Wenn das Schicksal plötzlich heftig zuschlägt
Wie das Krebsleiden eines Kindes eine ganz normale Mittelstandsfamilie in Geldnöte treibt: ein Schicksal, das jeden treffen kann. Dabei ginge es auch anders.
Veröffentlicht am 3. März 2009 - 08:49 Uhr
Ein wuscheliges schwarzes Schosshündchen begrüsst hüpfend die Besucher. «Der Hund war ein Herzenswunsch unserer ältesten Tochter Sérine», erklärt Ester Maaouia-Brancher. Der Bolonkawelpe heisst Chipsy und wohnt seit vier Monaten bei der Familie am Stadtrand von Biel.
Hier steht ihr hellgelbes Eigenheim mit Garten und Garage: sechs Zimmer für die fünfköpfige Familie, die zwei Katzen und das Hündchen. «Ein Haus war immer unser Traum», sagt Ester Maaouia-Brancher und führt in den hellen Wohnraum. Souvenirs aus Tunesien verweisen auf die Herkunft ihres 42-jährigen Mannes Béchir. Der gelernte Hochbauzeichner arbeitet heute als Produktionsleiter in der Uhrenindustrie. Das Haus hat er selber entworfen. Finanziert hat es die Familie mit ihren Pensionskassengeldern: fast 500'000 Franken. Auslagen, die sich bald als schwere Last erweisen sollten.
Im August 2006 zieht die Familie in ihr Traumhaus ein. Ester Maaouia-Brancher arbeitet zu 60 Prozent bei einem Gemeindesozialdienst, die Kinder Sérine, 9, Nassim, 7, und Sara, 1½, werden dann von einem Au-pair betreut. Drei Monate später wird bei Sérine ein Lymphom diagnostiziert, eine leukämieähnliche Krebserkrankung. Noch am selben Tag wird sie ins Inselspital Bern eingeliefert, und die intensive stationäre Chemotherapie beginnt. Sie dauert sechs Monate.
«Für uns brach eine Welt zusammen», erinnert sich Ester Maaouia-Brancher. Sie blättert im dicken roten Sérine-Ordner und zeigt Fotos ihrer kranken Tochter. Sérine verträgt die Therapie schlecht, hat starke Schmerzen und muss oft erbrechen. Zeitweise ist sie so schwach, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Die Mutter ist Tag und Nacht bei ihr. Über ein halbes Jahr lebt die Grossmutter aus Italien und anschliessend die Tante aus Tunesien bei der restlichen Familie in Biel und kümmert sich um die Geschwister und den Haushalt. «Ohne die grosszügige Hilfe unserer Familie und unserer Freunde hätten wir diese Zeit nicht überstanden», sagt die 40-Jährige.
Da die Betreuung von Sérine ein Vollzeitjob ist, kann die Mutter nicht mehr arbeiten. Zudem ist die psychische Belastung enorm, sie wird krankgeschrieben und nimmt danach in Absprache mit dem Arbeitgeber unbezahlten Urlaub bis Juli 2007. Bis dann hätte die intensivste Phase von Sérines Therapie abgeschlossen sein sollen. Doch im Mai 2007 erleidet sie, nun zehn Jahre alt, eine Blutvergiftung und muss auf die Intensivstation verlegt werden – eine Komplikation aufgrund der Nebenwirkungen der Chemotherapie. Fast vier Wochen kämpft das Mädchen um sein Leben. Laut den Ärzten grenzt es an ein Wunder, dass sie es überlebt hat. Sie wird per Magensonde ernährt, wiegt noch 20 Kilo.
Die Genesungsphase gestaltet sich sehr schwierig. Sérine ist auf den Rollstuhl angewiesen, muss für drei Monate ins Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche im zürcherischen Affoltern am Albis, wo sie wieder gehen lernt. Im Oktober 2007 kann sie nach sechs Monaten ununterbrochenen Spitalaufenthalts endlich wieder nach Hause. Dann erleidet ihre Mutter einen psychischen Zusammenbruch, fällt in eine Erschöpfungsdepression und muss psychologisch betreut werden.
