Wenn Behörden Kinder behindern
Das Gesetz verbietet die Ausgrenzung von Behinderten. Dennoch lassen einzelne Gemeinden behinderte Kinder links liegen – oder noch schlimmer: Sie «vergessen» sie einfach.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Darwin hätte schon vor einem Jahr die Kommunion erhalten sollen. Doch dazu wurde er nicht eingeladen. Und auch dieses Jahr ist er bei seinem ersten Abendmahl nur dabei, weil sich seine Eltern für ihn gewehrt haben.
Die Familie Amoruso wohnt in Möhlin AG. Darwin ist acht Jahre alt und hat eine leichte motorische und geistige Behinderung. Er kann lesen, er kann schreiben, nur halt etwas langsamer als die gleichaltrigen Kinder. Darwin besucht darum die Heilpädagogische Schule in Rheinfelden.
Als dieses Jahr von der Kirchgemeinde wieder keine Einladung für die Vorbereitung zur Kommunion eintraf, wurden die Eltern von Darwin aktiv. Nach einem längeren Telefongespräch mit dem Pfarramt von Möhlin versprach die Sekretärin, sie kläre ab, was man in Darwins Fall machen könne. «Die zögernde Reaktion der Kirche hat mich etwas erstaunt», erinnert sich seine Mutter. Das war Mitte September. Da bis Ende des Monats keine Nachricht im Briefkasten lag, schrieben die Amorusos an Gemeinderat und Kirchgemeinde.
Der Gemeinderat antwortete, er sei nicht zuständig. Man werde aber die Kirchgemeinde bitten, dem Wunsch der Familie entgegenzukommen. Mitte Oktober erhielt die Familie Amoruso von der Kirche eine Anzeige, dass Darwin für den Vorbereitungskurs eingetragen sei. Kein weiterer Kommentar, keine Entschuldigung.
Das Problem liege nicht bei der Kirche, sagt Hildi Kym, Katechetin und Sekretärin des Römisch-Katholischen Pfarramts von Möhlin. Weil Darwin nicht an seinem Wohnort in die Schule gehe, fehle er auf der Liste der Schulgemeinde. «In einem solchen Fall müssen sich die Eltern selber melden», sagt Hildi Kym etwas aufgebracht. Für sie sei das Thema erledigt, Darwin sei ja nun für die Kommunionsvorbereitung eingetragen.
Giuseppe Amoruso will den Behörden keine bewusste Diskriminierung unterstellen: «Die Verwaltung ist einfach schlecht organisiert», vermutet er. Bei der Gemeinde Möhlin nimmt man die Anliegen der Familie ernst: «Es trifft sicher zu, was die Eltern beanstanden», sagt Schulsekretärin Christine Grell. Die Schulpflege will jetzt alle Kinder in Möhlin, die in eine Sonder- oder Privatschule gehen, so erfassen, dass sie in Zukunft nicht mehr vergessen gehen.
«Sie versteht ja doch nichts»
So weit ist man in Münchwilen, nur zehn Kilometer rheinaufwärts, noch nicht. Dort wohnt Sandra. Auch sie hat eine Lernbehinderung. Sandra heisst in Wirklichkeit anders, aber ihrer Firmgotte Esther Hagen ist es lieber so: «Man muss aufpassen, dass Mutter und Kind nicht nochmals eins auf den Deckel kriegen.»
Auch Sandra sollte nicht gefirmt werden. Esther Hagen führte deshalb ein langes Telefongespräch mit dem zuständigen Seelsorger. Dieser meinte, mit Sandra könne man ja nicht richtig reden und sie verstehe wohl auch Sinn und Zweck der Firmung nicht. Vom Beobachter darauf angesprochen, mag sich der Seelsorger nicht mehr erinnern. Es sei eben schon lange her, sagt er entschuldigend.
Aber selbst der Gemeindepfarrer von Münchwilen räumt ein, dass viele behinderte Kinder tatsächlich «auf eine Art vergessen» gingen – weil sie ausserhalb des staatlichen Schulsystems laufen. «Man dürfte erwarten, dass die Eltern in einem solchen Fall selber aktiv werden», sagt er. Mit der Behinderung selbst habe das jedenfalls gar nichts zu tun.
Ein dritter Fall findet sich sechs Kilometer südlich von Münchwilen. Als Claudia volljährig wurde, ging sie zwar nicht vergessen, aber sie war an der Jungbürgerfeier in Wegenstetten nicht dabei. «Der Gemeindeammann fand, Claudia müsse man gar keine Einladung schicken», erzählt die Mutter, «Claudia verstehe ja doch nichts.»
Dabei kann man mit Claudia durchaus sprechen, und sie gibt Antwort. Der Familie wurde schliesslich der «Gegenwert» der Feier in bar ausbezahlt: Eines Tages lagen 80 Franken in einem Kuvert im Briefkasten. «Meine Tochter wäre lieber an die Feier gegangen», sagt Claudias Mutter.
Der damalige Gemeindeammann sieht das etwas anders. Er habe die Eltern gefragt, ob die Gemeinde Claudia einladen solle. Und der Vater habe dann selbst entschieden, dass es nichts bringe. «Was die Familie heute sagt, ist mir Wurst.» Damit ist die Sache für ihn erledigt.
Die Eltern haben Claudia mit den 80 Franken Bettwäsche gekauft – mit einem Pferdesujet, denn die junge Frau ist vernarrt in diese Tiere. Ihr Name wurde von der Redaktion geändert. «Ich will mit den Problemen nicht mehr konfrontiert werden», sagt die Mutter. «Ich habe aufgehört, mich zu wehren.»
Viele Eltern haben resigniert
Peter Wehrli kennt dieses Gefühl. Er ist Leiter des Zentrums für selbstbestimmtes Leben. «Die Ausgrenzung fängt so früh an, dass die Eltern sie irgendwann nicht mehr wahrnehmen», sagt Wehrli. Deshalb griffen die wenigsten Eltern zum Telefon, vermutet er. Ähnlich tönt es bei der Behindertenorganisation Pro Infirmis: «Viel wird einfach geschluckt», sagt Olga Manfredi.
Eltern behinderter Kinder bleibt nur eins: sich immer wieder wehren. Zwar steht in Artikel 8 der neuen Bundesverfassung: «Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor.» Die Realität sieht anders aus.
Kostenlose Beratungsstelle für Behinderte: Pro Infirmis Zentralsekretariat