«Die sollen mich endlich selber machen lassen»
Seit 30 Jahren geht eine Frau am Gängelband der Vormundschaftsbehörde Oberengadin. Zu Unrecht, wie der Beobachter bereits früher festgestellt hat. Doch die Verantwortlichen wollen weiterhin nichts davon wissen.
Veröffentlicht am 24. Juni 2002 - 00:00 Uhr
Der Morgen ist ruhig auf dem Campingplatz Ruderbaum in Altnau TG. Die Sonne lässt den Bodensee glitzern, in der Ferne bellt ein Hund. Ursula Koch-Meng sitzt vor ihrem Wohnwagen und blickt auf den See. Sie geniesst die Stille: «Hier bin ich weit weg vom Oberengadin und von der Vormundschaftsbehörde.» Diese macht ihr seit 30 Jahren das Leben schwer. So lang zwingt ihr die Behörde vormundschaftliche Massnahmen auf – obschon grösste Zweifel angebracht sind. Inzwischen ist ihr Fall beim Kantonsgericht Graubünden hängig. Doch alles der Reihe nach.
Ursula Kochs Leidensgeschichte beginnt im Frühling 1971, als ihr erster Mann sich das Leben nimmt. Auf einen Schlag steht die Frau allein da – mit einem kleinen Jungen und einem schlecht rentierenden Bauernhof. Die Dinge wachsen ihr zunehmend über den Kopf. Sie gerät in finanzielle Schwierigkeiten und hat psychische Probleme. Die Vormundschaftsbehörde findet, dass Ursula Koch nicht mehr in der Lage sei, ihr Kind selbst aufzuziehen. Der Bub wird fremdplatziert, und sie erhält einen Beirat.
Als ihr Sohn 1983 bei einem Autounfall tödlich verunglückt, sieht Ursula Koch keinen Ausweg mehr. «Ich war so müde und wusste weder ein noch aus», erinnert sich Ursula Koch. «Ich brauchte Hilfe.» Und so wandte sie sich an die Vormundschaftsbehörde und beantragte, man möge ihr helfen, bis sie ihre finanzielle Situation wieder im Griff habe.
Das ist laut Gesetz durchaus möglich. Allerdings müssen die Behörden genau abklären, ob eine vormundschaftliche Massnahme tatsächlich gerechtfertigt ist. Doch die Vormundschaftsbehörde Oberengadin stellte Ursula Koch ohne weitere Abklärungen kurzerhand unter Vormundschaft – die schwerste der möglichen Massnahmen. «Hätte ich damals gewusst, worauf ich mich einlasse, hätte ich mich nie und nimmer an die Behörde gewandt», sagt Ursula Koch. Zu spät, die Falle war zugeschnappt.
Fortan waren Ursula Koch die Hände gebunden. «Sie wurde immer wieder als völlig rechtloses Individuum behandelt», sagt ihr heutiger Beirat Andrin Perl aus Chur. «Statt der Frau zu helfen, hat man bloss rigorose und oft rechtsverletzende Vorschriften erlassen.» So liess der Vormund zum Beispiel sämtliche Post von Ursula Koch und ihrem zweiten Ehemann zu sich nach Hause umleiten. Mehr noch: Der Vormund öffnete alle Briefe – sogar die persönlichsten – und händigte Ursula Koch jeweils nur eine Kopie aus. Wenn er in den Ferien weilte, gab es einfach keine Post. Ursula Koch erinnert sich gut: «Oft erhielt ich Einladungen zwei Wochen, nachdem der Anlass stattgefunden hatte.»
Wie stark man sich in der Amtsstube in Samedan auf Ursula Koch eingeschossen hatte, zeigt die Korrespondenz aus den achtziger Jahren. Da ist etwa von der «unkorrekten, hinterlistigen Art» von Ursula Koch die Rede. Und am Telefon musste sich Koch von Präsident Burkhalter gar als «huere Lueder» beschimpfen lassen. Andere Mitglieder der Vormundschaftsbehörde beschuldigten sie offen, für den Tod ihres ersten Mannes und ihres Sohnes verantwortlich zu sein. Burkhalter bestreitet das alles: «Ich bin gegenüber Frau Koch absolut nicht voreingenommen.»
Doch die Akten zeigen: Ursula Koch ist für die Behörden ein rotes Tuch. Weshalb? «Man gönnt ihr das Erbe nicht», sagt ein Oberengadiner, der nicht mit Namen genannt werden möchte. «Wer hier oben einmal den Stempel des Aussenseiters auf sich hat, hat ihn für immer.» Tatsächlich hat Ursula Koch beim Tod ihres ersten Mannes und ihres Sohnes ein beträchtliches Vermögen geerbt. So ist sie beispielsweise Eigentümerin von rund 33'000 Quadratmetern Land am Dorfrand von Celerina. Geschätzter Wert: vier Millionen Franken. Bereits im Februar 1986 hielt die Gemeinde Celerina in einem Brief an die Vormundschaftsbehörde fest: «Diese Landparzellen stellen einen erheblichen Wert dar. Sie wären geeignet, die Eheleute Koch als vermögend zu bezeichnen.»
