Wahre Grösse lässt sich nicht messen
Kleine Menschen sind flink und werden dafür gerne übersehen, Grosse wirken vertrauenswürdig, dafür schaffen sie es kaum, sich in ein Zugabteil zu zwängen. Vier Leben jenseits der Norm.
Veröffentlicht am 4. Februar 2009 - 09:01 Uhr
Die meisten Schweizer fangen ungefähr gleich an: Sie sind bei der Geburt zwischen 48 und 53 Zentimeter lang. Dann wachsen sie in die Höhe, unterschiedlich schnell und unterschiedlich stark, bis die Frauen nach der Pubertät im Durchschnitt bei 1,672 und die Männer bei 1,805 Metern angelangt sind.
Sie sind damit weitaus grösser als ihre Vorfahren: Schweizer Rekruten um 1885 massen noch 1,63 Meter, gut 30 Jahre später immerhin schon 1,69 Meter. Die Entwicklung bei den Frauen verläuft ähnlich, nur fehlen dafür genaue historische Daten. Verbesserte Lebensbedingungen, eine ausgewogene Ernährung und Fortschritte in der medizinischen Versorgung sorgten dafür, dass jede Generation der vorhergegangenen über den Kopf wuchs.
Ein Trend, der mittlerweile jedoch gestoppt sein dürfte. «Wir werden seit gut 40 Jahren nicht mehr grösser», sagt Kinderarzt und Wachstumsspezialist Urs Eiholzer (siehe auch Nebenartikel). «Es deutet vieles darauf hin, dass wir unsere genetischen Möglichkeiten ausgeschöpft haben und die Durchschnittsgrösse trotz weiter verbesserten Lebensbedingungen nicht mehr ansteigt.»
Wie aber lebt es sich jenseits der Norm? Mit welchen Schwierigkeiten haben Menschen zu kämpfen, deren Grösse weit über oder unter dem Durchschnitt liegt? Vier Einblicke in das Leben kurzer und langer Menschen.
Nathalie Garny, 37, Rechtsberaterin, 1,84 Meter
Nathalie Garny mag Schuhe mit hohen Absätzen und würde gerne öfter welche tragen, doch sie will nicht noch mehr Verwirrung stiften. «Viele Menschen sind irritiert, wenn sie einer grossen Frau gegenüberstehen», sagt sie. «Vor allem Männer reagieren verunsichert. Viele wollen nach ihrem Rollenverständnis der Beschützer einer Frau sein und wissen nicht, wie sie diese Rolle bei einer Frau spielen sollen, die grösser ist als sie selber.»
Also verzichtet Nathalie Garny auf Absätze, die höher sind als fünf Zentimeter. «Ich will niemanden in eine unangenehme Situation bringen», sagt die 37-Jährige. Das ist auch der Grund, weshalb sie bei Gesprächen genügend Abstand zu ihrem – meist kleineren – Gegenüber wahrt. «Durch die grössere Distanz müssen die Leute nicht so stark zu mir hinaufschauen. Das macht sie lockerer.»
Es sah lange nicht danach aus, als müsste sich Nathalie Garny jemals mit solchen Problemen herumschlagen. Sie war als Kind nicht sonderlich gross, begann erst mit 14 Jahren in die Höhe zu schiessen.
Mit 16 Jahren benötigte sie für den Fernsehauftritt ihres Schulchors eine Spezialanfertigung des Chorkleids. «In diesem Alter war das furchtbar», erinnert sie sich. «Ich kam im Fernsehen und musste mit meinem behelfsmässig verlängerten Kleid in der ersten Reihe stehen – aber nicht auf einer Stufe wie die anderen, sondern daneben, damit alle gleich gross waren.»
Dennoch: Nathalie Garny hat als Teenagerin nie stark unter ihrer Grösse gelitten. Dank dem Sport. «Ich begann Volleyball zu spielen und merkte, das meine Grösse dort ein grosser Pluspunkt ist», sagt sie.
