Beobachter: Ist es für schöne und erfolgreiche Menschen einfacher, gut zu sein?
Richard David Precht: Ich glaube, das Gutsein hängt nicht an der äusseren Attraktivität. Sondern es ist leichter für Menschen, gut zu sein, die ein sehr überschaubares Leben haben. Je grösser, je komplizierter der soziale Kontext ist, umso schwerer ist es, gut zu sein. Die einfachste Form, gut zu sein: wie ein Heiliger zu leben, also asozial wie Jesus oder Buddha.

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Beobachter: Weil man dann nicht in Versuchung geführt wird?
Precht: Weil man dann nicht in Interessenkonflikte kommt zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Familieninteressen und verschiedenen Leuten, mit denen man befreundet ist, die Unterschiedliches oder Gegensätzliches von einem wollen.

Beobachter: Kann man denn definieren, was einen Menschen gut macht?
Precht: Gut zu sein ist eine schwierige Mischkalkulation aus guten Absichten und aus den Folgen der entsprechenden Handlungen. Wobei die Schwierigkeit darin besteht, dass man die Folgen der Handlung nicht überschauen kann. Die grössten Verbrechen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts wurden im Namen des Guten begangen. Selbst jemand wie Hitler war der Überzeugung, dass das, was er tat, gut sei für das deutsche Volk, dass er der Erlöser der germanischen Herrenrasse sei. Gar nicht zu reden von all den religiösen Verbrechen, den Kreuzzügen und Kriegen, die im Namen eines guten Gottes begangen wurden.

Charles Dickens

Beobachter: Eine Mischkalkulation aus den Absichten und den Folgen: Wie meinen Sie das?
Precht: Wir bewerten in der Frage, ob jemand ein guter Mensch ist, zunächst einmal die gute Absicht. Wir überschätzen diese gute Absicht aber ganz gewaltig.

Beobachter: Wir stellen sie über das Handeln?
Precht: Ja. Wir meinen ja, auch nicht schuld zu sein, wenn wir aus guten Motiven Schlechtes gemacht haben. Dann sagen wir: «Aber ich wollte doch nur das Gute und habe geglaubt, es sei richtig.» Da spielt die christliche Prägung mit. Sie setzte die Gesinnungsfrage über alles andere. Es war wichtiger, an Gott zu glauben, als gute Taten zu vollbringen. Im Zweifelsfall konnte ja ein edler Heide nicht in den Himmel kommen, aber ein windiger Christ schon, wenn er denn reinen Herzens war und an Gott glaubte.

Beobachter: Ist vernünftiges Handeln, das dem Menschen am meisten dienen würde, auch gutes Handeln?
Precht: Ich fürchte nein. Wir haben in der abendländischen Tradition die Unsitte begangen, die Vernunft im moralischen Handeln weit zu überschätzen. Wir können ziemlich sicher sein, dass unsere emotionalen Entscheidungen, unsere sozialen Instinkte meist unseren vernünftigen Überlegungen vorausgehen. In Alltagssituationen wissen wir meist gefühlt sofort, was wir für richtig und falsch und gut und böse halten.

Ludwig Marcuse

Beobachter: In Deutschland gab es die Debatte um Thilo Sarrazin. In einigen Teilen seiner Analyse zur Problematik der Multikultigesellschaft hatte er ja recht. Darf man immer die Wahrheit sagen, auch wenn sie nicht gut ist?
Precht: Nicht in jedem Fall.

Beobachter: Wo würden Sie die Grenze ziehen?
Precht: Es gibt keine unbedingte Verpflichtung zur Wahrheit. Natürlich ist die Grenze situativ, es gibt kein ganz festes Kriterium. Aber: Eine Wahrheit zu sagen, die sehr viele Menschen auf schlechte Gedanken bringt, ohne Lösungsvorschläge zu präsentieren, halte ich für unethisch. Dann halte ich es für besser, den Mund zu halten. Was macht Herr Sarrazin in dem Moment, wo sich radikale, aufgehetzte Idioten durch ihn motiviert fühlen, ein Asylantenheim abzufackeln? Er würde sich dann distanzieren, aber die Tatsache, dass sie vielleicht durch ihn verführt worden sind, ist nicht weg.

Beobachter: «Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar» heisst ein gernzitiertes Wort von Ingeborg Bachmann. Hatte sie unrecht?
Precht: Ich glaube, sehr viele Wahrheiten sind dem Menschen nicht zumutbar. Wir alle lernen sehr früh zwei Dinge. Erstens: Es ist richtig, die Wahrheit zu sagen; und zweitens: nicht in jeder Situation. Die allerwenigsten Menschen sagen immer die Wahrheit. Und jene, die es tun, haben keine Freunde. Die machen sich damit unglücklich.

