicht unzählige Jobs angefangen und wieder aufgegeben, weil er mehr wollte. Er wäre nicht Geschäftsführer der Niederberger Betriebs GmbH, hätte nicht 150 Mitarbeiter, die in seinen 23 Kleidi-Läden in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden Mode für Frauen ab 40 verkaufen. Er wäre kein Immobilienhändler geworden, besässe keine 500 Quadratmeter grosse Wohnung, keine sechs Autos, keine Pferde und keine Visitenkarte, auf die er gleich drei verschiedene Berufsbezeichnungen hat drucken lassen. Hätte er auf andere gehört, wäre er heute vielleicht Automechaniker.
Zwölf Jahre nach dem Flug von Paris nach Basel fährt Niederberger in einem silbernen Bentley durch die Stadt. Seine Stadt: Basel. Hier fühlt er sich wohl, hier hat er sich ein Netz gesponnen, hier wird er auf der Strasse erkannt, nur hier möchte er leben. Der 39-Jährige ist leger gekleidet, trägt eine Khakihose und ein blau-weiss kariertes Lacoste-Hemd. Er ist ein Markenfreak, der gern zeigt, was er hat. An beiden Handgelenken blitzt eine Rolex, auch die ausgetretenen Lederschuhe mit den unübersehbaren goldenen Initialen von Louis Vuitton geben einen Hinweis auf sein Vermögen.
Aber er wirkt tapsig. Dem Körper fehlt die selbstbewusste Spannung, dem Gesicht fehlen die souveränen Züge, die man von einem Millionär erwarten würde. Während er redet, gibt er Laute von sich, die wie ein unterdrückter Schluckauf klingen, dann wie das kurze Jaulen eines Hundes oder wie ein Aufstöhnen nach einem Schlag in den Magen. Kaum ein Satz, der nicht durch ein solches Geräusch unterbrochen wird. Diejenigen, die ihn kennen, wissen darum und auch, dass er immer wieder unkontrolliert zuckt. Mal ist es nur eine Bewegung mit dem Kopf, mal ist es der ganze Körper, der plötzlich aus dem Stuhl hochschreckt und Sekundenbruchteile später wieder zurücksinkt. Manche Leute schauen verlegen zur Seite, andere tun unbeteiligt.
Niederberger ist den ganzen Tag unterwegs. Mit der Damenbluse, die er damals im Flugzeug zeichnete, gelang ihm der Durchbruch. Inzwischen läuft das Kleidergeschäft fast von allein. Er hat Angestellte, die sich um alles kümmern. Er selbst kontrolliert nur noch und entscheidet, wann die Sommermode reduziert werden soll, wann die Herbstkollektion geliefert werden soll und wie sie auszusehen hat. Manchmal zeichnet er noch Entwürfe, die seine Lebensgefährtin Petra Woiton, eine gelernte Modedesignerin, dann ausarbeitet. Aber die meiste Zeit verkauft Niederberger nicht mehr Kleider, sondern Immobilien. An diesem Morgen trifft er einen Profi-Fussballer, der ein Haus möchte. Danach einen Kunden, der ein Ladengeschäft verkaufen will. Am Mittag hat er ein Geschäftsessen in der Stadt, im Anschluss daran ein Beratungsgespräch, am frühen Abend eine Vertragsunterzeichnung. Ein Termin jagt den nächsten, sein Handy bleibt selten ruhig.
Das Telefon ist sein Kommunikationsmittel. Für einen Computer ist er zu ungeduldig. «Ich tippe nach dem RAF-Prinzip», sagt er. «Jede Stunde ein Anschlag.» Beim Telefonieren zuckt sein Kopf immer wieder zur Seite, als beisse ihn das Handy ins Ohr.
Er muss noch einen weiteren Termin unterbringen. Das nächste Café, der fünfte Espresso, das dritte Wasser. Niederberger bekommt einen Vertrag zugeschoben. Er faltet das Papier auseinander, wirft einen Blick darauf, blättert die drei Seiten durch, legt sie zurück in den Umschlag. Er macht einen professionellen Eindruck. In diesem Moment weiss nur er: Lesen würde viel zu lange dauern, das muss jemand anders für ihn erledigen. «Ich kann lesen und schreiben, aber nur sehr schwach», sagt er. Als er einmal die Worte «Dienstag» und «liefern» in sein Notizbuch kritzelt, schreibt er beides ohne e.