Finanziell kurz gehalten
Doch die Vormundschaftsbehörde tut, als wäre das nichts wert. «Ursula Koch verfügt einzig über Wiesland, das gegenwärtig ausserhalb der Bauzone liegt», sagt Vormundschaftspräsident Burkhalter. Merkwürdig nur, dass eine Firma bereits vor sieben Jahren 3,5 Millionen Franken für das Land bot. Die Vormundschaftsbehörde lehnte das Angebot jedoch ab. Stattdessen hielt sie Kochs über all die Jahre finanziell an der kurzen Leine. 1993 etwa durfte das eigentlich wohlhabende Ehepaar im Monat 3270 Franken brauchen. Und noch dazu bemerkte der Vormund in einem Schreiben: «Nach meinem Dafürhalten ist dieser Betrag entschieden zu hoch.»
Gleichzeitig sah die Behörde ihre Aufgabe darin, das Vermögen zu vermehren. Nur: Das ist eine klare Fehlinterpretation des Gesetzes. «Es ist nicht die Aufgabe eines Vormundes, das Vermögen seines Mündels zu vermehren», betont Walter Noser, Vormundschaftsberater beim Beobachter. «Frau Koch darf also einen ihren finanziellen Möglichkeiten entsprechenden Lebensstandard führen.»
Doch die Behörde wirft ihr lieber Misswirtschaft und Verschwendungssucht vor. «Geld fliesst ihr wie Sand aus der Hand. In diesem Sinn kann von einer Selbst- und Fremdgefährdung gesprochen werden», steht in einem Protokoll der Vormundschaftsbehörde. Anderswo führt der Vormund aus, dass Ursula Koch auf den Ruin zusteuere. Als Beweis zählt er eine Handvoll ausstehender Rechnungen über wenige hundert Franken auf – Rechnungen, die bald darauf bezahlt wurden.
«Es stimmt, dass Frau Koch in den achtziger Jahren finanzielle Probleme hatte. Aber inzwischen hat sich ihre Situation stabilisiert, und ihr Ehemann sorgt gut für sie», sagt der heutige Beirat Andrin Perl. Ehemann Not Koch hat denn auch mehrfach beantragt, man möge die vormundschaftliche Massnahme aufheben. Er könne ausreichend für die finanziellen Angelegenheiten sorgen. Doch kein Durchkommen auch für ihn. Statt – wie es das Gesetz vorschreibt – zu überprüfen, ob die Vormundschaft aufgehoben werden könne, drohte man, auch ihn zu bevormunden. Not Koch war ein unbescholtener Arbeiter bei der Bahn, es gab also keinerlei Anlass für einen solchen Schritt. Doch die Drohung wirkte: Koch schwieg – und seine Frau blieb weiter bevormundet.
Auch der Beobachter schaltete sich bisher vergebens ein: Bereits 1985 kamen die Beobachter-Experten zum Schluss, dass die Bevormundung bedenklich sei. Bestenfalls könne man über eine Beistandschaft diskutieren. Doch die Beobachter-Briefe blieben unbeantwortet. Und dies, obwohl auch ein psychiatrisches Gutachten Klartext spricht: «Unsere Abklärungen brachten keinerlei Hinweise auf das Vorliegen einer Geisteskrankheit oder eines Schwachsinns», schreibt die Gutachterin. Und: «Solang der Ehemann für sie sorgt, sind keine weiteren Massnahmen nötig.»
Gutachten vorenthalten
Die Vormundschaftsbehörde unterschlug das Gutachten kurzerhand. Erst als das Ehepaar Koch 1995 Anwalt Perl mit ihrem Anliegen betraute, kam das Papier zum Vorschein. Auf die Frage des Beobachters, warum man das Gutachten Frau Koch während Jahren vorenthalten hat, mochte Burkhalter nicht antworten. Perl brachte weitere Ungereimtheiten an den Tag und beantragte umgehend die Aufhebung der Bevormundung. Zudem forderte er, das Land endlich der Bauzone zuzuführen.
Seither sind weitere sieben Jahre ins Land gezogen. Ursula Koch, inzwischen 65, steht immer noch unter der Fuchtel der Behörde, und auf ihrem Land weiden nach wie vor nur Schafe. Zwar ist es Perl inzwischen gelungen, die Vormundschaft in die schwächere Form der kombinierten Beiratschaft umzuwandeln. «Das kann aber nur eine Zwischenlösung sein», betont er.
Doch die Vormundschaftsbehörde stellt sich weiter taub. Jetzt hat das Ehepaar Koch einen weiteren Anwalt damit beauftragt, den Fall vor Gericht zu ziehen. Ursula Koch hofft, dass ihr Leidensweg endlich ein Ende hat: «Ich will weg von dieser Behörde. Die sollen mich endlich selber machen lassen.»