Beobachter: Wir sind ganz froh, zu hören, dass man auch mal lügen darf. Kann denn Lügen moralisch sogar gut sein?
Precht: Selbstverständlich. Lügen, um einen Freund zu decken, davor zu schützen, dass irgendjemand ihm Übles antut, ist doch in Ordnung. Eine klassische Aristoteles-Frage lautet: Was ist wichtiger – die Wahrheit zu sagen oder loyal zu sein? Darf man in einer Situation, wo man weiss, dass der Freund ein harmloses Verbrechen begangen hat, gegenüber den Verfolgern des Freundes lügen, und darf man ihm ein Alibi geben?

Beobachter: Darf man?
Precht: Michael Sandel, ein moderner Aristoteliker, hat das in Harvard aufgegriffen und spielt es immer wieder mit seinen Studenten durch. «Dein Bruder hat eine Bank überfallen, die Polizei fragt dich, würdest du ihn decken?» Die meisten würden ihn decken. Aber was ist, wenn der Bruder einen Mord begangen hat? Dann kommen wir schon in Schwierigkeiten, dann müssen wir wissen, hat er dabei im Affekt gehandelt – oder sich gar an einem Kind vergangen? Und droht ihm der elektrische Stuhl dafür? Da sehen wir, es gibt bei den meisten Menschen eine Art internes Ranking, wie man Dinge bewertet, rein gefühlt, über soziale Instinkte, welches Verbrechen wir als schwerwiegender erachten. Das hat mit vernünftigen Überlegungen fast nichts zu tun.

Beobachter: Wenn es schon schwierig ist, das Gute zu messen, können wir wenigstens das Böse klar definieren?
Precht: Böse ist sicher ein Handeln, das gegen vieles verstösst, worauf man sich nahezu weltweit als Tugend einigen kann. Da gehören beispielsweise die Achtung vor dem Menschen dazu, die prinzipielle Gleichheit der Menschen, also Dinge, wie sie etwa in der französischen Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind. Auch bei Naturvölkern können Sie ähnliche Regeln finden. Wir sind uns ziemlich einig, was in dieses Paket gehört. Wir sagen: Hartherzigkeit ist schlecht, Barmherzigkeit ist gut, Wahrheit ist gut, Lügen ist schlecht, Loyalität ist gut, Hinterlist ist schlecht.

Beobachter: Woher kommt dieser Wertekatalog? Es gibt ja momentan einen Streit, inwiefern das in unseren Genen angelegt ist und wie stark die Kultur prägend wirkte.
Precht: Das Wort Gene würde ich in diesem Zusammenhang vermeiden, weil wir heute nicht mehr wissen, was ein Gen ist. Es kommt sicherlich tief aus der menschlichen Geschichte und Kultur. Wir haben eine lange Erfahrung damit, was gut ist, um miteinander klarzukommen – und was im wechselseitigen Interesse liegt, um überleben zu können.

Konfuzius

Martin Scherber

Beobachter: Aber früher hat ein gewisser Egoismus dem Menschen zum Überleben verholfen. Heute bräuchten wir vielleicht ein wenig mehr Altruismus, Selbstlosigkeit.
Precht: Der Egoismus, der dem Menschen zum Überleben verholfen hat, muss sehr lange her sein. Die harte Definition von Egoismus ist die Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten anderer. Die Durchsetzung der eigenen Interessen an sich ist noch nicht Egoismus. Es kann etwa sehr in meinem Interesse sein, den Kindern in Kalkutta zu helfen, ohne dass ich darum ein fürchterlicher Egoist sein muss.

Beobachter: Wo beginnt denn der Egoismus?
Precht: Auf der ganzen sozialen Ebene sind wir von Natur aus nicht auf rücksichtslosen Egoismus konditioniert. Das Ultimatumspiel ist ein schöner Beleg dafür. Ich gebe Ihnen 500 Euro, und Sie müssen diesen Betrag mit einem Kollegen teilen. Sie dürfen nur einen einzigen Teilungsvorschlag machen. Wären Menschen knallharte Egoisten, könnten Sie Ihren Kollegen mit 50 Euro abspeisen. Er würde sie nehmen, denn 50 Euro sind besser als nichts. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass Ihr Kollege die 50 Euro ablehnt, weil er sich von Ihnen ungerecht behandelt fühlt. Seine Selbstachtung und sein Gefühl für Unfairness sind ihm wichtiger als sein knallhart kalkulierter Nutzen.