Zwischen den Terminen schaut er noch in einem Kleidi-Laden in der Innenstadt nach dem Rechten. Die Verkäuferin, eine grauhaarige Mittfünfzigerin, trägt die Sachen, die es im Laden zu kaufen gibt. Sie ist gelernte Schneiderin und liebt die weit geschnittenen Blusen und Hosen. Das begeistert Niederberger. Sie ist eine seiner besten Verkäuferinnen. «Mir gefallen die Kleider an den Frauen», sagt er über seine eigene Mode. Ihm ist egal, dass es keine sexy Klamotten für junge Frauen sind. Schnell geht er durch die engen Reihen und sortiert die Kleider nach Farben. Unordnung macht ihn nervös. Nach zehn Minuten ist er zufrieden und verabschiedet sich wieder.
Trotz den vielen Terminen ist Niederberger freundlich und locker, macht Witze, unterhält sich auf der Strasse mit Leuten, die er zufällig trifft. Dann spricht er mit lauter, selbstbewusster Stimme, häufig benutzt er plakative Formeln, die er sich zurechtgelegt hat. Sätze wie: «Nach dem Geschäft ist vor dem Geschäft.» Oder: «Erfolg kommt vom Tun, nicht vom Lassen.» Je wichtiger das Gespräch, desto konzentrierter ist er. Über seine Handicaps spricht er ungern, er hat sie eben. «Es hat meinen Charakter geprägt», sagt Niederberger, «und mich stark gemacht.»
Als er sechs Jahre alt war, bemerkte Niederberger, dass er manchmal Geräusche von sich gab, von denen er nicht wusste, woher sie kamen, und dass sein Körper immerzu unkontrollierbar zuckte. Seine Mutter ging mit ihm zum Arzt. Der sagte, dass sich die Zuckungen mit der Pubertät wieder legen würden. Zwar wurde das Tourette-Syndrom bereits 1885 von Georges Gilles de la Tourette entdeckt. Aber im Jahr 1975, als Niederberger beim Arzt war, war diese neuropsychiatrische Erkrankung noch weitgehend unbekannt. Entsprechend ungenau waren die damaligen Diagnosen.
Auch in der Pubertät verschwanden Niederbergers Tics nicht. Doch er litt nicht an den typischen Folgen der Krankheit. Weder war er depressiv, noch versteckte er sich. Wenn Mitschüler ihn aufzogen, verteidigte er sich. «Die haben schnell gemerkt, dass sie mich nicht ärgern können.» Seine Strategie: die anderen lächerlich machen. So wurde er selbstbewusst. Er hatte viele Freunde. Hemmungen, auf Leute zuzugehen, kannte er nicht. Das ist bis heute so.
Als Niederberger zehn war, machten sich seine Eltern grosse Sorgen. In der Schule war ihr Sohn schlecht. Lern- und Konzentrationsstörungen können ebenfalls eine Folge des Tourette-Syndroms sein. Doch es kam schlimmer: Ivar war Legastheniker und wurde auf eine Sonderschule geschickt. «Die unterste Liga», sagt er heute. «Die Schule hat mich angekackt, ich habe mich für nichts interessiert.»
Schon früh kreisten seine Gedanken darum, womit er Geld verdienen könne. Die ersten Geschäfte machte er gemeinsam mit seinem Vater, einem Gemüsehändler. In dessen Garten hatte der Sohn ein eigenes Beet und verkaufte seinen Salat. Dann schrubbte er mit einem Freund Grabsteine. Damit sie mit der Arbeit schneller fertig wurden, benutzten sie Bleichmittel. Sie erledigten in zehn Minuten, was sonst einen halben Tag gedauert hätte, und kassierten nach zwei Steinen schon den Tagessatz.