Heute sieht Garny in ihrer Grösse von 1,84 Meter nur Vorteile. «Ich glaube, ich werde ernster genommen, als wenn ich klein wäre», sagt sie. Ein Wermutstropfen ist freilich die Kleiderfrage – und die geht über Schuhe mit hohen Absätzen hinaus: «Jeans muss ich in der Herrenabteilung kaufen, und auf der Suche nach passenden Oberteilen brauchts eine Menge Glück.»
Ilja Vyslouzil, 32, Maschinenmechaniker, 1,58 Meter
Ilja Vyslouzils Freunde haben manchmal Mühe, ihn zu verstehen. Er habe doch alles, sagen sie, Frau, Familie, Job, und überall komme er gut an, ein beliebter Typ. «Und ich denke: Stimmt, ich habe alles und bin glücklich», sagt Ilja Vyslouzil. «Und trotzdem: Ich wäre gerne ein bisschen grösser.»
Den Wunsch, etwas grösser sein zu wollen, kennt er, seit in der Pubertät seine Klassenkameraden damit begannen, ihm über den Kopf zu wachsen, und er einfach bei 1,58 Metern stehen blieb. «Das gefiel mir nicht», erinnert sich der 32-Jährige. «Ich begann mit Krafttraining; ich wollte durch einen fitten Körper meine fehlende Körpergrösse kompensieren. Gleichzeitig war es mir wichtig, mit 14 die Töffliprüfung zu machen. Die Leute sollten merken, dass ich 14-jährig war.»
Warum das so wichtig war? Ilja Vyslouzil wollte ernst genommen werden, und ihm wurde bewusst: Während grosse Menschen automatisch respektiert werden, müssen kleinere viel mehr dafür leisten. Er bemerkte es zum Beispiel in jener Zeit, als er Rafting-Touren leitete. «Einer der anderen Guides war ein grosser, braungebrannter Australier», erinnert er sich. «Ihm vertrauten die Leute sofort. Ich hingegen musste das Vertrauen erarbeiten, obwohl ich technisch mehr draufhatte.»
Ilja Vyslouzil hat sich mit seiner Körpergrösse arrangiert. Auch dank seinem Hobby, dem Kanufahren. «Ich fand eine Sportart, in der meine Grösse keine Rolle spielte und ich gute Leistungen erbringen konnte», sagt er.
Und vielleicht, sagt Vyslouzil, vielleicht habe er auch sein Redetalent nur, weil er eben nicht grösser geworden sei. «Ich kann Leute mitreissen, begeistern», sagt er. «Diese Fähigkeit habe ich mir vielleicht erarbeitet, weil ich mir immer Gehör verschaffen musste.»
Martin Schlüssel, 39, Sozialpädagoge FH, 1,93 Meter
Die Episode liegt 25 Jahre zurück, doch vergessen wird sie Martin Schlüssel nie. «Ich war in einem Tankstellenshop, da bemerkte ich eine ältere, eher kleine Frau», erinnert er sich. «Ich konnte genau sehen, wie ihr Blick von unten bis oben wanderte, und als er oben angekommen war, sagte sie: ‹Ich hätte nicht gedacht, dass oben auf diesem Knochengerüst auch noch ein Kopf sitzt.›»
Heute, 39 Jahre alt, lacht Martin Schlüssel über diese Geschichte, doch als Jugendlicher machte sie ihn sprachlos. «Ich war gross und dünn, ein schlaksiger Kerl mit Brille», sagt er. «Wie die meisten Teenager war ich mit meinem Körper nicht sonderlich glücklich.» Das Gefühl, für alle sichtbar und ausgestellt zu sein, begleitete den 1,93 Meter grossen Schlüssel durch seine Jugend, löste Stress in ihm aus. «Unbegründeten Stress vielleicht», sagt er. Denn: Es hat eigentlich wenig Hänseleien gegeben in seinen jungen Jahren, wenig Sprüche wie jenen im Tankstellenshop. «In der Schule wurde ich immer respektiert», erzählt er. Vielleicht weil ich selber niemanden hänselte. In der Primarschule war der Kleinste der Klasse ein guter Freund von mir.»