Beobachter: Wir haben also irgendwo so etwas wie ein Gerechtigkeitsempfinden eingeimpft bekommen?
Precht: Mit Gerechtigkeit hat das aus meiner Sicht nur eingeschränkt zu tun. Aber es ist ein natürliches Bedürfnis, mit jener Währung bezahlt zu werden, mit der wir uns psychisch-sozial bezahlen, nämlich Anerkennung, Respekt, Achtung und so weiter. Ein ungerechter Vorschlag ist eine Missachtung dieser sozialen Regel.

Beobachter: Ist es nicht so, dass wir unsere edle Seite dann leben, wenn wir es uns leisten können? Wenn aber das Schiff sinkt wie die «Titanic», dann dringt das Tier in uns hervor, das nur das eigene Überleben sicherstellen will?
Precht: Der Darwin-Freund Thomas Henry Huxley meinte, von Natur aus sei der Mensch ein Raubtier und darüber sei die Tünche der Zivilisation nur gepinselt. Wenn man das so sieht, steht man vor der schwierigen Frage, erklären zu müssen, woher die Tünche der Zivilisation überhaupt kommt. Ausserdem lehrt uns die Erfahrung, dass es aber immer wieder Menschen gibt, die sich in existentiellen Situationen für andere aufopfern oder doch zumindest ihr Leben riskieren, zum Beispiel für Freunde.

Beobachter: Und warum fasziniert uns das so? Weil es eben die Ausnahmen sind.
Precht: Sicher gibt es auch Menschen, die schon bei der geringsten Gefahr nur noch an sich denken. Doch es gibt eine ziemlich breite Grauzone an kleinen Heldentaten, zu denen auch Normalsterbliche in der Lage sind. Wären wir von Natur aus konsequente Gen-Egoisten und Nutzenkalkulierer, dürfte es all diese heroischen Taten nicht geben, bei niemandem.

Beobachter: Kann man am eigenen Heldentum arbeiten?
Precht: Ich glaube, dass das schwierig ist. Ich glaube, dass diese Dinge in der Kindheit festgelegt werden, so ähnlich wie zum Beispiel unser Gerechtigkeitssinn nicht angeboren ist – aber dass wir bestimmte Anlagen dafür mitbringen und sich diese Empfindung etwa im Alter zwischen fünf und acht Jahren ausprägt.

Beobachter: Ist es nicht deprimierend, wenn wir hören, dass man nach der Kindheit nicht mehr sehr viel steuern kann? Grundsätzlich möchte doch jeder Mensch eher besser werden.
Precht: Das weiss ich gar nicht. Wir haben ja so viele Tricks, uns zu betrügen, dass wir uns immer schon für so gut halten, dass wir gar nicht glauben, noch sehr viel besser werden zu müssen. Was Sie skizzieren, ist ein wunderbares Ideal. Vielleicht ist das in der Schweiz so, in Deutschland wollen die meisten Menschen gar nicht viel besser werden, weil sie immer schon glauben, die Guten zu sein.

Beobachter: Warum sind die kulturellen Unterschiede teilweise so gross?
Precht: Weil Moral ganz wesentlich ein Gruppenphänomen ist und weit weniger eine Frage von Prinzipien. Das Umfeld bestimmt sehr wesentlich die Spielregeln der Moral, und wir passen uns an. Deshalb ist es möglich, dass sich durch das Umfeld innerhalb ganz kurzer Zeit moralische Massstäbe verschieben können.

Beobachter: Sie nennen dieses Phänomen in Ihrem Buch «shifting baselines». Was meinen Sie damit?
Precht: Unter Bankern gab es in den Zeiten des Finanzbooms beispielsweise ein solches unmerkliches und gleitendes Verschieben der Massstäbe. Wer bei Lehman Brothers gearbeitet hat oder bei Goldman Sachs ganz oben in der Chefetage, wer da versucht hat, ein netter Mensch zu sein, war definitiv am falschen Ort. Da galt eine Moral wie auf dem Seeräuberschiff. Natürlich finden Sie solche Moralvorstellungen auch am unteren Rand der Gesellschaft. Es gibt Cliquen gewaltbereiter Jugendlicher, die gar keine netten Menschen in ihrer Gruppe wollen, sondern einen Kodex der Unmoral kultivieren. Wie moralisch eine Gesellschaft ist, ist also eine Frage von Gruppenmoral, und die kann sich, wie wir auch am Beispiel des Dritten Reichs gesehen haben, enorm schnell verschieben.