Neun Jahre ging Niederberger widerwillig zur Schule. Danach begann er eine Lehre als Karosseriebauer, das mochte er, doch er fiel durch die Prüfung. Das Lernen fiel ihm unglaublich schwer. «Ich musste lernen, vom Leben zu lernen», sagt er. Nach der Lehre schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch: als Chauffeur, als Reifenmonteur, als Dachdecker, als Laden- und Bühnenbauer. «Alle zwei Monate habe ich etwas Neues ausprobiert.» Niederberger war rastlos. Er war auf der Suche nach seiner Leidenschaft, nach etwas, das er konnte, das ihn auszeichnete.
In einem Verlag bekam er einen Job als Anzeigenverkäufer und merkte: Verkaufen könnte seine Berufung sein. Er wusste, was die Kunden hören wollten, und er hatte immer das richtige Argument parat. In einem Team von zehn Leuten machte er fast die Hälfte des Umsatzes. Schliesslich warb ihn ein anderer Verlag ab und bot ihm an, auf eigene Rechnung zu arbeiten und Provisionen zu kassieren. Niederberger nutzte die Chance und machte sich selbständig. Endlich konnte er so viel arbeiten, wie er wollte. Neben den Anzeigen verkaufte er bald auch Rechtsschutzversicherungen. Die Arbeit befriedigte ihn und gab ihm das Gefühl, dass er es zu etwas bringen konnte. Im Alter von 20 belohnte er sich für seine Leistungen mit einem Mercedes 500.
Bürokratie ist für Niederberger ein Alptraum. Verträge schliesst er per Handschlag. Die Leute vertrauen ihm, er vertraut den Leuten – nach dem Geschäft ist vor dem Geschäft. Sorgfältig suchte er die richtigen Partner. Das ging nicht immer gut. «Jedes zehnte Geschäft muss in die Hose gehen», sagt er. «Wenn das nicht so wäre, macht man etwas falsch.» Es kam vor, dass Leute ihn nicht ernst nahmen, weil er noch jung war oder weil sein Körper zuckte. Doch das weckte nur seinen Ehrgeiz.
Die Zeit nach der Schule, die abgebrochene Ausbildung, die vielen Jobs, die Rückschläge haben aus ihm den Geschäftsmann gemacht, der er heute ist. Seine Krankheit belastet ihn, aber er kennt es nicht anders. Er muss damit leben. «Ich habe Dreck gefressen», sagt er. «Und ich fand es geil. So habe ich meine Firma aufgebaut.»
Niederberger glaubt nicht an Zufälle. Er glaubt an harte Arbeit. Es ist eine Mischung aus beidem, die es ihm schliesslich ermöglichte, sein eigenes Unternehmen aufzubauen. Eines Tages fragte ihn sein ehemaliger Chef, bei dem er die Anzeigen verkauft hatte, ob er sich vorstellen könne, in einem Restpostenlager Textilien zu verkaufen. Er mache ihn zum Filialleiter, er allein wäre für den Laden verantwortlich. Niederberger wollte. «Handel, das hat mir einen Kick gegeben. Ich hatte Top-Umsätze», sagt er.
Doch sein Chef forderte mehr, behauptete, dass andere Filialen höhere Umsätze machten, verdächtigte Niederberger gar, die Zahlen zu fälschen und Geld zu veruntreuen. Das war zu viel. Niederberger schmiss den Job. Sofort. Einen solchen Vorwurf wollte er sich nicht bieten lassen. «Ich habe einen absolut seriösen Namen. Der ist für die Leute wie eine Bankgarantie. Das habe ich mir in 20 Jahren aufgebaut», sagt er heute.
Da es ihm gefallen hatte, Kleidung zu verkaufen, machte er auf eigene Faust weiter: Er mietete ein kleines Lokal und eröffnete seine eigene Reste-Rampe. In derselben Strasse, in der auch der Laden seines alten Chefs war. Wenn man ihn beleidigt, schlägt er zurück. So wie in der Schule.