Irgendwann hat Schlüssel sich mit seinem Körper angefreundet: «Heute sehe ich meine Grösse klar als Vorteil.» Trotz allen Unannehmlichkeiten. Trotz dem Aufwand, den er betreiben muss, um passende Kleider zu finden, trotz den Beinen, die so lang sind, dass eine Reise in einem vollbesetzten Abteil der S-Bahn eine Tortur ist und eine Flugreise der absolute Horror. «Dafür habe ich in Menschenmengen immer den Überblick», sagt er. «Ich werde von anderen Leuten ernst genommen, man traut mir etwas zu.»
Michaela Heim, 25, Pflegefachfrau in Ausbildung, 1,54 Meter
Manchmal geschieht es, dass Michaela Heim vor einer Kasse oder einem Schalter ansteht und sich jemand vor sie in die Schlange schiebt, einfach so. «Ich weiss nicht, ob die mich nicht sehen oder nicht sehen wollen», sagt sie. «Aber das ist der Moment, in dem ich jeweils den Mund aufmachen muss. In dem ich sagen muss: ‹Hallo, ich bin auch noch da.›»
Michaela Heim muss den Mund oft aufmachen. Sie hat schon früh gemerkt, dass sie mit ihrer Grösse von 1,54 Metern gern übersehen wird – und dass sie bei jenen Menschen, die sie nicht übersehen, häufig einen übertriebenen Beschützerinstinkt weckt. «Die Leute sind nett zu mir, fürsorglich», sagt die 25-Jährige. «Das ist angenehm, aber es kann auch kippen. Dann nämlich, wenn die Leute glauben, sie könnten mir nichts zutrauen.»
Das passiert ihr zuweilen im Kantonsspital Luzern, wo sie sich zur Pflegefachfrau ausbilden lässt: Viele Patienten schätzen sie im ersten Augenblick jünger ein, als sie ist, und reagieren verunsichert. «Ich muss mich halt wehren. Ich muss mir mit Worten und im Umgang mit dem Patienten das Vertrauen erkämpfen, das grosse Menschen aufgrund ihrer Körpergrösse einfach geschenkt bekommen.»
Michaela Heim macht das alles nicht viel aus. Ihre Eltern sind klein, ihre Schwestern ebenfalls, auch ihr Freund ist nicht sonderlich gross. «Ich habe nie unter meiner Grösse gelitten», sagt sie. «Ich weiss, wer ich bin und was ich kann.» Ärgerlich sei bloss, dass sie sämtliche Hosen kürzen müsse. Dass sie kaum mehr an Konzerte gehe, weil sie inmitten einer Menschenmasse fast keine Luft bekomme. Aber trotzdem, lacht Michaela Heim: «Es ist praktisch, bin ich so klein. Ich bin beweglicher als grosse Menschen. Viel flinker und weniger unbeholfen.»
| Männer | Frauen |
---|---|---|
Argentinien | 172,6 | 160,7 |
Australien | 174,8 | 161,4 |
Belgien | 175,6 | 166,5 |
Brasilien | 167,0 | 156,0 |
China | 169,7 | 158,6 |
Dänemark | 181,5 | 168,5 |
Deutschland | 180,2 | 168,3 |
Finnland | 178,7 | 165,0 |
Frankreich | 176,4 | 164,7 |
Griechenland | 176,5 | 165,3 |
Indien | 161,2 | 152,1 |
Italien | 176,1 | 164,1 |
Japan | 170,7 | 157,9 |
Kanada | 174,0 | 161,0 |
Niederlande | 182,5 | 170,5 |
Österreich | 178,2 | 166,7 |
Russland | 175,0 | 162,0 |
Schweden | 179,6 | 166,1 |
Schweiz | 180,5 | 167,2 |
Südafrika | 169,0 | 159,0 |
Vereinigte Staaten | 175,0 | 162,5 |
Vietnam | 162,0 | 152,0 |