Aufgrund des schweren Krankheitsverlaufs der Tochter kann Ester Maaouia-Brancher ihre Arbeit nicht mehr aufnehmen und kündigt noch während ihrer Krankschreibung. Die Familie muss nun mit dem Einkommen ihres Mannes auskommen, knapp 7000 Franken monatlich. Nach einem Jahr bekommen sie zwar eine kleine Hilflosenentschädigung für Sérine, doch diese deckt die zusätzlichen Kosten bei weitem nicht. Sérine muss anfangs fünfmal wöchentlich in die Physiotherapie. Da sie monatelang auf Krücken angewiesen ist, muss sie zu all den Therapiestunden, Arzt- und Spitalbesuchen mit dem Auto gefahren werden. Das Gleiche gilt für die Schule.
Heute besucht Sérine die fünfte Klasse, sie ist eine gute Schülerin. Kürzlich hat sie nach einem Misstritt in ihrem Zimmer den Fuss gebrochen und geht nun wieder an Krücken. Ihre Knochen sind brüchig, eine Spätfolge der Chemotherapie. Ihr Bewegungsapparat wird wohl für immer eingeschränkt bleiben, auch ihr Wachstum ist verzögert. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Nassim überragt sie bereits.
Zusätzlich zu all dem persönlichen Leid steckt die fünfköpfige Familie nun auch noch in finanziellen Schwierigkeiten, da sie seit dem Wegfall des Einkommens der Mutter die Steuern nicht mehr bezahlen konnte. Ein Erlassgesuch wurde von der Steuerbehörde abgewiesen, der Entscheid der Rekurskommission ist noch ausstehend. Die Pensionskassengelder sind weg, Vermögen ist keins vorhanden. «Wieso muss eine Mutter für die Pflege ihres schwerkranken Kindes ihre Arbeit aufgeben, ohne dass eine soziale Versicherung diesen Lohnausfall deckt?», fragt sich Ester Maaouia-Brancher immer wieder. Ob eine Familie unter der Last erst zusammenbrechen müsse, bis Hilfe komme?
Im Durchschnitt erkranken in der Schweiz 177 Kinder pro Jahr an Krebs, etwa jedes dritte an Leukämie. Solch schwere Erkrankungen sind für Familien oft eine riesige Belastung. Dass der Staat da durchaus helfend eingreifen kann, zeigt das Beispiel Frankreich: Dort gibt es in solchen Fällen für Eltern einen bezahlten Urlaub von maximal 14 Monaten mit Entschädigungen bis zu 900 Euro pro Monat.
Deshalb forderte der Bieler SP-Nationalrat Ricardo Lumengo im Dezember in einer parlamentarischen Initiative mehr finanzielle Unterstützung für Familien mit schwerkranken Kindern. Es solle eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden für einen bezahlten Urlaub von Eltern solcher Kinder.
«Es ist unerlässlich, dass Eltern, die arbeiten und deren Kinder unter einer schweren Krankheit leiden, eine Erwerbsausfallversicherung haben, damit sie ihre kranken Kinder praktisch und moralisch unterstützen können», so Lumengo in seinem Vorstoss, der im Plenum noch nicht behandelt wurde.
Für Familie Maaouia-Brancher ist dies ein kleiner Lichtblick. «Vielleicht passiert nun endlich etwas auf der politischen Ebene, und in Zukunft werden wenigstens andere Familien in ähnlichen Situationen davon profitieren können», so die Mutter.
Für sie hat sich die Situation etwas entschärft, da der Arbeitgeber ihres Mannes der Familie ein Darlehen gewährte, mit dem sie einen Teil der Steuerschulden abzahlen konnte. «Aber wir werden natürlich noch einige Jahre mit dieser Steuerbelastung leben müssen, bis wir wieder schuldenfrei sind.» Immerhin arbeitet sie seit Februar wieder zu 50 Prozent und unterstützt so das Familienbudget. «Ich denke, dass ich psychisch stabil genug bin, Familie und Arbeit wieder in den Griff zu kriegen – wenn mit Sérine alles gutgeht, schaffe ich das schon.»
Ester Maaouia-Brancher holt die Kinder mit dem Auto von der Schule ab. Sérines kurze Haare sind unter einem rosa Kopftuch versteckt, da sie nach der Chemotherapie noch nicht schön nachgewachsen sind. Früher hatte sie lange dunkle Locken, ihr ganzer Stolz. Sérine schnappt sich sofort Hündchen Chipsy, verzieht sich mit ihm aufs Sofa und kämmt sein wuscheliges Haar. Ein tapferes Mädchen.