Beobachter: Aber Moral ist doch mehr als ein blosses Gruppenphänomen?
Precht: Wir haben natürlich die Anlage dazu, dass uns andere nicht egal sind, weil wir von den anderen etwas haben wollen, und das ist Aufmerksamkeit, Respekt, Liebe, Zuneigung, Achtung und so weiter. Das ist eine Art grundmoralische Ausrichtung auf andere. Dafür haben wir uns Regeln ausgedacht. Das ist der zweite Schritt, das sind etwa die Zehn Gebote und dergleichen mehr. Auf der dritten Stufe kann innerhalb dieser Regeln das eine oder andere aber stärker dominant gesetzt werden und sich verschieben.

Beobachter: Wenn die Kultur einen so wichtigen Stellenwert hat, dann müsste man zur Einsicht kommen, dass die Political Correctness, die ja immer gern betont, dass alle Menschen von Grund auf gleich gut oder gleich schlecht seien, ein Unsinn ist.
Precht: Dass wir die Gleichheit aller Menschen postulieren, ist gut und wichtig – eben weil wir das im Alltag gar nicht so empfinden. Unsere Kinder sind uns zum Beispiel wichtiger als irgendwelche Fremden. Richtig ist aber auch, dass wir die Political Correctness arg übertreiben. Dann kann sie mitunter sogar gefährlich sein. Sie bringt die Sarrazins erst hervor und verschafft ihnen das Helden-Ethos von mutigen Propheten.

Thomas Morus

Beobachter: Dabei will die Political Correctness ja eigentlich nur das Gute.
Precht: Sie wollte das Gute, ohne Zweifel, aber die Political Correctness zwingt die Leute auch, in der Öffentlichkeit anders zu reden, als sie denken. Und dieses Verstellspiel erzeugt schlechte Laune und einen Überdruck. Ich bin nicht dafür, dass jetzt allem Reden Tür und Tor geöffnet wird. Die Aufforderung, andere Völker anzugreifen, oder rassistische Hetze sollen weiterhin unter Strafe stehen. Aber wenn man sagt: «Wir haben zu viel Einwanderung in den Sozialstaat», ist das ein Satz, der für sich allein noch keine negativen Folgen zeitigt.

Beobachter: Müssen wir auch im Alltag öfter die Political Correctness durchbrechen?
Precht: Das ist wohl nötig. Schauen Sie sich an, wie die Politiker heute reden. Da spricht niemand mehr von «Fehler korrigieren», da wird nur noch «nachgebessert». Das kann niemand mehr ertragen. Und unsere Medien leben davon, aus jeder auch nur kleinen Doppeldeutigkeit moralische Empörungsdebatten zu schaffen. Die Medien spielen eine sehr unheilvolle Rolle in dieser Geschichte.

Beobachter: Warum?
Precht: Ein Beispiel: Der Verhaltensforscher Bernhard Grzimek schrieb Mitte der siebziger Jahre, dass es gut wäre, geistig Behinderte daran zu hindern, sich zu vermehren, um die Erbgesundheit des Volkes nicht zu gefährden. Das ist ungleich viel heftiger als das, was bei Sarrazin steht. Damals hat sich kein Mensch darüber aufgeregt, das war das klassische Weltbild der Biologen. Dass wir uns richtig verstehen: Grzimeks Position ist falsch. Aber man kann es auch übertreiben mit der Political Correctness.

Beobachter: Political Correctness nimmt für sich in Anspruch, die Menschen besser zu machen. Den gleichen Anspruch haben auch die Religionen. Woher kommt dieser Anspruch?
Precht: Die Kirchen waren ja traditionell der Hort der Moral in unserer Kultur. Die Religion gab den Menschen ein Muster von Gut und Böse vor. Durch den Niedergang der Religionen bei uns sind diese klaren Vorstellungen sehr stark verwässert worden. Das hat Vorteile und Nachteile.

Beobachter: Wissen wir wirklich nicht mehr, was gut und was böse ist?
Precht: Ich glaube, dass wir heute tatsächlich vor viel kniffligeren Entscheiden stehen als früher. Es hat noch nie in der Kultur der Menschheit eine Zeit gegeben, in der sich Menschen in Alltagssituationen so häufig entscheiden mussten.