Als Erstes bestellte Niederberger Restposten von Damenbekleidung. Denn Frauen kaufen bekanntlich mehr Kleider als Männer. Ein Handicap wurde ungewollt zu einem Vorteil: Er war Anfänger und kannte die Einkaufspreise für überschüssige Ware nicht. Deshalb bezahlte er viel zu viel. Seine Marge war gering, dafür sprach sich schnell herum, dass mit dem jungen Mann aus Basel gute Geschäfte zu machen waren. Bevor wieder ein Posten abgegeben wurde, riefen die Verkäufer bei Niederberger an, um ihm Hosen und Blusen anzubieten. So kam er an die beste Ware – und konnte sie entsprechend teuer verkaufen. Sein Laden florierte. Er nannte ihn Kleidi.
Eines Tages brauchte Niederberger Ware für den Sommer. Da keiner seiner Lieferanten etwas auf Lager hatte, hätte er warten müssen. Doch Warten gehört nicht zu seinen Stärken. «Wenn ich zusammen mit meiner Lebensgefährtin eine Verabredung habe und sie ist nicht rechtzeitig fertig, weil sie sich noch hübsch machen muss, bin ich imstande, ohne sie loszufahren», sagt er. Innere Unruhe und notorische Pünktlichkeit sind Begleiterscheinungen des Tourette-Syndroms.
Da er auf die Sommerware ebenso wenig warten wollte wie auf seine Freundin, erkundigte er sich, wo er Mode bekommen könne, und flog nach Paris. Es war seine innere Unruhe, die ihn dazu zwang. Er sprach kein Wort Französisch, doch er fand einen Hersteller, bei dem eine junge Französin mit ihm auf Deutsch verhandeln konnte. Das Problem: Die Firma verkaufte ausschliesslich Damenblusen in XXL und in nur einem einzigen Schnitt. Niederberger entschied kurz entschlossen, es zu versuchen. Das Risiko war gering, denn in Paris bemerkte er, dass er die ganze Zeit für seine Restposten den gleichen Preis bezahlt hatte wie die Händler für Neuware. Statt sich über seine Naivität zu ärgern, freute er sich über seine Entdeckung. Denn in diesem Moment wusste er, dass er nie wieder Ladenhüter verkaufen würde, sondern Neuware. Blusen in XXL.
Zurück in Basel, hängte er sein neues Modell ins Schaufenster. Zu seinem Erstaunen rannten ihm die Kundinnen den Laden ein. Schon bald musste er nachbestellen. Er wollte auch andere Schnitte und passende Hosen. Doch seine Partner hatten keine anderen Modelle. Wenn er aber Skizzen liefere, dann könne man alles schneidern lassen, sagte ihm seine Ansprechpartnerin. Noch bevor er ins Flugzeug stieg, kaufte sich Niederberger einen Skizzenblock. Und damit begann die eigentliche Unternehmensgeschichte.
Inzwischen hat er sein Ziel erreicht. Er ist Millionär. Innerhalb weniger Jahre hat er 20 Läden in der Schweiz eröffnet. Auch in Deutschland gibt es zwei Kleidis, einen in Amsterdam. Es sind Franchisenehmer, die auf eigene Verantwortung, aber unter Niederbergers Label arbeiten und ausschliesslich seine Ware verkaufen. «Der deutsche Markt ist schwer», hat er inzwischen festgestellt. «Die Mehrwertsteuer ist viel zu hoch, und es gibt zu viel Bürokratie.»
So wie er seine eigene Kleidermarke entwickelt hat, so wie er früher alle zwei Monate den Job gewechselt hat, so arbeitet Niederberger auch heute noch. Er folgt seinen Instinkten und geht Impulsen nach. Wenn jemand auf ihn zukommt und ihm ein Geschäft vorschlägt, entscheidet er meist schnell und direkt. Auf diese Weise schlitterte er auch ins Immobiliengeschäft. Als er ein Lager suchte, erwarb er für 2,15 Millionen Franken ein geeignetes Objekt. Eine Million Franken hatte er, den Rest lieh er sich von der Bank. Die liess den Wert des Gebäudes von einem unabhängigen Gutachter schätzen und bestimmte den Wert mit rund sieben Millionen Franken.