Blaise Pascal

Beobachter: Wer kann uns denn einen Ratgeber liefern, der so einfach ist wie die Regeln der Moral in der Kirche?
Precht: Niemand. Freiheit auszuhalten ist wahnsinnig schwierig. Wenn meine Grosseltern ihr Leben verpfuschten, dann lag es an den Umständen, sie mussten die Schuld nicht bei sich selber sehen. Aber wenn Sie heute Ihr Leben verpfuschen, dann haben Sie das selber gemacht.

Beobachter: Wir haben die Kirche als moralsetzende Instanz abgeschafft, sie aber durch nichts ersetzt.
Precht: So ist es. Es gibt heute rund um Richard Dawkins biologisch inspirierte Philosophen, die glauben, ohne Religion und ohne Glaubensgrundsätze wie Gut oder Böse würden wir besser durchs Leben segeln. Sie fragen: Kann man nicht besser einen zivilen Katalog aufstellen? Das kann man aber nicht, weil wir dann genau in das Dilemma kommen, dass es viele gute moralische Prinzipien gibt, dass es aber falsch sein kann, sich in jedem Fall auf sie zu verlassen. Ohne Glaubensgrundsätze keine Verbindlichkeit. Die Moral der Religion funktionierte aus zwei Gründen: Es gab erstens eine klare Hierarchie, und zweitens gab es Sanktionen bei Fehlverhalten. Ich glaube, dass das, was durch die Kirchen verlorengeht, nicht einfach ersetzbar ist.

Beobachter: Wenn nicht die Kirche, kann uns denn wenigstens eine gute Religion zu besseren Menschen machen?
Precht: Eine Art innere Religiosität ist durchaus nichts Schlechtes. Damit meine ich eine persönliche Wertehierarchie, die auf eigenen Glaubensgrundsätzen basiert. Sie hilft uns in schwierigen Entscheidungssituationen. Dafür muss ich aber nicht an einen personalen Gott glauben.

Beobachter: Sie sagen, es kommt eigentlich gar nicht darauf an, woher diese inneren Glaubensgrundsätze kommen?
Precht: Richtig. Kinder fragen auch immer: «Warum soll ich das machen?» Natürlich kann man argumentieren, warum es sinnvoll ist, sich anständig zu benehmen oder das oder jenes zu tun. Aber auf rein logischem Weg lässt sich keine einzige moralische Regel dauerhaft begründen. Sie brauchen immer eine Art von Werte-Überzeugung, und die Überzeugung ist immer in diesem Sinne «religiös», das heisst: geglaubt – weil es keine logisch rationalen moralischen Werte gibt.

Beobachter: Sie glauben an das Gute im Menschen. Wenn wir uns aber die Welt anschauen, wie sie ist, gibt es doch gute Argumente, zu sagen: Der Mensch ist nicht gut.
Precht: Finden Sie? 99 Prozent der Menschen vertragen sich jeden Tag, überall in der Welt. Das ist doch schon einmal eine enorme Quote. Die finden Sie nur bei wenigen Tieren. Die meisten Affen sind viel aggressiver als Menschen. Die Zahl der Kriege in Relation zur Weltbevölkerung nimmt stark ab. Das ist durchaus eine Fortschrittsgeschichte.

Johann Heinrich Pestalozzi

Beobachter: Einverstanden. Aber die Menschen werden auch nicht besser.
Precht: Sie werden zumindest sensibler, was bestimmte Formen roher Gewalt angeht. Hinrichtungen, wie es sie noch im Mittelalter oder zu Zeiten der Französischen Revolution gegeben hat, mag eine grosse Mehrheit der Menschen in den zivilisierten Ländern nicht mehr. Die Geschichte dieser moralischen Sensibilisierung hängt wesentlich von einem einzigen Faktor ab, nämlich, wie viel Liebe wir unseren Kindern geben. Wenn Sie Ihren Kindern sehr viel Liebe geben und diese guten Anlagen in der Erziehung stark fördern, kann zwar immer noch ein Unglück passieren, aber im Prinzip ist das ein Entrohungsprogramm. Man kann Sensibilität in einer Gesellschaft «züchten».

Beobachter: Die Liebe macht den Menschen also doch besser.
Precht: Ja, aber man muss unterscheiden. Ob die romantische Liebe den Menschen besser macht, also die Liebe zwischen Mann und Frau, da habe ich manche Zweifel. Aber die Eltern-Kind-Bindung und die dadurch geförderten Sensibilitäten schon.