Daraufhin fragte die Bank Niederberger, ob er sich vorstellen könne, künftig auch Immobilien zu verkaufen, er habe dafür ja anscheinend ein Händchen. Er sagte Ja, und heute weiss er nie genau, wie viele Häuser er gerade zum Verkauf anbietet, meist laufen mehrere Geschäfte parallel. 1,5 Prozent fallen bei jedem Verkauf für ihn ab. In den vier Jahren, die er nun in dieser Branche ist, habe er Objekte im Wert von rund 300 Millionen Franken verkauft. Macht einen Gewinn von 4,5 Millionen.
Niederbergers Leben bestand immer nur aus Arbeit. Das ist mit wenigen Ausnahmen auch heute noch so, trotz den Millionen auf dem Konto. «Ich arbeite nicht mehr des Geldes wegen, es geht ums Spiel.» Er fährt nie in Urlaub, selten, dass er mal zu Hause auf dem Sofa sitzt, ohne nachzudenken, was als Nächstes zu tun wäre. Stress kennt er nicht. «Ich stresse andere», sagt er. Sonntage hat er früher gehasst, weil dann ausser ihm niemand arbeitete.
Darum hat er sich für das Wochenende eine Beschäftigung gesucht: Seit vier Jahren fährt er Trabrennen. Seine Lebensgefährtin hat seine Leidenschaft für Pferde geweckt. Im gemeinsamen Wohnzimmer hängen Bilder von Niederberger auf einem Sulky. Petra Woiton, eine sportliche Frohnatur, hat er bei der Arbeit kennengelernt. Sie bewohnen das Dachgeschoss seiner Lagerhalle. Draussen eine riesige Terrasse mit Swimmingpool und Blick auf die hinter dem Industriegebiet aufragenden Hügel, drinnen ein mit Kuhfell überzogenes Sofa, eine offene Küche, viel Licht und jede Menge Platz. Nur heiraten will er nicht. Das hat ihm schon einmal kein Glück gebracht. Vier Monate lang hielt seine erste Ehe.
Auch Kinder will Niederberger nicht. Er hat Angst, dass das Tourette-Syndrom sich vererben könnte. Und wenn sein Kind die Behinderung ebenfalls hätte, könnte er es nicht mit ihm aushalten. Er kann nicht mit Menschen zusammen sein, die unter dem Syndrom leiden. Es überkommt ihn dann eine schlimme Nervosität, und die Zuckungen werden stärker als sonst.
Dass es Leute gibt, die nicht mit seinem Tic umgehen können, dafür hat Niederberger Verständnis. Er ist froh, dass das Tourette-Syndrom bei ihm nicht so stark ausgeprägt ist. Er muss nicht schreien, und wenn er sich die gleichen Sätze im Kopf immer wieder vorbetet, kann er die Zuckungen eine Zeitlang sogar kontrollieren.
Niederberger eilt der Ruf voraus, dass das, was er anpackt, auch funktionieren wird. Sein neustes Projekt: Outdoor-Kleidung. Zwei junge Gründer, Mitte 20, haben ihn um Unterstützung gebeten. Er gibt die Hälfte des Geldes und bringt seine Ideen ein, die anderen arbeiten. Aktuell sind seine Partner in China und Vietnam, um geeignete Produktionsstätten zu suchen.
Niederberger ist streng. Wenn sie anrufen und nörgeln, kann er sehr barsch werden. Er verlangt von seinen Mitarbeitern dasselbe, was er sich selbst abverlangt. «Ich bin nicht lieb, aber die Jungs merken, dass ich es gut mit ihnen meine», sagt er. Die Sorge, dass das Projekt scheitern könnte, treibt ihn nicht um. «Das ist doch eine schöne Herausforderung.» Er denkt auch nicht darüber nach, ob er viel Geld verpulvert, er wisse nicht mal, wie reich er sei. Eines aber weiss er: «Selbst wenn ich alles verlieren würde, ich hätte schnell wieder neues Geld.» Denn irgendein Projekt gibt es immer. Gerade ist ein Buch erschienen, in dem er seine Geschichte erzählt. Darauf ist der Legastheniker stolz. Er hat es selbst geschrieben. Mehr als drei Jahre hat er gebraucht, seine Sekretärin tippte es ab. Den Titel kannte er von Anfang an: «Tun – Glück schreibt man mit drei Buchstaben».
19 Kommentare