Beobachter: Die romantische Liebe macht uns nicht besser?
Precht: Ich glaube, sie hat auch ein leicht unheilvolles Wirken. Es hat noch nie eine Gesellschaft gegeben, die so viel Aufhebens gemacht hat um die romantische Liebe wie die unsere. Noch nie gab es eine solche Fixiertheit darauf. Den jüngeren Generationen wird durch Fernsehen, Film und Werbung geradezu eingetrichtert, den Märchenprinzen mit Waschbrettbauch oder die Märchenprinzessin mit optimaler Fettpolsterverteilung zu finden – am besten noch mit einigen Millionen auf dem Konto. Das war früher alles weniger grotesk, weil Ehen Wirtschaftsgemeinschaften waren und eher einem sozialen Zweck dienten, als ein narzisstischer Religionsersatz zu sein wie heute.

Beobachter: Aber auch die romantische Liebe kann noch den Wunsch in einem wecken, ein besserer Mensch zu werden.
Precht: Ja und nein. Ich würde durchaus sagen, dass meine sehr glückliche Ehe mich insofern stabilisiert, als sie mich nicht zu einem verbitterten Menschen macht, sondern zu einem beschenkten, glücklichen. Und wer ein glücklicher Mensch ist, der ist vielleicht motivierter, anderen Menschen zu helfen, als ein verbitterter. Aber die heute vorherrschende Ausrichtung auf die romantische Liebe hat auch etwas Asoziales: Eros geht vor Karitas.

Johann Peter Hebel

Beobachter: Stehen wir uns selbst im Weg, weil individualistische Ziele wichtiger sind als gesellschaftliche?
Precht: Ich glaube, es ist kein Widerspruch, moralische Milieus herzustellen, dafür zu sorgen, dass unser sozialer Frieden erhalten wird, und gleichzeitig ein aufregendes Leben zu führen. Es geht aber vor allem darum, dass der soziale Deal, von dem wir alle so stark profitieren, erhalten bleibt. Es gibt eine berechtigte Sorge, dass unsere privilegierten Gesellschaften untergehen, wenn die wirtschaftliche Globalisierung ohne eine zivile und gerechte Ordnung noch 10, 20 Jahre so weitergeht. Es geht darum, die gefährlichen Auswüchse dieser Entwicklung aufzuhalten, und das geht nur, wenn es in der Gesellschaft ein gewisses moralisches Grundselbstverständnis gibt, das dagegen rebelliert.

Beobachter: Die Verteilungskämpfe werden aber zunehmen.
Precht: Ja. Genau deshalb müssen wir die gute Zeit nutzen, die wir jetzt noch haben, um neue Formen der Beteiligungsdemokratie zu finden. Ich rede jetzt nicht von Volksentscheiden auf Bundesebene in Deutschland, sondern vor allem von der kommunalen Beteiligung, die uns alle ins Boot holt und vielen Menschen die Chance gibt, ein erfülltes soziales Leben zu leben, um der Ausbildung von amoralischen Milieus vorzubeugen. Die Zeit des langfristigen Wirtschaftswachstums ist heute vorbei, aber unsere sozialen Sicherungssysteme sind darauf nicht vorbereitet. Das macht den Menschen eine berechtigte Angst. Ängstliche Menschen neigen aber dazu, sich zu entsolidarisieren, und zum Radikalismus. Ich befürchte einen neuen Rechtspopulismus auch in Deutschland, dem wir zügig vorbeugen müssen.

Beobachter: Kommunale Strukturen wie in der Schweiz scheinen hier im Vorteil zu sein gegenüber supranationalen Gebilden wie der EU.
Precht: Ja. Ich finde die EU ja grundsätzlich politisch richtig, auch wenn vieles falsch gemacht worden ist. Sie hat keinen sozialen Kitt, sondern besteht leider aus Einzelegoismen, weil sie nur ökonomisch zusammengewachsen ist und nicht politisch. Die Gefahr, dass Europa auseinanderbricht, ist wahnsinnig hoch. Um das zu vermeiden, müssen wir mehr tun, als nur die Währung zu retten.

Beobachter: Was gibt Ihnen Hoffnung, dass die Menschen im neuen Jahr all diese Schwierigkeiten bewältigen, ohne vermehrt aufeinander loszugehen?
Precht: Meine Überzeugung, dass die meisten Menschen durchaus sozial veranlagt sind und lieber in einer sozialen Welt leben als in einer asozialen. Insgesamt sind die Triebkräfte des Menschen, das Gute zu tun, viel grösser als jene, das Böse zu tun. Wir müssen sie nur entsprechend fördern. Und da gibt es viel zu tun.